Helmut M Braem Preis Frank Heibert

V.l.n.r.: Helga Pfetsch, Freundeskreis, Frank Heibert, Laudatorin Elisabeth Ruge, Foto © Ebba D. Drolshagen

Helmut-M.-Braem-Preis an Frank Heibert

(Dies sind die ungekürzten Fassungen der Laudatio von Elisabeth Ruge sowie der Dankesrede von Frank Heibert, welche in Übersetzen Heft 02/2016 in Auszügen abgedruckt ist.)

Elisabeth Ruge: All you need is love – naja, fast. Oder: Das Herz des Übersetzers

für Frank Heibert zum 11. Juni 2016

Liebe Übersetzerinnen, liebe Übersetzer, liebe Helga Pfetsch, lieber Frank,

Danke, dass man mir die Ehre hat zuteil kommen lassen, hier im schönen Wolfenbüttel die Laudatio für den diesjährigen Preisträger des Helmut-M.-Braem-Preises zu halten, für meinen Freund und langjährigen Mitstreiter in Sachen guter Literatur aus aller Welt, Frank Heibert.

Frank und ich haben über die Jahre bei der Veröffentlichung einer ganzen Anzahl von Autorinnen und Autoren zusammengearbeitet, bei Lorrie Moore und Richard Ford, beispielsweise – heute allerdings soll es nur um einen davon gehen, um den exzeptionellen literarischen Einzelgänger George Saunders. Im Laufe dieser Ansprache werde ich ausführlich aus seinen auf Deutsch vorliegenden Werken zitieren, auch aus den zuletzt erschienenen Storys „Zehnter Dezember“, für deren Übertragung aus dem amerikanischen Englisch Frank heute explizit ausgezeichnet wird.

Zunächst aber steige ich mit einer Passage aus dem 2002 im Berlin Verlag veröffentlichten Erzählungsband „Pastoralien“ ein. Sie ist, in vielerlei Hinsicht, typically Saunders:

Ein Rundbrief, über den allgemeinen Verteiler:

Bezüglich der Gerüchte, die Ihr in letzter Zeit vielleicht gehört habt möchten wir Euch warnen, sie sind falsch. Sie sind so falsch, dass wir sogar erwogen haben, uns die Mühe eines Dementis zu sparen. Denn ein Dementi würde ja voraussetzen, dass wir sie gehört hätten. Was gar nicht der Fall ist. Wir verschwenden unsere Zeit nicht mit so einem Unsinn. Und doch wissen wir, wenn wir die Gerüchte nicht dementieren, die wir gar nicht gehört haben, dann werdet Ihr annehmen, sie wären wahr. Und sie sind so falsch! Also wollen wir hiermit kategorisch festhalten, alle Gerüchte, die Ihr gehört habt, sind falsch. Nicht nur die Gerüchte, die Ihr gehört habt, sondern auch diejenigen, die Ihr nicht gehört habt, und sogar solche, die noch gar nicht verbreitet worden sind, sind falsch. Es gibt allerdings eine Ausnahme von dieser Regel, nämlich wenn es sich um ein positives Gerücht handelt. Anders ausgedrückt, wenn das Gerücht uns, uns hier oben, in einem positiven Licht darstellt, und ebenso unsere Mission und unsere Leistungen, in diesem und nur in diesem Fall werden wir zugeben müssen, dass das Gerücht, das Ihr gehört habt, ein Volltreffer ist, und Euch zu Eurer fantastischen Spürnase beglückwünschen, dass Ihr diese geheime Supersache herausgefunden habt! Kurz, wir fordern Euch einfach auf, bei jedem neuen Gerücht zu fragen: Lässt dieses Gerücht die Organisation negativ dastehen? Falls ja, so ist das Gerücht falsch, bitte ignorieren. Falls nein, super, herzlichen Dank dafür, dass Euch unsere Organisation so viel bedeutet, dass Ihr Euch hingekniet und das Ohr an die Bahngleise gelegt habt, und außerdem, bitte verbreitet diese Wahrheit weit und breit, mit anderen Worten, geht auf alle Viere und legt Eure Lippen an die Bahngleise. Erzählt Euren Freunden davon. Erzählt es Freunden, die vorhaben, Aktien zu kaufen. Habt Ihr Freunde, die Journalisten sind? Legt Eure Lippen an ihre Bahngleise.

