Europäischer Übersetzerpreis an Andreas Ecke

V. l. n. r.: Andreas Ecke, Entdeckerpreisträgerin Jacqueline Crevoisier, die Bürgermeisterin der Stadt Offenburg Edith Schreiner, Foto © Gisela Willner

Europäischer Übersetzerpreis an Andreas Ecke

(Dies ist die ungekürzte Fassung der Laudatio, die in Übersetzen Heft 02/2016 in Auszügen abgedruckt ist.)

Offenburg, 24. April 2016

Gestatten Sie mir als Choralvorspiel zum Gloria Traductorem auf unseren Hauptpreisträger Andreas Ecke eine kurze historische Abschweifung.

Übertragungen aus dem Französischen, Russischen, Italienischen oder Englischen haben in Deutschland eine lange Tradition; Balzac und Tolstoi, Dante, Leopardi, und Dickens haben wir schon relativ bald nach Erscheinen der Originalausgaben auf Deutsch lesen können. Das Übersetzen aus dem Niederländischen dagegen ist ein relativ junges Metier, und das hat Gründe.

Zum einen war die niederländische Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts vor allem eine Art christliche Erbauungsliteratur, in der dem Leser in Versen und in Prosa deutlich, aber literarisch eher schlicht und ergreifend der Weg zu Tugend, Gebet und wahrem Glauben gewiesen wurde. Fontane nannte solche Bücher „Predigten in Romanform, Pastorenliteratur“. Erkundungen der Abgründe der condition humaine, eine Literatur des Suchens und Zweifelns, einen Don Quichote, einen Faust oder eine Madame Bovary sucht man in der niederländischen Literatur des 19.Jahrhunderts vergebens. Bedeutend wird das Genre des Romans – sozusagen der Treibstoff in der Kunst des Übersetzens – in Holland erst im letzten Jahrhundert, dem zwanzigsten.

Während deutschsprachige Literatur und Musik, Philosophie und Sozialwissenschaften beim niederländischen Bürgertum in hohem Ansehen standen und jeder Schulabgänger die Verse aus Schuberts Winterreise oder der Matthäuspassion verstand oder sogar auswendig konnte, lebten wir in Deutschland hinsichtlich der niederländischen Kultur erstaunlich lange, eigentlich bis in die achtziger Jahre, in einem peinlich tiefen Tal der Ahnungslosen.

Mein Großvater, der beim Insel Verlag in Leipzig als Lektor Rilke und Hesse betreute, richtete meinen Blick auf Amsterdam, als er mir, ich war noch ein Bub, erzählte, dass einige seiner Autorenfreunde 1933 ff wegen ihrer Bücher um ihr Leben hatten fürchten mussten. Sie waren deshalb in die Niederlande geflohen, wo ihre Bücher von den dortigen Verlagen erst auf Deutsch und später in niederländischer Übersetzung herausgebracht  wurden. Joseph Roth, Klaus und Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, Irmgard Keun oder Vicki Baum veröffentlichten in Deutschland unerwünschte, verbotene oder verbrannte Bücher In Amsterdam bei Querido und Allert de Lange. Die Bedeutung dieser Verlage für die deutsche Exilliteratur ist eminent, aber kaum bekannt.

Als junger Verlagslektor wusste ich dank meines Großvaters zwar, dass unsere niederländischen Nachbarn sieben Jahre lang – von 1933 bis 1940, viel für die deutsche Literatur getan hatten, dass nichts, aber auch gar nichts von der niederländischen Literatur ins Deutsche übersetzt war, wusste ich nicht.

Mitte der achtziger Jahre waren ganze zwei aus dem Niederländischen übersetzte Bücher auf dem Markt: Der Kummer von Flandern des belgischen Schriftstellers Hugo Claus und der Roman Rituale von Cees Nooteboom in einer Lizenzausgabe des DDR-Verlages Volk und Welt. Das war alles. Ich schämte mich dafür und wollte das ändern, und der Verleger ließ den jungen Lektor gewähren. Ich folgte fachkundigem Rat und konnte 1984 die Rechte an Harry Mulischs Roman De aanslag erwerben, zu Deutsch Das Attentat, ein sehr beeindruckender Roman über eine Widerstandsaktion  gegen die deutschen Besetzer mit moralisch überaus vertrackten Folgen.

