Straelener Übersetzerpreis an Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel

V.l.n.r. Frank Heibert, Thomas Weiler, Fritz Behrens, Hinrich Schmidt-Henkel, Foto (c) EÜK

Straelener Übersetzerpreis an Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel

(Dies ist die ungekürzte Laudatio anlässlich der Verleihung des Straelener Übersetzerpreises der Kunststiftung NRW am 13. Juni 2017, die in Übersetzen 02/2017 in Auszügen abgedruckt wurde.)

Lieber Frank Heibert, lieber Hinrich Schmidt-Henkel, lieber Thomas Weiler, sehr verehrte Damen und Herren,

stellen wir uns vor, mir erschiene überraschend eine ominöse Fee, die mir, feentypisch, eine gute und eine schlechte Nachricht überbrächte. Die schlechte: Du wirst stante pede auf eine einsame Insel verbannt und musst dort fürderhin dein Dasein fristen. Die gute: Du darfst einen Menschen mitnehmen, aber nur einen. Und  – bizarres, märchenhaftes Detail –  du kannst zwischen einem Autor und einem Übersetzer wählen. Ich würde mich ohne großes Zaudern für letzteren entscheiden. Warum? Zuerst einmal des nackten Überlebens Willen:

Da der Übersetzer für die weniger fremdsprachenbeschlagene Leserschaft die Aufgabe des Umwandlers übernimmt, der ihr das unverständliche Original in ein zugängliches Sinnsystem transformiert, so wäre ihm durchaus zuzutrauen, sein Talent zu dieser Umwandlung nicht nur auf die Sprache, sondern auch auf Gegenstände anzuwenden, also, aus einem Ast Pfeil und Bogen, aus einem Stein ein Messer zu zaubern. Der Autorenkollege wird zwar ebenfalls Äste und Steine finden, sie in die Hand nehmen, an ihnen riechen, sie aber, statt sie in Überlebenswichtiges zu verwandeln, nur beschreiben, womit an seiner Seite der Hungertod besiegelt wäre.

An den vermutlich sehr, sehr langen Insel-Abenden kann man entweder dem Autor lauschen, wie er über sich spricht, denn der Autor ist von Natur aus egoman. Oder man lauscht dem Übersetzer, der sich eine selbstbezogenen Charakter gar nicht leisten kann, da seine Arbeit stets den unsichtbaren Anderen mitdenkt. Sie fordert ihm ab, seine ungeteilte Aufmerksamkeit und Imaginationskraft einem fremden Werk zu widmen, es in all seiner Widersprüchlichkeit und Verschrobenheit an- und ernst zu nehmen, an die Brust zu drücken, es sich zu eigen zu machen. Das ist per se schon ein empathischer Prozess; man darf also auf weltläufige und dem Gegenüber zugewandte Lagerfeuer-Gespräche hoffen.

Nun erscheint aller Wahrscheinlichkeit nach keine Fee und konfrontiert mich mit dieser existenziellen Entscheidung, aber es ist immer besser, auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. Ebenso schien mir die Wahrscheinlichkeit, dass ich es sein könnte, der heute Abend hier stehen und die Ehre haben würde, diese Lobrede zu halten, eher gering. So viele Menschen mit veritabler Expertise zu allen übersetzungsrelevanten Fragestellungen hätten zur Verfügung gestanden. Umso mehr freue ich mich über diese hehre Aufgabe und versuche, ihr gerecht zu werden, so gut ich kann.