Denn was ist die Wahrheit? Die Wahrheit ist das, wodurch geschieht, was wir geschehen lassen wollen. Die Wahrheit ist das, was bei Weitergabe die Mitglieder unseres Teams gut aussehen lässt, sie zu größeren Anstrengungen anspornt und die Nichtmitglieder unseres Teams dazu bringt, die Dinge wie wir zu sehen und sozusagen eifersüchtig zu werden. Die Wahrheit ist das, was uns dazu befähigt, es noch besser zu machen, als wir es schon machen, bestens nämlich, nebenbei bemerkt, wir machen es bestens, die Wahrheit ist der Wind in unseren Segeln, der nur für uns bläst. („Pastoralien“ S. 73/4)

Ja, auch bei George Saunders gibt es reichlich „evil force“, aber anders als bei Orwell oder Ray Bradbury ist die Stimme jener corporate player, die Rationalisierung und Automatisierung vorantreiben, die die Saunders’sche Spielart der Diktatur des Kapitals verkörpern, die Stimme also, mit der sie zu ihren Untergebenen sprechen, die einschüchtert und gefügig macht – diese Stimme ist eine komplexere Angelegenheit. Oft erreicht sie ihre Opfer, die Underdogs in Saunders’ Storys, verschriftlicht, wie beispielsweise in der genialischen Titelgeschichte des Erzählbandes „Pastoralien“, wo sie in Form von Faxbotschaften inmitten eines künstlichen Steinzeit-Settings vernehmbar wird. Sie ist, wie Sie gerade gehört haben, nicht einfach kalt und distanziert und anonym, Ausdruck einer prinzipiell überlegenen Macht. Nein, sie offenbart ihre eigene Brüchigkeit – denn sie ist trotz allem eine menschliche Stimme.

Das Fadenscheinige, auch unfreiwillig Komische dieser verlogenen, bedrohlichen Bürokratensprache – schon hier lag die erste Herausforderung für den Übersetzer, für Frank Heibert. Wie erschafft man einen glaubhaften, flüssigen Text, der von propagandistischer Raffinesse zeugt und zugleich das menschlich Unzulängliche durchschimmern lässt, das Ungelenke, das die Angst verrät – Angst auch dort, wo man sie nicht vermutet, sie gar nicht erst vermuten soll, an der Schaltstelle der Macht nämlich. Frank Heibert spricht von „Mikro-Fehlleistungen“ – sie natürlich und glaubhaft in der neuen Sprache entstehen zu lassen, erfordert nicht nur Geschick und großes handwerkliches Können, sondern auch so etwas wie das, was man – mittlerweile etwas abgegriffen – „emotionale Intelligenz“ nennt. Sprachliche Inkompetenzen sind bei Saunders immer ein Hinweis auf das Schauspiel, mit dem wir unsere eigenen Unsicherheiten, unsere Angst kaschieren wollen. Egal, ob wir ganz oben oder ganz unten sind. Saunders zu übersetzen erfordert also neben dem ganz großen Handwerkskasten gleichsam multiple Intelligenzen. Bei einem solchen Katalog an Voraussetzungen kommen nur sehr wenige für den Job in Frage. Better call Frank!

Natürlich gilt George Saunders‘ besonderes Interesse jedoch den vom Leben Gezeichneten, den Underdogs, wie gesagt – klingt dramatisch, es sind aber in der Regel Menschen wie Sie und ich. Protagonisten, die im Alltag zu kämpfen haben, Angst haben, ihre Jobs zu verlieren, Geld verdienen müssen, um ihren Kindern ein halbwegs gutes Leben zu bieten – Kinder spielen überhaupt immer wieder eine große Rolle. Menschen, die sich in Widersprüchlichkeiten verheddern, mit ihrem Latein am Ende sind oder einfach belly-up gestrandet.

Spät am Abend macht mein Fax das Geräusch, das es macht, wenn ein Fax ankommt.

Von Louise:

Schlechter Tag, steht da. Er hatte Fieber, dann wurde ihm plötzlich sehr kalt. Und seine Beine sind so geschwollen. An manchen Stellen sieht die Haut aus, als würde sie gleich platzen. Hat den Tag über so ungefähr zwei Hand voll trockene Chexflakes gegessen. Und quengelig, mein Gott, der arme Kerl. Hat die ganze Zeit in der Unterhose auf dem Heizungsrost gestanden und aus dem Fenster gestarrt. Und immer gesagt, wo ist Daddy, warum ist er nie hier? Und: Das Evemplorin kostet jetzt 70$ für 120 Einheiten. Gott, immer nur racker-racker-racker, Du solltest mich sehen, ich seh aus wie neunzig. Und dann kam ein großes Stück Holzverkleidung runtergesegelt, als wir gerade ins Auto stiegen, hätte beinah die Zwillinge erschlagen. Die Versicherung sagt, sie zahlen nicht. Was soll ich machen, einfach vergessen? Was wird mit dem Holz dadrunter, irgendwas Schlimmes, wenn wir es nicht wieder angenagelt kriegen? Puh. Fax mir nicht zurück, ich geh schlafen.