Aber dann hatte ich plötzlich ein Problem, mit dem ich nicht gerechnet hatte: die Übersetzung. Es gab keine professionellen Literatur-Übersetzer, keine Übersetzer-Ausbildung, keine Erfahrung mit der Materie und keine Honorar-Richtlinien.

Fachkundigen Niederlandisten nannten mir vier Übersetzer-Kandidaten, die ich mangels Kriterien um eine kurze Probeübersetzung bat: eine Krankenschwester, die in Utrecht lebte, aber inzwischen ihre Muttersprache verlernt hatte; einen pensionierten Deutschlehrer, der während des Krieges als Soldat in Holland war; eine Wahlniederländerin, die Mulischs Text ständig verbessern wollte, und einen Trunkenbold, der auf den fünf Blatt der Probeübersetzung vier Rotweinflecken untergebracht hatte und obendrein sehr frei übersetzte. Aber er beherrschte jedenfalls das Deutsche stilsicher und schien mir deshalb das kleinste Übel zu sein. Diese Einschätzung erwies sich jedoch hinsichtlich des Abgabetermins und der Textvollständigkeit als schwerer Fehler. Gottseidank las und sprach der Autor des Romans fließend Deutsch und half mir, die Übersetzung um einige fehlende Absätze anzureichern und in etwa auf das Sprachniveau des Originals zu hieven.

Heute, meine Damen und Herren, das kann ich Ihnen versichern, sieht die Lage ganz anders aus, sie hat sich in den letzten dreißig Jahren gründlich geändert; an guten und an ausgezeichneten Übersetzern aus dem Niederländischen herrscht – den niederländischen Nachbarn und einigen deutschen Universitäten sei Dank – kein Mangel mehr.

Doch gestatten Sie mir, bevor  wir endlich das Preislied für den diesjährigen Preisträger Andreas Ecke anstimmen, noch eben eine kleine und für Sie vielleicht interessante Abschweifung zum Niederländischen und seiner Verwandtschaft mit dem Deutschen. Die ist nämlich mit Vorsicht zu genießen, und fast immer trügt der Schein.

Wahr ist, dass wir angesichts vieler klanglicher und semantischer Übereinstimmungen den niederländischen Kellner sofort verstehen, wenn er fragt : Nog een biertje, mijneer? Oder: Was de soep lekker, mevrouw? Wahr ist aber auch, dass es im Niederländischen viele sogenannte „falsche Freunde“ gibt, also Redewendungen und Wörter, die uns vertraut klingen, aber oft eine ganz andere Bedeutung haben. Bei meinem Zahnarzt steht an der Türglocke: 3 x bellen. Für den Engländer this rings a bell, der Deutsche denkt aber vermutlich zuerst an ein beliebtes Haustier.

Für uns hat ein „fieser Mann“ einen hinterhältigen Charakter, für den Niederländer ist een fiese man vor allem ein schmutziger und ungewaschener Mensch. Wenn ein Niederländer (oder eine Niederländerin) zum Ausdruck bringen möchte, dass etwas doch „etwas ganz anders“ sei, dann tut er oder sie das oft mit der Redewendung: dit is heel andere koek. Wörtlich ins Deutsche übersetzt: „Das ist ganz anderer Kuchen“.

Wir sitzen in schwierigen Situationen „zwischen allen Stühlen“, der Niedersachse gerät „zwischen Baum und Borke“, der Niederländer in vergleichbar schwieriger Situation jedoch zwischen Schiff und Kai – wie überhaupt viele Redewendungen des Niederländischen der Seefahrt entlehnt sind, für die es im Deutschen keine präzisen Entsprechungen gibt.

