Ginkgo-Biloba-Preis für Lyrik an Andrea Schellinger

Andrea Schellinger und Andreas F. Kelletat Foto © Friederike Hentschel

Ginkgo-Biloba-Preis für Lyrik an Andrea Schellinger

(Dies ist die ungekürzte Fassung eines Gesprächs zwischen Andreas F. Kelletat und der Preisträgerin, das in Übersetzen Heft 01/2019 in Auszügen abgedruckt ist.)

Andrea Schellinger im Gespräch mit Andreas F. Kelletat

 

In der Aufzählung der Lebensstationen, die wir soeben von Herrn Pils gehört haben, hieß es, Andrea Schellinger habe in Freiburg studiert – mir ist irgendwie im Ohr, daß das Studium eigentlich in Heidelberg begonnen hat.

Das stimmt. Ich bin direkt im Anschluß ans Abitur nach Heidelberg gegangen, zum Studium der Geschichte. Eine sehr zwiespältige und problematische Erfahrung! Das war nämlich im Herbst 1972, und die älteren Semester unter Ihnen können sich erinnern, daß damals in diesem Herbst Rektor Rolf Rendtorff versucht hatte, zwischen einer konservativen Professorenschaft und den, sagen wir mal, langsam aber sicher explodierenden Radikalkräften zu vermitteln. Das ist ihm nicht gelungen, er ist zurückgetreten, und einen Monat später waren tausend Polizisten in der Uni; genau in diesem Zeitraum kam ich frisch vom humanistischen Gymnasium und sollte mich entscheiden zwischen »fortschrittlicher« und »bürgerlicher« Wissenschaft, das konnte ich nicht und so bin ich schlicht und einfach nach sechs Monaten aus Heidelberg geflohen.

Es war also nicht auszuhalten in dieser Stadt.

Für mich war es nicht auszuhalten. Aber ich habe sehr interessante akademische Erfahrungen mitgenommen. Damals habe ich nämlich bei Werner Conze gehört und bei Reinhart Koselleck, den ich Jahrzehnte später wieder in Athen getroffen habe, im Goethe-Institut, als er über den Philosophen Panajotis Kondylis referierte, über den er auch publiziert hat.

Ich bin dann in einen etwas ruhigeren Hafen eingefahren, nach Freiburg. Heidelberg war jedenfalls nach wie vor präsent, nicht als Ort, sondern als innerer Raum durch meinen verehrten Lehrer Günter Dietz, der ungefähr zum selben Zeitpunkt, also 1972/73, von Karlsruhe nach Heidelberg ging, um die Leitung des Kurfürst-Friedrich-Gymnasiums zu übernehmen – ich selbst hatte ihn neun Jahre, also während meiner gesamten Gymnasialzeit, davon sechs Jahre in Altgriechisch. Der Kontakt zu ihm ist nie abgerissen. Er ist mein Lehrer geblieben bis heute, sogar über seinen Tod hinaus, und er hat natürlich auch für meine griechische Existenz Grundlagen geschaffen, die unverbrüchlich sind. Zu bestimmten Dingen konnte ich Zugang nur erhalten durch das, was ich während der Schuljahre von ihm gelernt habe, und dann auch später, als Dietz zum Ratgeber und Übersetzerkollegen wurde. Er ist sozusagen die Verbindung zwischen Karlsruhe, Heidelberg und Athen.

Man bekommt ja nahezu den Eindruck, daß das, was Sie aus der Schulzeit mitgenommen haben, aus dem altsprachlichen Unterricht, letztlich wichtiger war als das, was man im Studium so alles getrieben hat. Oder ist das übertrieben?

Leicht übertrieben. Ich habe das Glück gehabt, in Freiburg, wo es auch nicht ganz so ruhig zuging wie erwartet – vor allem im Institut für Soziologie, was ja damals so etwas wie ein Modestudium war und die Studentenschaft auch dort ziemlich radikalisiert –, wie gesagt, ich habe dort wieder sehr gute Professoren getroffen und ein solides sozialwissenschaftliches und historisches Studium absolvieren können.

Wieviel Zeit hatte man damals für ein solches Studium?

Oh, viel zu viel! Man konnte sich Zeit lassen. Das hat Vor- und Nachteile. Ich habe mir neben der Sozialwissenschaft natürlich auch eine ziemlich solide literarische Bildung zugelegt. Zur Verwunderung meiner Kommilitoninnen und Kommilitonen, weil sie mich nämlich ständig mit Bachmann oder Musil in der Hand gesehen haben und nicht recht einschätzen konnten, mit wem sie es da zu tun haben.