Alles Liebe, Ich.

Ich gehe ins Bett und liege da, zähle immer wieder und wieder die Dämmplatten an der Decke meiner abgedunkelten Abgetrennten Zone.

Einhundertvierundvierzig.

Und: Ich habe so einen Hunger. Ich könnte töten für eine Ziege.

Obwohl, eins steht fest, Grübeln löst auch keine Probleme. Andererseits, Positives Denken über Probleme genauso wenig. Doch dann fühlt man sich immerhin positiv, was ja eine machtergreifende Wirkung hat oder jedenfalls haben sollte. Und Macht ist gut. Macht ist inzwischen notwendig. Inzwischen ist es notwendig, dass ich ein Fels in der Brandung bin, ja. Ich darf nur nicht vergessen, dass ich nicht für alle Probleme der Welt zuständig bin. Es steht nicht in meiner Macht, Nelson zu heilen, es ist nur notwendig, dass ich tue, was ich kann, das heißt, weiter für Geld sorge, und damit ich weiter für Geld sorgen kann, muss ich auch den Kopf oben behalten, damit ich weiterhin gute Arbeit leisten kann. Das heißt, es ist notwendig, dass ich vermeide, in der tiefsten Nacht in meiner Abgetrennten Zone negativ über Probleme zu grübeln, denn wenn ich das tue, bin ich am nächsten Morgen müde und leiste womöglich schlechte Arbeit, was meine Fähigkeit, weiter für Geld zu sorgen, untergraben könnte, vor allem,  wenn es zum Beispiel zu einer Stichprobe kommt.

Ich zähle weiter die Dämmplatten, und während ich das tue, versuche ich zu lächeln. Ich lächle im Dunkeln und nicke irgendwie vertrauensvoll. Ich versuche, mir positiv und kreativ überraschende und innovative Lösungen für meine Probleme vorzustellen, etwa einen Lottogewinn, den  Abbruch der Umstrukturierung oder dass Nelson plötzlich eines Morgens aufwacht und vollkommen geheilt ist. („Pastoralien“ S. 44)

George Saunders, der zutiefst menschliche Exzentriker unter den amerikanischen Gegenwartsautoren, sagt über das Verhältnis zu seinen Leserinnen und Lesern: „We’re both human beings, we’re in this crazy situation called life that we don’t really understand – can we put our heads together and confer about it a little bit, at a high, very non-bullshitty level. Then all kinds of things can happen.“

Man könnte sagen, Saunders hält die Hand hin. Und tatsächlich: Manchmal werden wir durch unser Erleben, durch die Traumata und die kleinen Katastrophen, die wir durchleiden, an ganz ferne Orte geschleudert, manchmal sind wir gleichsam wie in anderen Ländern und sehen einander nur aus großer Ferne. Saunders’sches Erzählen versucht, die Kluft kleiner werden zu lassen. Aber diese Kluft ist dennoch der Sprache seiner Protagonisten eingeschrieben. Und muss, oftmals aufs Subtilste, auch in der Übersetzung sichtbar bleiben. Erfahrungen an der Peripherie, Erfahrungen des Außenseiters, der Abgrenzung, das Erleben der Fragilität des Körpers, der Verletzbarkeit der Seele. Wer hat diese Erfahrungen nicht gemacht? Entscheidend ist, sie nicht wegzuschieben, sie nicht einfach als zu überwindendes Übel zu sehen, sondern als inhärenten Bestandteil der menschlichen Konstitution, sie als Quelle der Empathie zu nutzen, sie zum Werkzeug der Erkenntnis zu machen. Nicht umsonst ist Saunders praktizierender Buddhist: Die Ichlosigkeit des Buddhismus bedeutet ihm allerdings nicht, das Ich über Bord zu werfen – sondern es vielmehr als Teil eines größeren Ganzen zu begreifen. Im Prozess des Schreibens gibt er den Charakteren viel Raum, in den sie sich hinein entwickeln können. Er begegnet ihnen in seinen eigenen Worten „hopeful, generous, but not too pushy“. Und spätestens jetzt verstehen Sie: Saunders braucht eine große Seele von einem Übersetzer, nicht einen Sprachakrobaten.