Es wird wohl keinen einzigen literarisch interessierten Menschen im Lande geben, der die Namen Hinrich Schmidt-Henkel und Frank Heibert nicht kennt. In gefühlt jedem fremdsprachigen Roman, den man aufschlägt, findet man ihre Namen. Frank und Hinrich, Hinrich und Frank (ich werde im Folgenden die Reihenfolge der Nennung willkürlich variieren, damit sich keiner hintangestellt fühlt) sind durchaus das, was man Star-Übersetzer nennen könnte. Mit ihren brillanten Übersetzungen haben sie dem deutschsprachigen Leser bis dato eine buntgemischte Schar Autoren ans Herz und ins Hirn gelegt. Zu ihren zahlreichen, mit Preisen und Auszeichnungen dekorierten Arbeiten gehören Erst- und Neuübersetzungen, von Prosa, Lyrik und Dramatik, aus dem Englischen, Französischen, Norwegischen, Italienischen, Dänischen und Portugiesischen. Sie übersetzen jeder für sich, sie übersetzen aber auch gemeinsam. Eine der großen, immer wieder mit Bravour gemeisterten Herausforderungen, denen sich die beiden zu zweit stellen, ist die Übersetzung der Texte der französischen Romanautorin und Dramatikerin Yasmina Reza. Ihr Erfolg auf deutschen Bühnen fußt, ohne die Qualität ihrer Stücke schmälern zu wollen, sicher auch zu nicht geringem Anteil auf Frank und Hinrichs großartigen Übersetzungen. Rezas Komödien, die, wie der Kritiker Gerhard Stadelmaier schreibt, „so leicht sind, dass man gar nicht merkt, wie schwer sie sind“, wirken wie mit Zuckerguss getarnte Giftpralinen. Ihren scharf geschliffenen, bürgerliche Selbstgewissheiten entlarvenden Dialoge so zu übertragen, dass das Leichtfüßige erhalten bleibt, doch der Abgrund stets durchschimmert, gelingt Hinrich und Frank vortrefflich. Man weiß ja, dass es gerade in der Komödie so entscheidend auf Rhythmus und Timing, stimmige Humor-Dosierung und perfekte Setzung der Pointen ankommt, dass schon kleine sprachliche oder gedankliche Unsauberkeiten nicht nur Witze töten, sondern gleich das gesamte fragile Text-Gebäude zum Wanken bringen können.

Auch ich persönlich habe den beiden als Leser viel zu verdanken: Es ist Hinrichs Verdienst, dass ich, über den Weg seiner Neuübersetzung, die Größe von Louis-Ferdinand Célines Reise ans Ende der Nacht erkennen konnte. Es ist Franks Verdienst, dass ich den amerikanischen Autor George Saunders entdecken durfte, dessen Werk mir ohne Franks Übersetzung wahrscheinlich entgangen wäre, ein Versäumnis, das meine Leserbiografie nur schwer verkraftet und das mich, (und auch noch, ohne darum zu wissen!) als einen literarisch, psychologisch und poetisch erfahrungsärmeren Menschen zurückgelassen hätte.

Ich beklagte kürzlich bei Frank den Umstand, dass Saunders neuer Roman noch nicht ins Deutsche übertragen sei. „Ich bin dran“, sagte Frank, und ich war zwiefach beruhigt. Erstens, dass da einer dran ist, und zweitens, dass da Frank im Speziellen dran ist.

Es war also nur folgerichtig, dass sich Hinrich und Frank, das Power-Duo der Übersetzungskunst, nun die Stilübungen von Raymond Queneau vornahmen. Ein mir sehr wertes, teures und treues Buch, das, nachdem ich im Studium erste Bekanntschaft mit ihm schloss, mein Herz und meine Bibliothek nie mehr verließ. Ein Lebensbegleiter, der immer wieder aufgeschlagen werden will. Als Spaß- und Lehrbuch gleichermaßen bietet es dem stilistisch noch auf wackeligen Füßen stehenden Möchtegern-Schriftsteller die ideale Lektüre. Anarchisch und systematisch, wild verspielt und doch tief ernsthaft. Ein Buch, das wunderbar zu Frank und Hinrich passt.

Dazu später mehr; nun erst mal zu einem anderen Gespann offensichtlich Gleichgesinnter, das ein glückliches Fatum zusammen fugte, nämlich zu Thomas Weiler und dem weißrussischen Roman Paranoia.