Um hinter diese idiomatischen Finessen (also die Verschiedenheit in den Redensarten) und die Unterschiede in den Wortbedeutungen zu kommen, braucht es nicht nur Vokabelwissen und Kulturverständnis der Fremdsprache, sondern – und da fängt die eigentliche Kunst des Übersetzens an –  auch Registerkenntnis der Sprache, in die übersetzt wird, und das ist deshalb bei belletristischen und bei Sachbüchern verständlicherweise fast immer die Muttersprache. Registerkenntnis meint: Tonlage, Jargon und  Klassenzugehörigkeit, Bildungsgrad und rhetorisches Vermögen der Protagonisten und ihres Autors. Konkret: Harry Mulisch denkt, schreibt, formt und fühlt ganz anders als beispielsweise eine Margriet de Moor, und das muss auch in der Übersetzung zum Ausdruck kommen.

Andreas Ecke ist ein Meister dieser Register, einer, der genau weiß, wann er welches Register auf der großen Silbermann-Orgel ziehen muss; wann Fußpedal, Flöte oder Englischhorn gespielt und wo Oboe oder Cymbeln zum Einsatz kommen müssen. Ich kann das ein bisschen beurteilen, weil ich einige der niederländischen Bücher, die Andreas Ecke für deutsche Verlage übersetzt hat, gut kenne: ich habe sie beim Cossee Verlag in Amsterdam nämlich selber verlegt und weiß daher in etwa, in welcher Ton- und Stil-Lage sich ihre Autoren bewegen. Und ich habe sie in Eckes Übersetzung gelesen, wobei mir schlagend deutlich wurde, was ich im der niederländischen Version alles überlesen hatte.

Für eines der erfolgreichsten Bücher, die der Cossee Verlag verlegt hat – von Gerbrand Bakker den Roman Oben ist es still –, hat der deutsche Verlag [Suhrkamp] als Übersetzer Andreas Ecke verpflichtet. Klammer auf: Auf die Wahl des Übersetzers hat der Originalverlag normalerweise keinerlei Einfluss, die Entscheidung liegt ausschließlich beim übersetzenden Verlag – Klammer zu. Der Roman hat in Deutschland inzwischen 15 Auflagen erlebt mit mehr als 80.000 verkauften Exemplaren. Das ist deutlich auch das Verdienst von Andreas Eckes einfühlsamer, mit dem Else Otten-Preis ausgezeichneter Übersetzung.

Für die Wirkung dieses verhaltenen, sehr in Stimmungsbildern komponierten Romans ist der Ton der Übersetzung alles entscheidend. Bakkers Sprache ist karg, aber in ihrer Kargheit vielsagend. Erzählt wird die Geschichte zweier Männer, Vater und Sohn, auf einem abgelegenen Bauernhof unter einem hohen Himmel, in einer rauen und weiten Landschaft mit Kopfweiden-Alleen hinter den Deichen. Der kranke Vater, der spürt, das seine Lebenszeit abläuft, hadert ständig mit dem Sohn, der sich – nach dem tödlichen Unglück des Zwillingsbruders – gezwungen sieht, sein Studium abzubrechen und den Hof zu übernehmen. Bakker versteht es meisterlich, den rauen und den weichen Kern unter der harten Schale der beiden Männer in starken atmosphärischen Bildern sichtbar und vor allem fühlbar zu machen, und darin ist er dem großen Schweizer Autor Robert Walser mindestens ebenbürtig. Ich zitiere aus Andreas Eckes Übersetzung:

Halb elf am Vormittag. Es regnet aus niedriger Wolkendecke. Wie üblich haben die Wetterfrösche gestern falsch gelegen. In der Küche brennt Licht. Die krumme Esche glänzt vor Nässe, die Nebelkrähe sitzt zusammengekauert auf ihrem Ast. Hin und wieder schüttelt sie ihr Gefieder ein bisschen auf, ohne die Flügel zu spreizen. Dann ähnelt sie einem Sperling, der ein Bad in einer Pfütze nimmt, einem Riesensperling. Die Zeitung liegt vor mir auf dem Tisch, aber ich kann nichts lesen. Ich sitze da und starre aus dem Fenster. Die Uhr summt, oben ist alles still, in meinem Becher sind noch ein paar Schlucke kalter Kaffee. Nicht nur oben ist es still, es ist überall still, der Regen klopft leise aufs Fensterbrett, die Straße ist nass und leer.

