Hieronymusring an Gabriele Leupold

Miriam Mandelkow (l.) und Gabriele Leupold, Foto (c) Karin Betz

Hieronymusring an Gabriele Leupold

(Dies ist die ungekürzte Fassung der Laudatio anlässlich der Übergabe des Hieronymusrings von Miriam Mandelkow an Gabriele Leupold, die in Übersetzen 02/2017 in Auszügen gedruckt wurde.)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste, liebe Gabi!

In einem der weniger bekannten Bücher aus Gabis übersetzerischer Feder, dem vor fünfzehn Jahren bei Rowohlt Berlin erschienenen Roman Penelope, die Listenreiche von Gohar Markosjan, zieht die Titelheldin einen ganzen Dezembertag lang kreuz und quer durch die armenische Hauptstadt Jerewan. Penelope sucht auf ihrer Odyssee an diesem kalten Tag ein heißes Bad – das sie am Ende auch findet; davor aber findet sie:

„Ein sonderbares Wort. Unvordenklich – das, woran man nicht mehr zurückdenken kann, und dann tut man es doch. Diese Sprache ist schon merkwürdig. Übrigens, auch die anderen sind kein Zuckerschlecken. Ach, Kinder, und warum musstet ihr den Turm zu Babel errichten, hättet ihr lieber Wohnblocks gebaut, mit heißem Wasser!“

Das mit Babel haben wir jetzt bekanntlich am Hals. Herzlich willkommen, ich freue mich drüber, heute Abend ganz besonders, denn zwei Jahre lang hat mich dieser Ring hier dazu angehalten, mich noch mehr als sonst mit Werk und Wirken meiner Kollegen zu beschäftigen. Und dieser tollen Runde darf ich jetzt erzählen, weshalb ich den Hieronymusring an Gabi weiterreichen möchte. Kurz gesagt:

Gabriele Leupold ist eine Extremistin.

Nicht nur sucht sie sich zum Übersetzen freiwillig immer wieder darstellerische Extremfälle, sie nimmt sie auch noch beim Wort, und damit meine ich nicht irgendeine programmatische Wörtlichkeit, sondern die vom Original geforderte Freiheit, die sie sich im Deutschen nimmt.

Nehmen wir Gabis jüngsten großen Wurf, der mich, obwohl das Buch ja eigentlich schwere Kost ist und nicht nur Konzentration, sondern auch ständiges Hin- und Herblättern zwischen Text und üppigem Anmerkungsapparat erfordert, in dem uns die Übersetzerin historische Hintergründe, sprachliche Anspielungen, versteckte Zitate und Doppel- und Dreifachbedeutungen erschließt, bei der Lektüre immer wieder zu Juchzern hingerissen hat. Und das liegt an der Lust, der Präzision und Frechheit, mit der Gabi die Sprache gestaltet.

Die Rede ist natürlich von Andrej Platonows Die Baugrube, genauer Gabis viel beachteter und gefeierter Neuübersetzung des Romans – im vergangenen Jahr bei Suhrkamp erschienen –, der im russischen Original 1930 entstand und in der Sowjetunion erst knapp sechzig Jahre später erstmals veröffentlicht wurde. Die Baugrube handelt vom Scheitern der kommunistischen Utopie, ist düster, pessimistisch, parodistisch und böse, vor allem aber sprachlich virtuos im Dienste der Desillusionierung. Platonow hebelt Syntax und Semantik aus, entlarvt leere Floskeln und bürokratische Formeln, nicht indem er sie kommentiert, sondern indem er sie in einem verknappten Satz, in einer verfremdeten Wendung, nicht selten auch in einem einzigen Kompositum aufeinanderprallen und platzen lässt, sodass sie sich selbst entblößen.

Der Ingenieur Pruschewskj, mit der Aufgabe betraut, aus der Baugrube ein „gemeinproletarisches“ Hochhaus zu ziehen, in dem die Bevölkerung einer ganzen Stadt unterkommen soll, denkt an einer Stelle: „In zehn oder zwanzig Jahren wird ein anderer Ingenieur in der Mitte der Welt einen Turm bauen, in dem sich zur lebenslangen glücklichen Ansiedlung die Werktätigen des gesamten Erdballs niederlassen werden.“ Lebenslang siedelt man im Gefängnis, und das ist eher kein so glücklicher Zustand.