Im Roman heißt es in der Bürokraten-Prosa des Ministeriums für Staatssicherheit über einen abgefangenen Brief lapidar: „Durch Lektüre des Textes konnte folgender Inhalt ermittelt werden.“ Durch Lektüre wird ein Inhalt ermittelt. So schmucklos heruntergebrochen können nur Agenten eines Überwachungsstaats das vielschichtige Erlebnis des Lesens beschreiben. Weshalb sie auch in Viktor Martinowitschs Roman Paranoia die fantasievollen Sprachspiele der zu „Objekten“ verbürokratisierten Liebenden, die sie beschatten, auch nur verständnislos akkurat beschreiben, abheften, katalogisieren können. Diese Sprach-Diskrepanz zwischen der verliebten Welt, die sich die beiden Protagonisten erschaffen, in der jeder banale Alltagsmoment magisch umgedeutet und alles im Licht der reinen, kindlichen Begeisterung füreinander erstrahlt, und den kalten Phrasen, mit der die Beschatter diese Zauberwelt ungerührt beschreiben, wurde von Thomas Weiler nuancensatt und mit feinem Gespür für die ihr innewohnende, tragische Komik übertragen. Man empfindet tatsächlich kurz Mitleid mit den Apparatschiks des Systems, die durch Nichtverstehen ausgeschlossen sind aus dem Geheim-Code der Liebe, die nichts als ihre graue Sprache haben, eindeutig, betongegossen, charmebereinigt. Die Verständnisgrenze verläuft eben nicht immer entlang kultureller oder nationaler Linien, sondern auch zwischen den Bewohnern divergierender Sprachuniversen. Jeder, der schon mal einen Witz machte, der vom Gegenüber nicht verstanden wurde, weiß, wovon ich rede.

Der Roman Paranoia endet bitter: Diktatur und Überwachung führen zum Tod der Liebe und der Vernichtung des Individuums. Auch dafür findet Thomas Weiler die richtigen, beklemmenden Worte.

Die Hauptfigur dieses kafkaesken, postsowjetischen Alptraums, der Autor Anatoli, sinniert darüber, ob sein Text nur aufgrund des reißerischen politischen Sujets auf dem amerikanischen Markt Interesse wecke, denn an der Qualität seiner „von der Übersetzung ohnehin gezausten Prosa“ könne es ja wohl nicht liegen. Die Prosa, von der Übersetzung gezaust. Es erscheint einem sofort das Bildnis eines Wesens, dem übel mitgespielt wurde. Eine zarte junge Frau, die Prosa, die zwar nicht in dramatischem Umfang, aber dennoch sichtbar verunstaltet wurde; durcheinander gebracht, die Kleidung zerrupft, die Frisur verwuschelt.

Später erzählt besagter Anatoli von dem aufregenden Moment, in dem er in einem Book-Shop des Wiener Flughafens zum ersten Mal ein Exemplar seines Romans in englischer Übersetzung entdeckte. Die Freude darüber (Hochglanz! Kostet Fünfundzwanzig Euro! Steht direkt neben Kundera, Dostojewski und Nabokov!) wird bei genauerem Blick aufs Cover getrübt: Der Titel wurde verplattet, die Doppeldeutigkeit nicht verstanden.

In der zeitgenössischen weißrussischen Literatur ist also, unter anderem, das Phänomen des Übersetztwerdens ein Thema. Allerdings kommt der Übersetzer in beiden erwähnten Passagen nicht gut weg. Stehen da etwa traumatische Erlebnisse des Autors dahinter?

Hätte die Romanfigur Anatoli ein Bewusstsein von dem, was der Geschichte, die ihn hervorbrachte, dereinst, zumindest in der deutschen Übersetzung, zuteilwerden würde, das absolute Gegenteil des von ihm Formulierten nämlich, er hätte sich bestimmt anders ausgedrückt.