In der Titelgeschichte der Erzählungssammlung „Zehnter Dezember“ treffen zwei Außenseiter, zwei durch Krankheit gezeichnete Menschen aufeinander. Robin, ein seelisch gestörter Teenager folgt, wie er meint, den Spuren eines „Jensis“, eines „Jenseitsweltlers“:

Dann kehrten die Spuren auf den Pfad zurück, umrundeten den Teich und strebten Lexow Hill hoch.

Was war dieses seltsame Objekt? Ein Mantel? Auf der Bank? Der Bank, die die Jensis für ihre Menschenopfer verwendeten?

Keine Schneeablagerungen auf dem Mantel. Mantelinneres noch leicht warm.

Ergo: der vor kurzem abgelegte Mantel des Jensis.

Das war jetzt aber schräges Karma. Ein spannendes Rätsel, im Rahmen der Rätsel, die ihm bislang begegnet waren. Und da gab es einige. Einmal hatte er einen BH an einem Fahrradlenker gefunden. Einmal hatte er ein komplettes unberührtes Steak mit Beilagen auf einem Teller hinter dem Fresno’s gefunden. Und es nicht gegessen. Obwohl es ziemlich gut aussah.

Irgendwas war im Gange.

Dann gewahrte er einen Mann am Lexow Hill, auf halber Strecke nach oben.

Einen mantellosen kahlköpfigen Mann. Superdünn. Sah nach Schlafanzug aus, was er anhatte. Kletterstapfte mit Schildkrötengeduld da hoch, die nackten weißen Arme ragten aus seinem Schlafanzugoberteil raus wie zwei nackte weiße Äste, die aus einem Schlafanzugoberteil rausragten. Oder einem Grab.

Welcher Mensch ließ an einem Tag wie heute seinen Mantel liegen? Ein Irrer, genau. Dieser Kerl wirkte irgendwie irre. Wie ein Typ aus Auschwitz oder ein trauriger verwirrter Opa.

Dad hatte mal gesagt, Verlass dich auf deinen Kopf, Rob. Wenn es wie Scheiße riecht, aber quer drübergeschrieben steht Happy Birthday und ne Kerze steckt drin, was ist es dann?

Ist da auch Zuckerguss drauf?, hatte er gefragt.

Dad hatte dieses Augenzusammenkneifen gemacht, das er immer machte, wenn eine Antwort noch nicht ganz saß.

Was sagte ihm sein Kopf jetzt?

Irgendwas stimmte hier nicht. Ein Mensch brauchte einen Mantel. Selbst wenn es ein erwachsener Mensch war. Der Teich war zugefroren. Das Schwimmthermometer zeigte minus zwölf. Wenn der Mensch ein Irrer war, musste man ihm erst recht zu Hilfe kommen, denn hatte Jesus nicht gesagt, Gesegnet ist, wer denjenigen hilft, die sich nicht selbst helfen können, weil sie zu irre, tatterig oder behindert sind?

Er schnappte sich den Mantel von der Bank.

Es war eine Rettung. Endlich eine echte Rettung, quasi. („Zehnter Dezember“ Seite 233/4)

Und eine Rettung findet tatsächlich statt. Vermutlich werden hier zwei gerettet: Der psychisch labile Junge und der todkranke Alter nähern sich durch ihr geradezu aberwitzig komisches, trauriges Aufeinandertreffen wieder der Gemeinschaft an, finden ein paar Schritte von der Peripherie zurück, Richtung Mitte. Es stellt sich ein fragiles Empfinden der Verbundenheit, der Zugehörigkeit ein. Das Tastende dieser Bewegung ist der Übersetzung dabei eingeschrieben, hier die Gedanken des an einem Hirntumor erkrankten Don:

Da fiel ihm wieder ein, dass der braune Fleck kein bisschen weniger in seinem Kopf saß als zuvor.

Ach Gott, durch all das musste er ja immer noch durch.

Wollte er das immer noch? Wollte er immer noch leben?

Ja, ja, o Gott, ja, bitte.