Ein falsches Wort nur, und die Übersetzung würde in eine klischeehafte Einsame-Männer-Wehleidigkeit kippen. Es ist überall still, das Summen der Uhr [gottseidank tickt sie nicht, genau dann nämlich würde das Bild ins Klischee rutschen] und der leise aufs Fensterbrett klopfende Regen verstärken die Stille nur noch mehr. – Jede betuliche Wortwahl würde den oft dickköpfigen Bauernsohn zum einsamen Lazarus stilisieren und damit den Kern des Buches antasten.

Das Lektorat bei Suhrkamp, meine Damen und Herren, hat mit gutem Grund auch alle weiteren Bücher von Bakker von Andreas Ecke übersetzen lassen, er ist die deutsche Stimme von Gerbrand Bakker geworden.

Doch das Übersetzen von Prosa, das sprachliche Einfühlen in ein Romangeschehen ist nur die eine Seite des Handwerks, die Kenntnis von Zeit, Epoche und Welt eine wichtige andere. Andreas Ecke hat neben gut 20 belletristischen Werken auch mehr als zwanzig anspruchsvolle Sachbücher übersetzt, zum Beispiel die Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts von Hermann W. van der Dunk, Die zweite Erschaffung der Welt. Wie die moderne Naturwissenschaft entstand von Floris Cohen oder die historischen Betrachtungen und Reisebücher von Geert Mak und Cees Nooteboom. Ohne genaue Einarbeitung in das Sachgebiet, ohne Exaktheit und Trennschärfe in der spezifischen Terminologie sind solche Übersetzung nicht zu meistern.

Besonders wenn es um kulturphilosophische Fragen geht, kann es bei den Abstrakta schwierig werden, da das Niederländische z.B. zusammengesetzte Begrifflichkeiten wie „Seinsgewissheit“ oder „Wirkungsmächtigkeit“ oder „Daseinsberechtigung“ nicht kennt und in ganz anderen Denkmustern formuliert. Andreas Ecke, obendrein Ko-Autor einer Geschichte der niederländischen Sprache,  hat auch auf diesem Gebiet Großes geleistet und in seinen Übersetzungen für die in der Sprache zum Ausdruck kommenden kulturellen Unterschiede treffgenaue Entsprechungen gefunden. Und wenn schließlich ein Rezensent anlässlich einer von Ecke übersetzten Beethoven-Biographie zu dem Ergebnis kommt, in ihr werde das Erzählen der Biographie selber zu Musik und fange buchstäblich an zu klingen, dann begreifen wir: Hier wird, wie Bach gesagt haben würde, die große zwei-manualige Orgel unserer Sprache vom Übersetzer „allerartigst hantiert“.

Angesichts dieser bewunderungswürdigen Leistung ziehen wir Leser dankbar den Hut, danken zudem der Stadt Offenburg für die Initiative zu diesem wichtigen Preis und dürfen Sie, meine Damen und Herren, darauf hinweisen, dass die Bücher von Geert Mak, Cees Nooteboom, Gerbrand Bakker, Maarten Tonder und anderer herausragender Autoren am Büchertisch der Buchhandlung Akzente zu erwerben sind und von den Übersetzern gerne signiert werden.

Und zum Schluss rufen wir dem Preisträger ein dreifaches Chapeau zu:

grote dank, minheer meestervertaler,

was sich – sehr frei – übersetzen ließe mit „Lieber Andreas Ecke, Sie haben uns mit Ihren meisterlichen Übersetzungen reich beschenkt!“