Ich möchte gerne kurz auf Günter Dietz und das Altgriechische zurückkommen. Wir haben es eben auch in der Laudatio gehört, daß die griechische Literatur, diese Sprache, diese Kontinuität quasi von Homer bis zu den heutigen Schriftstellern reicht. Hat Andrea Schellinger das auch so erlebt, daß es vom Altgriechischen zum Neugriechischen eine solche Kontinuität gibt und man das eigentlich gar nicht nochmals besonders neu lernen muß. Ganz naiv gefragt: Wie eng ist die Verwandtschaft zwischen Homer und der Sprache von Seferis?

Seferis wurde ja zitiert: Nach ihm hat es keine Brüche gegeben, nur Transformationen. Ich würde nicht vollständig hinter dieser Aussage stehen, vielleicht eher noch zur These der Transformationen. Meine Kinder zum Beispiel, die beide zwischen 2000 und 2015 im Griechenland zur Schule gegangen sind, haben jahrelang Altgriechisch gelernt und können die antiken Texte gerade mal mit Ach und Krach lesen.

Sie müssen eigentlich auch übersetzt werden.

Sie sind alle ins Neugriechische übersetzt. Meine Altgriechischkenntnisse haben es mir zumindest ermöglicht, von Anfang an Straßenschilder zu lesen. Das ist ja immerhin schon etwas, wenn man irgendwo ankommt. Sie haben mir auch bestimmte grammatische Strukturen leichter zugänglich gemacht; ich wußte etwa, was ein Aorist ist, ich kannte die griechischen Partizipien, aber ich kannte vor allem die Denkweise, und wenn es eine Kontinuität gegeben hat, dann ist es die einer Weltsicht.

Ich habe den Eindruck, daß den griechischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern der Gegenwart diese Antike irgendwie wie ein Mühlrad um den Hals hängt, daß sie schreiben können, was sie wollen – aber stets heißt es: Homer, Platon, die haben doch alles schon viel besser gemacht –, daß man also derart in eine Tradition gestellt wird, vor der man doch eigentlich gar nicht bestehen kann.

Das Mühlrad wird ihnen von anderen um den Hals gehängt. Zum Beispiel von begeisterten philhellenischen Griechenlandreisenden, vor allem von deutschen – die britische Rezeption zum Beispiel ist anders, viel weniger antikenlastig. Natürlich ist gerade Seferis ein Beispiel dafür, daß zwar die gesamte Schrifttradition der letzten 3.000 Jahre durchaus präsent ist, doch genau so präsent ist das Bewußtsein der Modernität und das Bedürfnis, sich als europäische Literatur darzustellen und zu profilieren. Das ist eine Tatsache, um nicht zu sagen eine Selbstverständlichkeit im heutigen Griechenland der Kulturakteure. Dafür stellen sich ganz andere Probleme, etwa der Transfer dieser Literatur in andere Sprachen und entsprechend Fragen der Auswahl, der Sujets, oder kurz gesagt: der Weltläufigkeit und Welthaltigkeit griechischer Literatur.

Es fiel der Ausdruck »kleine Literatur«. Bei der altgriechischen Literatur würde ich natürlich sagen, sie ist überhaupt nicht klein. Die ist immens präsent, ist durch Jahrhunderte immer wieder übersetzt worden, sie ist eine der größten Literaturen, die wir überhaupt haben. Auch in deutscher Übersetzung natürlich. Aber das Neugriechische scheint in der Tat eine »kleine Literatur« zu sein, wenn dieser Ausdruck gestattet ist, und daraus ergeben sich offenbar besondere Vermittlungsprobleme.

Griechisch wird von relativ wenigen Nichtgriechen gesprochen, entsprechend noch kleiner ist der Kreis derer, die aus dem Griechischen übersetzen. Das bedeutet nicht, daß es keinen Schatz zu heben oder Stoffe zu entdecken gäbe, nur haben sich dafür bisher entweder keine Übersetzer oder keine interessierten Verleger gefunden.

Das Wort klein setze ich demnach in Anführungszeichen. »Kleine« Literatur also in dem Sinne, daß sie nicht sehr stark verbreitet ist über den eigenen Sprachraum hinaus – übrigens ist in diesem Sinne ja auch die chinesische Literatur eine sehr kleine Literatur, auch aus ihr wird nicht so sehr viel übersetzt, nicht viel mehr als aus dem Neugriechischen. Sind Sie tatsächlich der Meinung, es liegt an den fehlenden Übersetzern?