In lyrischer Verdichtung werden sowjetischer Neusprech, vorrevolutionäres Russisch, marxistischer Wortschatz, Kirchenslawisch und Gaunersprache aufeinander losgelassen und in ihrer bewusst kalkulierten Unvereinbarkeit ad absurdum geführt. Wenn aus diesem auf vielerlei Ebenen zerstörerischen Akt Schönheit entsteht, dann ist das ein Kunststück, das Original und Übersetzung gleichermaßen gelingt.

Nun möchte ich meine Bewunderung für Gabis Kunst aber nicht durch den Rückgriff auf das Original legitimieren, zunächst mal, weil ich das gar nicht kann, vor allem aber, weil ich es nicht muss. Ich vertraue Gabis deutschem Text. Und das nicht etwa, weil beim Lesen nichts wehtut, sondern weil alles, was sie dem Deutschen und uns Lesern zumutet, sitzt und Sinn hat. Wir freuen uns über unorganisiertes Wetter, gerunzelte Gedanken, Überspitzeritis, Vorauseilerei und Übereiferung. Wir sehen die Spielräume, die sie ausreizt, wir erkennen ihre Haltung, die ja im Übrigen auch etwas mit Aushalten zu tun hat, und wir vertrauen ihr auch und besonders bei der Begegnung mit stilistischen Vergehen, die sämtliche Pawlowschen Lektoren in uns spontan zum Sabbern bringen – bei unerhörten Genitivketten zum Beispiel. Im Zuge der Kollektivierung der Landwirtschaft getötete Bauern sollen in einem öffentlichen Begräbniszug verabschiedet werden, „damit alle die Feierlichkeit des Todes während des sich entwickelnden lichten Moments der Vergesellschaftung des Besitzes“ spüren. Alles klar, oder? Gabi wird gleich noch eine Kostprobe aus der Baugrube zum Besten geben, deshalb halte ich mich mit weiteren Illustrationen zurück.

In einer Andrej Platonow gewidmeten Ausgabe der Zeitschrift Osteuropa denkt Gabi darüber nach, ob die starke Wirkung von Platonows Sprache vielleicht auch etwas mit dem zu tun hat, was Sigmund Freud über den Witz und dessen Beziehung zum Unbewussten sagt – wenn auf knappem Raum eigentlich unvereinbare Aussagen aufeinandertreffen, gibt es eine Art Kurzschluss wie das Lachen bei einem Witz. Und in der Tat entbehrt die Baugrube durchaus nicht des Humors. Das ist aber nicht der Grund, weshalb ich Freud ins Spiel gebracht habe.

Denn eigentlich wollte Gabi ja Psychologie studieren. Dass sie stattdessen bei Slawistik und Germanistik landete und schließlich mit einem DAAD-Stipendium in Moskau (wo sie eigentlich die Freud-Rezeption in der Literaturwissenschaft erforschen wollte), hat uns im Gespräch zu allerlei Theorien inspiriert nicht nur über die Nähe des Übersetzens zu therapeutischen Prozessen, sondern auch über die mögliche Zuordnung bestimmter Übersetzungsansätze zu spezifischen Neurosen. Aber dazu ein andermal, denn eigentlich möchte ich auf eine andere Disziplin zu sprechen kommen, die Gabi auch nicht studiert hat, die in ihrem übersetzerischen Schaffen gleichwohl eine große Rolle spielt, nämlich die Musik.

Und damit zu Andrej Belyjs Roman Petersburg, einem der radikalsten Romane des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Gabis Übersetzung, die erste, die sich an der Urfassung orientiert hat, erschien 2001 bei Insel und wurde im darauffolgenden Jahr mit dem Paul-Celan-Preis ausgezeichnet. Petersburg, das an wenigen Tagen im Revolutionsjahr 1905 spielt, ist mehr Halluzination als Handlung, ein Großstadtflirren mit abrupten Szenenwechseln und Redefetzen, ein symbolistischer Roman von zuweilen grotesker Komik, mit einer Fülle von Wortspielen und eben vor allem: Musik. Nur stimmt es eben so nicht, der Roman ist nicht voller Musik, er ist Musik, ein Gewebe aus Lauten und Rhythmen, das dabei durchaus noch eine Geschichte erzählt, bzw. das Bild einer Stadt zugleich malt und komponiert:

„Sprühregen besprengte Straßen und Prospekte, Trottoirs und Dächer; schoß in kalten Rinnsalen aus Blechrinnen.