Weil, okay, die Sache war die – das begriff er jetzt, fing an, es zu begreifen –, wenn ein Mensch am Ende auseinanderfiel und schlimme Dinge sagte oder tat oder Hilfe brauchte, in ganz beachtlichem Maße Hilfe brauchte? Na und? Was war dann? Warum sollte er nicht komische Sachen tun oder sagen oder seltsam oder ekelhaft aussehen? Warum sollte ihm nicht die Scheiße an den Beinen herunterlaufen? Warum sollten ihn die Menschen, die ihn liebten, nicht hochheben und beugen und füttern und abwischen, wo er dasselbe mit Freuden für sie tun würde? Er hatte befürchtet, all das Hochheben und Beugen und Füttern und Abwischen hätte ihn entwürdigt, das befürchtete er immer noch, aber zugleich begriff er plötzlich, dass vor ihm noch viele – viele Tropfen Güte, so kam ihm das jetzt in den Kopf – vielen Tropfen glücklicher – guter Gemeinschaft – liegen konnten und dass es ihm nicht zustand – niemals zugestanden hatte –, diese gemeinschaftlichen Tropfen zu hindern.

Verhindern.

Der Junge kam aus der Küche, verloren in Ebers großem Mantel, und jetzt, wo er die Stiefel nicht mehr anhatte, bildete die Schlafanzughose eine Pfütze um seine Füße.  Er nahm sanft Ebers blutige Hand. Sagte, es tue ihm leid. Dass er im Wald so ein Dummkopf gewesen sei. Dass er abgehauen sei. Er hätte es einfach nicht mehr gerafft. So vor lauter Angst und so.

Hör mal, sagte Eber heiser. Du hast dich unglaublich gut geschlagen. Du hast es perfekt gemacht. Ich bin jetzt hier. Wer hat das geschafft? („Zehnter Dezember“ Seite 264 – 267)

Frank – wir kennen ihn alle – ist auf den ersten Blick gar nicht tastend, er ist sogar manchmal ziemlich „pushy“. Er ist zuverlässig, akribisch, zäh: Eigenschaften, die unter den „Kreativen“ nicht immer hoch im Kurs stehen und ein wenig für ihre gewiss preußische Beschränktheit belächelt werden. Für die Lektorinnen und Lektoren, diejenigen in den Verlagen, die auf die Texte warten, mit ihnen arbeiten sollen, Zeit brauchen, sind diese Eigenschaften nicht hoch genug einzuschätzen. In einer Zeit der zunehmend standardisierten Abläufe – ich erinnere nur an die Fax-Botschaften aus der Faux-Steinzeithöhle – ermöglicht diese Zuverlässigkeit für alle Beteiligten mehr kostbaren Raum. Und ist nicht zuletzt Bekundung des Respekts gegenüber dem Text und dem Autor. Frank ist auch ein Gentleman unter den Übersetzern.

Und eben seine Präzision und Hingabe ermöglichen ihm letztlich, einem zentralen erzählerischen Anliegen George Saunders‘ gerecht zu werden: „to defy systemization.“ Was eben nicht mit Chaos gleichzusetzen ist oder bedeutet, dass Saunders nicht ein äußerst genauer Erzähler wäre, nichts an ihm ist „wuschig“ (übrigens ein typisch Heibert’sches Wort) oder sentimental. Die Wahrnehmungsverschiebungen seiner Protagonisten, so ergreifend und abgrundtief traurig sie sein mögen, sind seismographisch genau sprachlich nachgezeichnet.

Ein guter Übersetzer muss viele Voraussetzungen erfüllen, ganz klar, er soll gebildet sein, belesen, penibel und möglichst auch pünktlich, er muss über Sprachkenntnis  und Sprachgefühl verfügen und immerzu viele fundierte Entscheidungen treffen, dazu auch den Mut finden. Aber all das führt zu wenig, wenn er neben dieser großen Werkzeugskiste nicht auch über ein großes Herz verfügt, ein weites Herz, eines, das den Blick öffnet und schärft und Erkenntnis und Haltung ermöglicht, ohne immerzu ins ewige, die Wahrnehmung einengende Urteilen zu kippen.

Ein Autor wie Saunders braucht für den zärtlichen, intelligenten Blick, den er in seinen Geschichten auf die Welt wirft, einen Übersetzer mit ebenso großer Empfindsamkeit und Empathie. Jemanden, der begreift, dass unsere menschliche Existenz eine zutiefst unheimliche Angelegenheit ist. Jemanden, der bereit ist zuzugeben, dass sie auch ihm Schrecken einjagt, und der durch dieses Bekenntnis den einzigartigen Saunders’schen Witz, dessen lichte Melancholie und zarte Exzentrik, in einer fremden Sprache aufleben lässt .