Ich habe ja von Übersetzern UND Verlegern gesprochen. Die inzwischen abgetretene Übersetzergeneration bestand meist aus Philhellenen, entweder Altphilologen – Günter Dietz war so ein Fall: promovierter Philologe, selbst Lyriker und Literat –oder früher, seit dem 19. Jahrhundert, auch immer wieder aus Neogräzisten mit literarischem Anspruch, zum Beispiel Karl Dieterich, der in München gelehrt und Mitte der 1920er Jahre die erste Anthologie griechischer Lyrik herausgegeben hat, für die immerhin Gerhart Hauptmann ein Vorwort schrieb; solche Leute gibt es nicht mehr. Hier muß auch Helmut von den Steinen erwähnt werden, ein deutscher Literaturwissenschaftler, dem weiteren George-Kreis zugehörig, der nach 1933 aus Deutschland flüchten mußte, weil er eine jüdische Mutter hatte. Er ging nach Athen und hat dort mit dem Übersetzen angefangen, vermutlich aus purer Verzweiflung, ähnlich wie ich vor fünfunddreißig Jahren.

Und dann sowohl die alten wie neuere Texte übersetzt, also sowohl Platon wie auch Kavafis.

Ja, seine Kavafis-Übersetzung, die erste ins Deutsche, hat noch heute Bestand.

Aber wer kam damals in den 1930ern schon auf die Idee, an den Südzipfel des Balkans zu flüchten, während viele Emigranten zum Beispiel nach Paris gegangen sind, nach London oder auch nach Spanien, ganz zu schweigen von Nord- oder Südamerika. Heute gibt es zu wenige wirklich qualifizierte Übersetzer für Literatur. Und es gibt natürlich – man muß auch die andere Seite sehen – weder eine wirklich effiziente griechische Kulturpolitik noch, gerade unter den gegebenen Umständen, eine seriös ausreichende Finanzierungsmöglichkeit für diese Kulturpolitik.

In der Laudatio wurde ja aufgezählt, in wievielen Gremien Andrea Schellinger aktiv ist und wieviel sie dort zu bewegen versucht …

Früher. Alles vorbei.

Hatte das denn alles gar keinen Erfolg, hat sich wirklich nichts verbessert in Sachen Literaturkontakte, Übersetzungen?

Das ist ein weites Feld. Es gab die berühmte Präsentation Griechenlands als Gastland bei der Frankfurter Buchmesse 2001, aus der sich eigentlich nur Petros Markaris als Krimiautor gerettet hat. Es gab dann verschiedene Ansätze, so etwas wie Nachhaltigkeit zu erzeugen, doch alles ist im Sand verlaufen. ›It takes two to tango‹, wie ich immer sage.

Ich weiß nicht, ob das ausschließlich ein Problem der neugriechischen Literatur ist, ob es nicht fast allen sogenannten kleineren Literaturen so geht. Daß irgendwie unsere Aufnahmekapazität auch zu gering ist, um zur Kenntnis zu nehmen: was gibt es in den Niederlanden, was in Belgien, in Finnland, was tut sich auf Island, in Norwegen, Litauen, Lettland, Estland, bei den Armeniern, den Georgiern – was verträgt der Buchmarkt oder was kann ein einzelner Leser überhaupt schaffen? Mir kommt es immer so vor, daß es zwar durchaus Leute gibt, die Interesse an neugriechischer Literatur haben, doch für das größere Publikum ist vielleicht nur der Krimiautor von Belang.

Ich habe aufgehört, über den Terminus »neugriechische Literatur« nachzudenken. Für mich gibt es nur gute und wichtige Literatur und, sagen wir, zu vernachlässigende Literatur. Das ist auch der Punkt, wo ich bei Seferis hängen geblieben bin. Es ist wichtig, daß dieser Autor auf deutsch vorliegt. Im Gegensatz zu Kavafis, der inzwischen mehrfach übersetzt ist oder zu Ritsos, der ja natürlich in der DDR sehr stark rezipiert wurde – und deswegen bis heute so etwas hat, was man im Süddeutschen ein »Gschmäckle» nennt – oder auch zu Odysseas Elytis, dessen Hauptwerk »To Axion Esti – Gepriesen Sei« Günter Dietz während seiner Athener Jahre in Zusammenarbeit mit dem Autor übersetzt hat. Im Gegensatz zu dieser Triade anerkannt großer Lyriker also stand Seferis lange als der relativ Unbekannte zurück, trotz des Nobelpreises, zumindest im deutschen Sprachraum. Die schon ältere Übersetzung von Christian Enzensberger, übrigens nicht aus dem griechischen Original, sondern aus der englischen Übertragung, enthält allerdings nur frühe Gedichte; dann gab es ein paar schmale Editionen in kleineren Verlagen, die mir immer wieder eine Anregung gegeben haben, sich aber nicht durchsetzen konnten. Sehr gut übersetzt und »kontextiert« ist die Edition »Ionische Reise« bei Suhrkamp mit Tagebuchauszügen aus dem Jahr 1950, als Seferis Diplomat in der Türkei war und zurück an die Orte seiner Kindheit fuhr.