Sprühregen besprengte die Passanten: beschenkte sie mit einer Grippe; mit dem feinen Staub des Regens krochen Influenza und Grippe unter den hochgeschlagenen Kragen: des Gymnasiasten, des Studenten, des Beamten, des Offiziers, des Subjekts; und das Subjekt (sozusagen der Bürger) blickte sich beklommen um; und schaute auf den Prospekt mit verwischt-grauem Gesicht; es zirkulierte in die Unendlichkeit der Prospekte, überwand die Unendlichkeit, ohne jedes Murren – im unendlichen Strom von seinesgleichen, – inmitten von Fliegen, Tosen, Beben, Droschken, von weitem den melodischen Läufen der Automobilhupen lauschend und dem zunehmenden Grollen der gelbroten Straßenbahnen (einem dann wieder abnehmenden Grollen), unter ununterbrochenem Zuruf der stimmgewaltigen Zeitungsverkäufer.

Aus der einen Unendlichkeit floh es in die andere; und blieb dann an der Uferpromenade hängen; hier endete alles; der melodische Lauf der Automobilhupe, die gelbrote Straßenbahn und jedes mögliche Subjekt: hier war der Rand der Welt und zugleich das Ende der Unendlichkeit.“

Über das kompositorische Verfahren von Petersburg und das „Spielen“ des Textes beim Übersetzen hat Gabi Lesenswertes geschrieben, unter anderem in dem von ihr und Katharina Raabe herausgegebenen Band In Ketten tanzen. Übersetzen als interpretierende Kunst, der bei Wallstein erschienen ist. Darin denken Übersetzer, Musiker, Schauspieler, Philosophen über die performative Energie nach, die alle Interpreten, und dazu gehören eben auch die Übersetzer, brauchen, um ein Original, eine Notation – den gestrigen Cello-Vortrag haben wir nicht bestellt, aber er passte ja wunderbar zum Thema – in etwas ganz Neues umzuwandeln, etwas Eigenes. Und dieser Übersetzungstanz kann nur gelingen, wenn und weil uns Ketten, schmerzhaft zuweilen, beschränken und unseren Ausdruckswillen herausfordern. Wenn ich den Petersburger Sprühregen lese, frage mich nur, ob wir trotz Ketten tanzen oder vielleicht doch mit, im Sinne von: Darf ich bitten? Viele von euch kennen diesen Sammelband oder haben an dem zweitägigen Symposium im Literarischen Colloquium Berlin teilgenommen, organisiert von den beiden Herausgeberinnen.

Und noch mehr kennen die andere Veranstaltung im LCB, die Gabi gemeinsam mit Evelyn Passet auf die Beine gestellt hat und von der wir seit zwölf Jahren profitieren: eintägige Seminare zu den Feinheiten und Grobheiten des Deutschen, zu Ausklammerung und Dialekt, Präpositionen und Kiezdeutsch, zu Patinierung und erlebter Rede; im November geht es mit dem Konjunktiv weiter. Auch hierzu gibt es einen Sammelband, Im Bergwerk der Sprache, ebenfalls bei Wallstein erschienen und herausgegeben von Gabi und Evelyn.

Und wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich über weitere Projekte und ehrenamtliche Tätigkeiten sprechen, die Gabi als Übersetzerin über die einsame Arbeit an der heimischen Tastatur hinausführt – wobei die Tastatur, glaube ich, ziemlich oft auch in Russland steht und die Übersetzungsarbeit mitunter im Team vonstatten geht, zu zweit, zu dritt oder auch mal zu acht: Ossip Mandelstams Gespräch über Dante, Gabis allererste Übersetzung, die Gedichtsammlung schwebe zu stand von Anna Altschuk oder der fantastisch aberwitzige dystopische Roman Telluria von Vladimir Sorokin aus der Feder des hochkarätig besetzten Kollektivs Hammer und Nagel.