George Saunders sagt über den literarischen Prozess, jenen kontinuierlichen Prozess des Überarbeitens und Umschreibens, er sei gegenüber den Protagonisten „a form of active love in progress“. „Giving the benefit of the doubt“. Er traut seinen Protagonisten zu, sich zu entwickeln, sich zu offenbaren – und verlangt von sich als Autor, diese Offenbarung wahrzunehmen und erzählerisch zu formen. Das ist Programm, existentielles Programm: „When you pay attention to those sentences, your better nature rises up.“ Und die wichtigste Voraussetzung: „To keep your eyes open all the time, to keep mystified.“, das Rätsel des Menschseins nie als gelöst zu empfinden.

Und noch einmal: Klar braucht all das, dieses literarische Unterfangen, das uns in der ganzen Wucht unserer menschlichen Aspirationen, Triumphe und Verfehlungen in den Blick nimmt – braucht all das einen hochversatilen Übersetzer. Aber eines braucht es ganz gewiss vor allem, es braucht love, generosity, love, hopefulness, love, love, space, empathy und noch mal love, love, love. Wie schön, dass Frank so viel davon hat. Auch dafür erhält er heute den Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis. Ich freue mich und gratuliere – von Herzen!

Frank Heibert: Übersetzen mit Mut

Es ist ein großes Glück, ein großes Kompliment, den Helmut-M.-Braem-Preis zu bekommen, schließlich ist der auslobende Freundeskreis eine Vereinigung von Übersetzern, eine besonders kenntnisreiche. Braem, ihr Gründer, hat zusammen mit Elisabeth Kaiser Faulkners „Schall und Wahn“ übersetzt, das ich vor ein paar Jahren neu übersetzen durfte: ein schöner, augenzwinkernder Zufall. Dass ich mich heute so besonders freue, hat mit der Begründung der Jury zu tun: Sie spricht von Mut zu außergewöhnlichen Lösungen und vom Schwung meiner Übersetzungen.

Für den Preis und für das Lob bedanke ich mich von Herzen. Ich fühle mich da auf sehr persönliche Weise „gesehen“, wie es neudeutsch heißt, denn ich war schon immer, meine Lektoren und Lektorinnen können das bezeugen, eher ein frecher Übersetzer, einer, der sich in seiner abgegebenen Fassung lieber ein Stückchen zu weit aus dem Fenster hängt, im Vertrauen darauf, dass die Lektorin mir schon sagen wird, wo ich’s vielleicht übertrieben habe. Wir wissen alle, dass der persönliche, bis zu einem gewissen Punkt unverwechselbare Charakter unserer Übersetzungen auch unsere Persönlichkeit widerspiegelt. Aber wir wissen auch, dass anders als bei anderen Kunstgattungen die Marge, innerhalb derer WIR uns kreativ austoben können, begrenzter ist, begrenzt durch die Vorgaben des Originals, durch das jeweilige Austoben des Autors, der Autorin, die wir übersetzen. Und wenn wir uns über die Jahre einen festen Stamm an Autoren aufbauen, deren Werke wir regelmäßig übersetzen, so deshalb, weil uns das, was sie sprachlich typischerweise veranstalten, liegt. Es ist kein Wunder, dass auf meiner Liste George Saunders neben Lorrie Moore und Tristan Egolf gegenüber von Richard Ford oder Don DeLillo stehen. Sie sind sprachlich ganz unterschiedlich, aber sie alle reizen, ohne experimentell zu werden, die Möglichkeiten der Sprache zuweilen bis ans Limit aus, betrachten die Welt mit ihrem jeweiligen philosophischem Humor und dem stark ausgeprägten Wie ihres Stils. Dieses Wie macht Literatur erst so begeisternd, und im Wie unserer Autorinnen und Autoren finden wir Übersetzer unsere Erfüllung, können uns zeigen, na ja, eben: austoben.