Ganz praktische Frage: Wie lange dauert es, ein Übersetzungsprojekt bis zum Buch zu bringen – von der Konzeption, bis man zu übersetzen beginnt und zu recherchieren, am Kommentar arbeitet und ein Nachwort schreibt? Wie hat man sich das vorzustellen, macht man das in einem halben Jahr?

Sagen wir so: Das Ganze begann mit einer Verblüffung, Ostern 2006. Wir waren in Nafplio und ich hatte den »Seferis« zufällig dabei. Irgendwann habe ich den Band aufgeschlagen und dieses Gedicht über den »König von Asine« gelesen; Asine – das heutige Dorf und die mykenische Burg – liegt an der argolischen Küste, ungefähr 25 Kilometer von Nafplio entfernt. Da sagte ich zu meinem Mann, fahren wir doch mal hin und schauen uns das an. Und dann stand ich vor dieser riesigen zyklopischen Mauer, einer Polygonalmauer, und sah auf der einen Seite einen langen Strand und auf der anderen Seite einen kleineren, an dem ziemlich hohe Felsformationen steil abfallen und man sieht so etwas wie nervenähnliche Strukturen im Gestein. Ich schaute die Landschaft an, las das Gedicht an und sagte mir, das gibt es doch nicht, was für eine Genauigkeit in der Beschreibung! Es war diese Verblüffung angesichts der totalen Exaktheit, mit der er Räume beschreibt, und das in einem Gedicht! So fing’s an und ich mußte es unbedingt übersetzen. Die deutsche Fassung wurde ziemlich bald in einem Band der Zeitschrift »Sinn und Form« veröffentlicht. Und dann dachte ich über den Autor nach und darüber, wie ich mich weiter mit ihm beschäftigen könnte. Irgendwann kam ich auf die Idee, die drei Logbücher in einem Band zusammenzufassen – das muß 2009 gewesen sein. Bis ich mich dann richtig an das Projekt »herankrabbelte« und anfing zu arbeiten, wurde es 2011. Also sechs echte Arbeitsjahre, die sich zunehmend verdichteten.

Zur Ausstattung Ihrer Ausgabe: In der Laudatio wurde eben erwähnt, wie einläßlich der Kommentar gearbeitet ist, auch mit Zitaten aus Seferis’ Tagebüchern und auch aus Briefen – gibt es da für Sie ein Vorbild, ein Muster auf Griechisch oder ist das Ihre Konzeption?

Nein, es gibt kein Muster. Ich habe schon damals begriffen, als ich »Die Mörderin« von Alexandros Papadiamantis übersetzt habe, wie wichtig gerade für griechische Texte der »Kon-Text« ist. Diese »Mörderin« ist übrigens ein Klassiker, in Griechenland Schullektüre wie bei uns »Wallenstein« oder der »Vorleser« von Schlink. Damals hatte meine Freundin Danae Coulmas zur Erstausgabe des Buches bei Suhrkamp ein Nachwort geschrieben, das dem Leser die Besonderheiten und den raumzeitlichen Zusammenhang der Geschichte überhaupt erst nahebringt. Man muß, das ist mein Leitmotiv bei der Arbeit an griechischen Autoren, nicht nur die Texte übersetzen, man muß Konnationen, Bedeutungen, Schlüsselbegriffe vermitteln, Bilder, Assoziationen, ganze Szenerien entschlüsseln helfen. Das Land, die Sprache, die Weltsicht, die historischen Erfahrungen, alles ist doch so weit weg, es ist, um es verkürzt zu sagen, »Ostrom«. Das sind Dinge, die gehen auf das Jahr 395 nach Christus zurück, als das Imperium Romanum in eine östliche und westliche Hälfte geteilt wurde und aus Ostrom das byzantinische Reich entstand. Hier geht es um andere Perspektiven eines Sprach- und Kulturraums in einem Land, aus dem heraus Europa entstanden ist und das heute zur EU und sogar zur Eurozone gehört.

Es macht ein bißchen skeptisch, daß man Gedichte nur verstehen kann, nur einen Zugang zu ihnen bekommt, wenn Andrea Schellinger einem den Weg bahnt. Sind das denn gute Texte?