Ein Roman, der eine solche Fülle an Registern und Sprechhaltungen in sich vereint, ist im Grunde auch eine große Stilübung, die dem Übersetzer Maximales abfordert. Man findet darin Elemente der Groteske, des Schelmenromans, der Liebesgeschichte, des Agententhrillers, der politischen Parabel und der Bürokratie-Satire. Über weite Strecken ist der Roman dialogisch gebaut wie ein Theaterstück, beziehungsweise Hörspiel, da es sich um Abhör-Protokolle handelt. Diesem Werk im Deutschen eine solche Geschmeidigkeit zu verleihen, dass man die enorme Übertragungsleistung, die dahinter stecken muss, in keiner Zeile spürt, ist das große Verdienst von Thomas Weiler. Paranoia kann also getrost seinem Schicksal danken.

Ja, denn auch Texte haben ihre Schicksale. Publikationsschicksale. Editionsschicksale. Übersetzungsschicksale. Mancher wird nur eine einzige Übersetzung in eine jeweilige Sprache erleben, wie, ich darf es dreist prophezeien, der „Unendliche Spaß“ von David Foster Wallace, allein schon seiner schwer bezwingbaren, genialischen Monstrosität wegen. Dann gibt es die wahren Unglückspilze unter den Texten, deren beklagenswertes Schicksal ihnen nur eine Übersetzung via Drittsprache gönnt, wie zum Beispiel der Roman Geständnis einer Maske, dieser zarten Studie über das Erwachen der Sexualität von Yukio Mishima. Steht unter der deutschen Ausgabe eines japanischen Romans die Zeile „Übersetzt aus dem Englischen von…“. so ist das eine ziemlich traurige Zeile, die auf eine Art Flüsterpost-Praktik verweist, der sicher vieles an Eigenart und Nuancenreichtum zum Opfer fiel. Man wünscht diesen Text eine zweite deutsche Chance, also, kleiner Aufruf in die Runde, falls jemand der Anwesenden aus den Japanischen übersetzt. Und dann gibt es noch die Texte, die so viele Übersetzungen erleben, dass sie kaum zu zählen sind. Geläufigstes Beispiel hierfür sind sicher die Stücke von William Shakespeare, dem, laut Frank Günther, dritten deutschen Klassiker nach Goethe und Schiller. Die Vielzahl der Übersetzungen sind sicher auch dem Sonderstatus der Gattung geschuldet, da ein dramatischer Text ja immer auch Gebrauchstext und Spiel-Material darstellt. Gerne wird auch in den Theaterdramaturgien aus verschiedenen Übersetzungen eine Art Frankensteinsches Textmonster gebastelt, eine Praktik, die dem seriösen Übersetzer – zu Recht! –  den Wutschweiß auf die Stirn treibt. Man sagt von den Engländern, dass sie angeblich neidvoll auf andere Nationen blicken, da diese sich alle Jahre wieder einen neuen Shakespeare schaffen können, sie selbst aber stets mit dem alten vorlieb nehmen müssen. Dieser paradoxe Neid spricht schon die Problematik der Frage nach dem Echten, Originären an. Mir sind schon viele bildungsbürgerliche Theatergänger begegnet, die, wenn sie von dem echten, dem richtigen Shakespeare sprachen, immer die Schlegel/Tieck-Übersetzung meinten. Dass ihr echter Shakespeare so echt gar nicht ist, sondern ein Produkt von Kontext und Konvention der Romantik, dass der echt echte Shakespeare ungleich roher und zotiger, dreister und volkstümlicher klingt, blendet gar mancher lieber aus.