Übersetzerischer Mut ist kein Selbstzweck, als würde es sich um eine Extremsportart handeln. Er hat nur Sinn, wenn auch das Original mutig ist. Aber was heißt das genau? Durch seine sprachliche Gestaltung steht jedes literarische Werk an einer bestimmten Stelle auf dem breitgefächerten Spektrum der Originalsprache, zwischen gängig, vertraut, konventionell einerseits und originell, gewagt, provozierend andererseits. Beim Übersetzen gilt es, diese Stelle im Spektrum der deutschen Sprachverwendung zu finden und sie lebendig mit den Mitteln des Deutschen auszugestalten. Spielt eine besondere sprachliche Gestaltung überhaupt eine große Rolle, im Verhältnis zur Handlung, zum Inhalt?  Wählt der Autor das naheliegendere Wort, die idiomatischste Redewendung, einen unauffälligen, flüssigen Satzbau – oder ein köstliches Wort, eine poetische Metapher, einen eigenwilligen Satzbau? Oder etwas dazwischen? Und wie viele Varianten fallen mir überhaupt ein?

Wenn da steht „Everybody wants to own the end of the world“, nehme ich die naheliegende Übersetzung “Jeder will das Ende der Welt besitzen” – oder interpretiere ich und mache den Satz nachvollziehbarer, indem ich etwa sage “Jeder will das Ende der Welt in der Hand haben”? „Kontrollieren“? Klar, was zeigt mir der Kontext an, was entspricht eher dem Autorenstil? Und was entspricht meinem Nachempfinden und Anverwandeln des Autorenstils? „There we were, in miniaturized mindspace“ – „Da saßen wir, geschrumpft auf die Größe des geistigen Auges“ oder „im Kleinformat des Kopfkinos“? So, wie ich ticke, will ich die Alliteration und die Knappheit, so schön der Daktylus der ersten Version ist. So klingt der Autoren-Sound, wenn ich ihn zu gestalten habe.

Das waren, quasi kuhwarm, zwei Beispiele aus dem neuen, noch nicht erschienenen DeLillo, die Lektorin Bärbel Flad sitzt unter uns und weiß, wovon die Rede ist. Schauen wir uns naheliegenderweise nun auch George Saunders an, was gibt er vor? Er rückt nah an seine Figuren heran, wählt die Ich-Perspektive oder die personale Erzählperspektive und lässt sie in inneren Monologen oder Dialogen das Wort ergreifen. Oft werden in einer Story mehrere gegeneinander geschnitten. Saunders gestaltet diese Rollenprosa beherzt aus, mit originellen sprachlichen Mitteln und zugleich psychologisch absolut glaubwürdig.

In der Titelgeschichte „10. Dezember“ tritt Don Eber auf, ein Mann in den besten Jahren mit einem Hirntumor, der sich am 10. Dezember bei minus zwölf Grad in die Natur begibt, an einen zugefrorenen Teich, wo er immer seinen Hund ausführte. Er erinnert sich an seinen Stiefvater Allen und dessen elendes, langes Sterben; er, Don Eber, will seiner Familie nicht dasselbe zumuten wie Allen ihm und seiner Mutter. Es geht in dieser Geschichte um Leben und Tod und auch um das Ausrasten und das Entgleiten der Sprache, um zunehmende sprachliche Fehlleistungen. Der schimpfende Allen ist erschütternd und zugleich brüllkomisch, weil er hilflos macht – das verhilft zu Galgenhumor, bei Beteiligten wie Lesern. Don Eber erlebt als Kranker, wie sein Tumor ihm punktuell die Sprache zersetzt, stellvertretend für den ganzen Albtraum, wenn das eigene Leben und dessen Selbstbestimmtheit ins Rutschen gerät. Bei Don Eber sind die Fehlleistungen gar nicht mehr lustig, aber nicht minder herzzerreißend.

Für das Übersetzen ist klar: ich muss die Fehlleistungen sowieso an andere Wörter und Strukturen knüpfen als im Original, aber wonach suche ich die im Deutschen aus? Wo finde ich die kleinen grammatikalischen Verschiebungen, die klanglichen Verzerrungen, die auch wie Artikulationsprobleme wirken könnten, und wie dosiere ich sie im Deutschen überzeugend? Was zählt, ist wie immer die Wirkung, und die kann ich mir am besten klarmachen, indem ich die doppelte Haltung herausinterpretiere, die dahinter steht: Saunders‘ Blick auf seine Figuren und ihre Welt und der Blick der Figuren selbst auf ihre Welt. Ich muss mich zum Übersetzen in Saunders‘ Humanismus hineinbegeben, zu dem er uns Leser verführen will, indem er zeigt, wie wir kleinen Menschen innerlich ticken, als Subtext und Hintergrund zu unseren zuweilen extremen und schnell, vielleicht vorschnell verurteilten Handlungen. Der suizidale Todkranke Don Eber ist nur ein Beispiel dafür; in diesen Erzählungen treten lauter andere sprachlich ausgeprägt charakterisierte Underdogs & Loser auf, z.B. ein Teenagerprinzesschen, ihr sexuell aggressiver Kidnapper und der verklemmte Nachbarsjunge, der sie am Ende rettet; ebenso der gleich Amok laufende Irakheimkehrer sowie diverse überforderte, auf ihre Weise ihre Kinder liebende Mütter und Väter.