Ich würde sagen ja! Meine »Kontext«-Arbeit bahnt nicht den Weg, sie erleichtert ihn nur für denjenigen, der dieses Angebot annehmen möchte. Seferis hat neben der Arbeit an den Gedichten auch persönliche Tagebücher geführt. Bisher liegen sieben Bände vor, zwei weitere, die letzten, stehen kurz vor der Veröffentlichung. Bei der Lektüre dieser sieben Bände stellte ich immer wieder fest, daß es begriffliche und motivische Überlappungen zwischen Tagebüchern und Gedichten gibt. Und dann hatte ich die Idee, durch eine Auswahl von prägnanten Tagebuchzitaten dem deutschen Leser den Kontakt, oder Seferis würde sagen: die »Berührung« mit seiner Wortwelt ein wenig leichter zu machen. Dazu kommt: Seferis ist, was man einen ›poeta doctus‹ nennt. Der ganze Resonanzraum, der Horizont dieser Texte, auf die er sich bezieht – angefangen bei Homer über die gesamte antike Dramaturgie, Evangelien und apokryphe Schriften bis hin zu den Erinnerungen des Generals Makrygiannis an den Befreiungskrieg von den Osmanen vor 200 Jahren und vieles mehr – all das gibt diese Tradition wieder, macht oder hält sie lebendig.

Nun gibt es bekanntlich einen langen Streit unter den Literaturwissenschaftlern über die Frage, ob man die biographischen, die realen Details, die die Grundlage oder der Ausgangspunkt von Gedichten sind, überhaupt publik machen darf. Trivialisiert man die Gedichte dadurch?

Ich finde solche Bedenken puristisch.

Man kann wohl sagen, daß die homerische Dimension, von lange vor Christus bis heute, einen zeitlichen Raum umgreift und auch einen geographischen Raum. Griechische Welt meint in diesem Sinne nicht nur das, was wir heute als Griechenland kennen, also den Staat Griechenland; dazu gehört ebenso Kleinasien, dazu gehört eigentlich das ganze östliche Mittelmeer wie auch der Nahe Osten. Durch die Ereignisse im Zwanzigsten Jahrhundert, die vielen ethnischen Homogenisierungen, ist fast aus dem Blick geraten, daß Alexandria ja natürlich griechisch geprägt war, genau wie Smyrna/Izmir griechisch geprägt war. Und gerade an Izmir können wir mit Freude sehen, wie stark Seferis auch dort gelesen und geschätzt und mit Konferenzen zu seinem Werk geehrt wird. Izmir hat eine nicht zu überschätzende Brückenfunktion. Seferis, das haben wir gehört, stammt ja aus dieser Region.

Seferis wurde als Grieche im osmanischen Reich geboren; er war dort, was man damals »Ragias« genannt hat, das ist ein Angehöriger der nicht-osmanischen, meist christlichen Bevölkerungsgruppen und bedeutet auch »Untertan«. »Ragias« stammt von einem arabischen Wort für »Herdentier«, was ein grelles Licht darauf wirft, welchen Status christliche Bevölkerungsgruppen damals im Osmanischen Reich besaßen.

 

[Die Gesprächspartner lesen das Gedicht Ο γυρισμός του ξενιτεμένου / Rückkehr aus der Fremde als Dialog der Strophen des griechischen Textes und der Übersetzung Andrea Schellingers]

 

Zum Schluß möchte ich mich noch einmal herzlich bedanken: beim ›Freundeskreis Literaturhaus Heidelberg‹ als dem Träger des Preises, den Stiftern, den Juroren und bei den Veranstaltern. Dieser Preis kam aus heiterem Himmel. Ich wollte Ihnen auch sagen, daß ich seine Namenswahl sehr geglückt finde: Ginkgo biloba, das ist weder ein Laub- noch ein Nadelbaum; es ist eine eigene Gruppe mit einer einzigen lebenden Gattung, nämlich dem Ginkgobaum. Darin sehe ich eine gewisse Symbolik, weil auch die Übersetzung von etwas einmaliger Ausdruck des Zweigeteilten ist. Ich möchte hier eine Strophe aus dem Ginkgo-Gedicht von Goethe zitieren:
Ist es Ein lebendig Wesen?
Das sich in sich selbst getrennt?
Sind es zwei? die sich erlesen,
Daß man sie als Eines kennt?
Ich glaube, es ist der geheime Sinn des Übersetzens und das Ziel der Anstrengung jedes Übersetzers, aus Zweien eins zu machen.