Die Gründe für Neuübersetzungen sind zahlreich und so individuell wie ihre Übersetzer. Und ebenso individuell ist die Ausrichtung einer solchen Neuübersetzung. Ein absolutes Richtig oder Falsch, wie man als Laie glauben könnte, sucht man vergebens; ein Übersetzungsansatz ist so dynamisch und variabel wie der Kontext, in dem er entsteht. Ob das Bereinigen von zeitbedingten Rassismen zulässig, ja, sogar zwingend erforderlich ist, wird kontrovers diskutiert. Bernhard Maries Koltès berühmtes Stück erscheint auf den Spielplänen neuerdings häufig als: Kampf des N*** und der Hunde, eine Praxis, die wiederum zu hitzigen Debatten führt. Sprache ist eben immer auch politisch; Übersetzen ist immer auch politisch. Jede Neuübersetzung ist nicht nur eine Neuschöpfung, sondern auch eine Neuinterpretation. Denn es geht, wie Hinrich und Frank in ihrem Nachwort zu den Stilübungen erläutern, in jedem Text, so neutral er auch auf den ersten Blick daher kommen mag, immer auch um Haltung. Auslösendes Argument für diese Neuübersetzung waren sicherlich die noch nicht ins Deutsche übertragenen Stilübungen, die textes inedits, die die Sammlung vervollständigen sollten, aber die Mission ging weit über diesen editionspragmatischen Ansatz hinaus. So geht es im Verhältnis der alten zur neuen Übersetzung der Stilübungen nicht nur um das Entstauben des Vokabulars, dem Berücksichtigen des Fortschritts, den die Kunst des Übersetzens in den letzten sechzig Jahren machte, sondern auch um das Neuüberdenken der dem Text zugrundeliegenden Intention. Oder, besser, der Intentionen, denn jeder Stilübung liegt eine andere, oft sehr subtil versteckte Haltung zugrunde.

Ein weiteres, von den beiden genanntes Kriterium ist das der Sprechbarkeit. Auch das ein Zeugnis der individuellen Sicht auf einen Text, ob man ihn als eher performativ oder kontemplativ zu Rezipieren einschätzt. Dass Hinrich und Frank inzwischen sehr erfolgreich mit den Stilübungen als sprachakrobatische Performance durch die Lande reisen und mit ihrem Showtalent, das auch nicht gerade jeder Übersetzer mitbringt, das Publikum für Sprache begeistern, macht sie zu wahren Botschaftern der Literatur-Lust. Es ist ein Statement dafür, dass sie ihren Queneau nicht zwingend leise und einsam im Ohrensessel gelesen imaginieren, sondern ihn als theatrales Event sehen, als Wort-Spektakel, das die Öffentlichkeit und den lauten Vortrag nicht zu scheuen braucht. Damit wären Unterhaltungs- und Bildungsauftrag gleichermaßen erfüllt, schulen die beiden Sprach-Enthusiasten doch damit unseren Blick, oder besser: Unser Ohr für den Facettenreichtum, der sich aus einer einzigen, kleinen, banalen Alltags-Geschichte entfalten kann.

Man hüte sich vor Rückschlüssen von dem Spaß, den man bei der Lektüre eines Buches hat, auf den Spaß, den der Verfasser beim Verfassen hatte, aber ich wage dennoch zu behaupten, dass man den Stilübungen Frank und Hinrichs Vergnügen am Übersetzen anmerkt. Hinrich und Frank bei der Arbeit, das stelle ich mir ungefähr so vor:

Auf der Chaiselonge, im Salon, die dort nicht nur, aber auch aufgrund ihres wohlklingenden Namens steht, Chaiselonge, Chaiselonge, genau das richtige Möbel für Sprachfetischisten, auf jener Chaiselonge also ruht Hinrich. Nein, er ruht nicht, das wäre kein Begriff, der Arbeitsethos ausdrückte, und er arbeitet ja, aber er sitzt auch nicht, das wäre wiederum zu protestantisch und würde dem Lustfaktor des Unterfangens nicht gerecht; na gut, sagen wir, er liegt. Hinrich also auf der Chaiselonge, und feilt. Er feilt nicht seine Fingernägel, er feilt an Worten. Um wieder ein wenig den lustvollen Aspekt zu betonen, stellen wir ihm doch ein Glas Rotwein hin. Also, hier, vor Hinrich, ein Glas Rotwein.