Vieles ist unerwähnt geblieben, ich habe sogar sträflich unterschlagen, dass Gabi auch aus dem Polnischen übersetzt, aber ich muss jetzt auf das Projekt zu sprechen kommen, das mir persönlich vielleicht am meisten am Herzen liegt: Zuerst begegnet bin ich Gabis übersetzerischem Werk nämlich vor zehn Jahren bei Warlam Schalamow und seinen Erzählungen aus dem Gulag. Schalamow hat insgesamt achtzehn Jahre seines Lebens in Gefängnissen und Lagern der Sowjetunion verbracht, davon vierzehn an der Kolyma im Nordosten Sibiriens. Schon bei meiner ersten Lektüre habe ich mich gefragt, wie es sein muss, diese Literatur zu übersetzen, sich hautnah Kälte, Hunger, Schmerz und den Abgründen des Menschen zu widmen, eine Literatur, die zu lesen schon eine derart einschneidende Erfahrung ist und, ehrlich gesagt, auch beinahe unerträglich. 2007 erschien der erste Band der Erzählungen aus Kolyma als Auftakt der ersten vollständigen Schalamow-Werkausgabe bei Matthes & Seitz (dem Verlag übrigens, der uns heute Abend den Sekt spendiert); inzwischen liegen die sechs Kolyma-Zyklen vollständig vor, dazu ein Band mit Reflexionen des Autors über das Schreiben, über das Beschreiben des Lageralltags – sämtlich von Gabi übersetzt, und sie ist noch nicht fertig. Derzeit sitzt sie an Schalamows Erinnerungen an seine Kindheit und das Moskau der zwanziger Jahre.

Wir wissen um die körperliche Erfahrung des Übersetzens, um die zuweilen quälende Nähe, die beim Prozess der Einverleibung und Umwandlung entsteht. Gabi allerdings reagiert mit nachsichtigem Unverständnis auf die Frage nach ihrer Befindlichkeit beim Übersetzen von Schalamow und verweist auf die literarische Güte seiner Schriften. Die Herausforderung beim Übersetzen von Schalamow bestehe in Genauigkeit und Selbstkontrolle, nicht in ungebremster Einfühlung, hat sie an anderer Stelle einmal erklärt. Das bedeutet: dieselbe sprachliche Zurückhaltung zu üben wie der Autor, mit den kargen Mitteln, die für die Schilderung des hermetischen Lagerkosmos zur Verfügung stehen, einen durchrhythmisierten Text zu gestalten mit beharrlichen Wortwiederholungen und froststarrer Syntax, die keinerlei Belebung oder Erleichterung zulässt, kein Durchatmen, es bedeutet: den Blick zu verengen auf die Perspektive der Lagerinsassen, sodass Erzählungen entstehen, die uns Leser einsperren – und genau das finden wir in ihrem deutschen Text.

Auch wenn es sich beinahe verbietet, dies an einem bloßen Schnipsel demonstrieren zu wollen – für alle jene, die Gabis Schalamow noch nicht kennen, hier eine Passage über den Hunger:

„Das Abendessen war zu Ende. Glebow leckte in Ruhe seine Schüssel aus, wischte sorgfältig die Brotkrümel vom Tisch in die linke Hand, führte die Hand zum Mund und leckte die Krümel behutsam auf. Er schluckte nicht und spürte, wie der Speichel das winzige Klümpchen Brot in seinem Mund reichlich und gierig umhüllte. Glebow hätte nicht sagen können, ob es schmeckte. Geschmack ist etwas anderes, zu Dürftiges im Vergleich zu diesem leidenschaftlichen, selbstvergessenen Empfinden, das das Essen gewährt. Glebow hatte es mit dem Schlucken nicht eilig: das Brot zerging von allein im Mund, und es zerging schnell.“

In einem weiteren eher unbekannten Werk aus der experimentierfreudigeren Zeit von Rowohlt Berlin, der Textsammlung Unter Hausarrest der Subkultur-Ikone Jewgenij Charitonow, heißt es an einer Stelle:

„Nun hören Sie doch auf zu zweifeln. Was auch immer Sie schreiben, wird wunderbar sein (und was Sie nicht schreiben umso mehr).“

Mal abgesehen davon, dass dieses Zitat unsere Arbeit natürlich wunderbar auf den Punkt bringt, wobei ich mir nicht ganz sicher bin, ob Charitonow hier wirklich der Kunst des Ungesagten und Mitgemeinten huldigt, nehme ich es zum Anlass, mich auf weitere Erstaunlichkeiten aus Gabis Feder zu freuen, und reiche in großer Bewunderung den Ring weiter an die Musikerin, Tänzerin, Therapeutin und Extremistin, kurz: an die Übersetzerin Gabi Leupold.