In der Geschichte „10. Dezember“ ist der zweite Held ein „blasser Junge mit unvorteilhaftem Prinz-Eisenherz-Pony und täppischem Gehabe“, der in seiner Fantasy-Computerspiel-Welt aufgeht und beim Spielen zufällig zum selben zugefrorenen Teich geht wie Don Eber. Ihr Aufeinandertreffen und wohin Saunders die Geschichte am Ende führt, ist für mich große US-Gegenwartsliteratur, und wie es sich für große Literatur gehört, sind das Inhaltliche und die sprachliche Gestaltung letztlich nicht voneinander zu trennen. Als Übersetzer liebe ich die Figuren ebenso, wie George Saunders es tut, ergründe sie, analysiere und fühle mich ein, damit sie mit all ihren Gewöhnlichkeiten und Außergewöhnlichkeiten, die Saunders mutig gestaltet hat, im Deutschen ankommen.

Gleich werde ich die Einstiegspassage von Don Eber auf Deutsch lesen. Ist das nun die richtige Übersetzung? Ist es eine gute Übersetzung? Bekanntlich gibt es dafür kein Metermaß. Aber ich bin davon überzeugt, dass der Text durch seinen übersetzerischen Ansatz eine Chance hat, gut rüberzukommen. Wenn es gelingt, mit einer Übersetzung zu überzeugen, mit ihrer sprachlich-stilistisch äquivalenten Gestaltung die angepeilte äquivalente Wirkung zu erzielen, ist das übersetzerische Ziel erreicht.

Wie bereits gesagt: bei schwer lösbar scheinenden Herausforderungen neige ich dazu, lieber den Stier bei den Hörnern zu packen als auf Nummer Sicher zu gehen. Das kann allerdings nur funktionieren, wenn, noch während ich die Hörner in den Fäusten  habe, umso strenger nachkontrolliert wird, ob eine gute Idee wirklich eine gute Idee war oder ob ich mich womöglich verrannt habe. Aber wer wäre schon von sich aus zu so einer Strenge in der Lage? Keiner beherrscht die quälende Kunst des „Kill your darlings“ aus dem Stand. Deshalb möchte ich mich an dieser Stelle bei all den Lektorinnen und Lektoren bedanken, die mir das über die Jahre gezeigt haben. Bei Saunders war das zunächst Elisabeth Ruge und jetzt ganz besonders Christine Popp vom Luchterhand Verlag, die es nicht nur fertig brachte, sich von guten Ideen begeistern zu lassen und bei den weniger guten unbeirrt kritisch zu bleiben, sondern an einigen Stellen auch vorschlug, schwungvoll das Schräubchen ein Stück weiter zu drehen – eine wunderbare gemeinsame Arbeit im Sinne und im Geiste des Autors. Der Luchterhand Verlag sponsert übrigens, tausend Dank, großzügig das bläschenhaltige alkoholische Erfrischungsgetränk, an dem wir uns gleich alle erfrischen dürfen. Bedanken möchte ich mich aber auch bei den vielen Kolleginnen und Kollegen, von denen ich gelernt habe und immer weiter lerne, beim Lesen ihrer Werke, beim Diskutieren in Straelen oder in Wolfenbüttel; ich nenne hier nur die beiden Damen, mit denen ich durch den Hieronymus-Ring verbunden bin, Karin Krieger und Miriam Mandelkow, sowie diejenigen, mit denen ich bereits zusammen übersetzt habe: Ulrich Blumenbach, Christiane Buchner, Patricia Klobusiczky und last but not least Hinrich Schmidt-Henkel.

Zum Abschluss also ein paar Seiten aus der Titelgeschichte „10. Dezember“. Zur Beruhigung sei übrigens gesagt: Sie geht – relativ – gut aus. [Es folgen, eingekürzt, die Seiten 236-241 aus George Saunders: 10. Dezember.]