Auftritt Frank. Er trägt ein leeres, aber nicht lang leer bleibendes Glas, und ein Tablett. Seien wir stilvoll, sagen wir: Ein Silbertablett. Auf dem Tablett liegen, hübsch angeordnet, Kanapees. Die er natürlich nur zubereitet hat, damit ich jetzt das Wort aussprechen darf. Kanapee. Kanapee. Passt sehr gut zur Chaiselonge. Frank legt sich dazu, nein, das klingt nun doch zu sehr nach Müßiggang, und hier wird ja dem Gegenteil gehuldigt, nämlich dem Fleiß, also gut, vielleicht sitzt Frank, aber nicht stocksteif, sondern eher locker, und feilt mit. Vielleicht schnurrt gar irgendwo ein zufriedenes Kätzchen, vielleicht ist das aber auch zu viel der Gemütlichkeit. Denn gemütlich ist es hier zwar, aber nicht nur, nein, es wird auch hart gearbeitet. Eine alte, schöne Uhr schlägt zehn. Draußen scheint ein netter, fauler Mond, drinnen wird gebastelt. Lautgemalt, rhythmisiert, intoniert, wortkomponiert. Virtuos mit Sinnzusammenhängen jongliert. Es wird geleimt und gereimt, noch besser gereimt. Versfüße gehoben und gesenkt, Bedeutungsebenen hin und her geschoben. Sich Synonyme, Metonyme, Anagramme und Metaphern um die Ohren gehauen. Gedichtet in japanischem Stil. Einen auf Italiener gemacht. Es wird gemutmaßt und verballhornt. Witze aufgespürt, Witze aufgespießt, aus Witzen ein ungeahntes, noch höheres Witzniveau herausgekitzelt. Worte poliert. Endungen frisiert. Gastronomisch fabuliert, gewürzt mit einer Prise Dadaismus. Raimond Quenau, zu neuem Leben wachgeküsst, geht still durch den Raum. Die korpulente Bibliothek nickt in Einverständnis und in Anerkennung. Die alte, schöne Uhr schlägt elf. Frank und Hinrich sinken, erschöpft vom schweißtreibenden Synapsen-Extrem-Sport, darnieder. Bis es morgen weitergeht. Und weiter, und weiter, Tag um Tag, Mond um Mond, bis das Meisterwerk vollendet ist.

So in etwa habe ich mir das vorgestellt. Und die beiden bestätigten mir, dass es sich genau so zugetragen hat. Fast.

Hier und heute, bei dieser Preis-Verleihung in Straelen, schließt sich ein Kreis. Hier, an diesem Ort, an dem vor zwanzig Jahren über dem gemeinsamen Übersetzen eines Romans aus dem Französischen das dream team der Übersetzerszene zusammen fand und der Keim gepflanzt wurde für diese so außergewöhnliche, beeindruckende Lebensgemeinschaft. Frank und Hinrich sind ein goldenes Beispiel für die gelungene Verschmelzung von Leben und Arbeit zu einer gut gelaunten, sinnstiftenden Einheit. So leben die beiden seit nunmehr zwanzig Jahren ihre Liebe zur Sprache und zur Literatur gemeinsam aus, kultivieren und verfeinern sie, bilden ihr Spezialistentum von Werk zu Werk fort und werden immer präziser, immer klüger, und immer besser. (Falls da überhaupt noch Luft nach oben besteht!)

Fast schon zu kitschig, um wahr zu sein.

Aber was kann es Schöneres geben, als sich, gemeinsam mit seinem Lebensmenschen, voll Inbrunst seinem Lebensthema zu widmen und nebenher auch noch die Welt mit den Früchten dieser leidenschaftlichen Hingabe zu beglücken? Nicht viel. Und deshalb gratuliere ich Hinrich Schmidt-Henkel und Frank Heibert ganz herzlich nicht nur für die Stilübungen im Besonderen, sondern auch für ihr Lebens-Gesamtkunstwerk im Allgemeinen. Also, noch mal ganz zeremoniell: Herzlichen Glückwunsch zum Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW, und herzlichen Glückwunsch, Thomas Weiler, zum Förderpreis!