Wieland-Preis an Andreas Jandl und Frank Sievers

V.l.n.r.: Prof. Dr. Dieter Martin, Andreas Jandl, Karin Uttendörfer, Frank Sievers, Norbert Zeidler, Petra Olschowski, Elisabeth Ranke, Helga Pfetsch, Kerstin Bönsch. Foto © Anni Gallus

Wieland-Preis an Andreas Jandl und Frank Sievers

(Hier lesen Sie die ungekürzten Fassungen der Laudatio von Karin Uttendörfer sowie der Dankesreden von Andreas Jandl und Frank Sievers, die in Übersetzen Heft 01/2018 in Auszügen abgedruckt wurden.)

Von der Schönheit des Sturzflugs und der einzigartigen Energie der Sprache

Laudatio von Karin Uttendörfer

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, sehr geehrte Frau Staatssekretärin, liebe Frau Bönsch, liebe Helga Pfetsch, lieber Andreas Jandl, lieber Frank Sievers, sehr geehrte Damen und Herren!

Der Jäger muss das werden, was er jagt

Ein Mann kauert über dem Kadaver einer Ringeltaube, die ein Wanderfalke erbeutet hat. „Der Kopf war gefressen worden. Von Nacken, Brustbein, Rippen und Becken war das Fleisch abgezogen, selbst am Schultergürtel und den Handschwingen … Die Knochen waren noch dunkelrot, das Blut noch feucht.“ Er imitiert die Bewegungen des Falken, er erblickt diesen im nahen Wald und verschmilzt quasi mit ihm. Er schreibt: „In diesen Tagen im Freien leben wir dasselbe rauschhafte, angsterfüllte Leben. Wir meiden die Menschen.“ Der Jäger, der sich in seine Beute verwandelt, der Mensch, der zum Falken wird, dies zumindest ersehnt. Ein so zentrales wie verstörendes Bild aus The Peregrine von John Alec Baker, in dem sich des Autors Besessenheit für den Wanderfalken offenbart.

Zehn Jahre lang, von 1954 bis 1964, verfolgte er ihn, genauer die damals durch den Einsatz von Pestiziden vom Aussterben bedrohten beiden letzten Wanderfalkenpaare der südenglischen Küstengegend von Essex. Zu Fuß und auf dem Fahrrad kundschaftet er all ihre Gewohnheiten aus, beobachtet sie durch das Fernglas beim Fliegen, Jagen, Töten, Fressen, bis er es schafft, sich ihnen anzunähern.

Täglich notiert er seine Beobachtungen in Form von Tagebucheinträgen, die am Ende mehr als 1600 Manuskriptseiten umfassen werden, dann komprimiert er diese auf ein „Winter-Tagebuch“ von 160 Seiten, in dem er die realen zehn Jahre auf eine einzige Jagdsaison verdichtet und eine Sprache erfindet, die der Schriftsteller Robert Macfarlane, selbst ein herausragender Vertreter des „nature writing“, als „shocking to read“ bezeichnete.

Und die erste Lektüre war für mich in der Tat eine Art Schock, denn was ich da las, war weit mehr als der hochgelobte „Klassiker der Naturbeschreibung“, der ornithologische Bericht über einen faszinierenden Raubvogel, den ich erwartet hatte, nein, es war ein unmittelbares – beinahe körperliches – Mit-Gehen, Mit-Sehen, Mit-Erleben. Allerdings war es nicht das englische Original, sondern es war die Übersetzung von Andreas Jandl und Frank Sievers, die ich – als Jurymitglied für diesen wunderbaren Preis – noch vor dem Original gelesen habe und die diese Sogwirkung auf mich ausübte.

Dieses Buch lebt von einer ganz eigenartigen, einzigartigen Energie. Es ist stark verdichtet und luftig zugleich. Was dem Falken der Wind, ist Baker die Sprache, in ihr findet er die Freiheit, um die er jenen beneidet. In ihr kann er sich in die Lüfte erheben, befreit von der Last seiner menschlichen Gestalt. Eine ekstatische, leidenschaftliche und zugleich scharfe und präzise Sprache, die The Peregrine zum Meisterwerk der „empfindsam-reflektierenden Naturbetrachtung“ (hier zitiere ich den Begriff des Philosophen Jürgen Goldstein) macht. Und die Kunst und das Verdienst der beiden Übersetzer besteht darin, sie in all ihren Facetten in der deutschen Übertragung spürbar zu machen, neu zu erschaffen, ohne dass es künstlich, überdreht oder gar pathetisch wirkt. Dank ihnen kann Der Wanderfalke seine „Schock-Wirkung“, die vor allem ein spektakuläres Leseerlebnis bedeutet, auch auf Deutsch entfalten, dank ihnen findet die Naturerfahrung in der Lektüre statt.

Denn Andreas Jandl und Frank Sievers, beide etablierte Literatur- und Sachbuchübersetzer, sind sich stets bewusst, dass das Genre Naturbeschreibung spezifische Anforderungen stellt, die Herausforderung des fundierten Sachbuchs, wie Fachvokabular, Klarheit und Genauigkeit, und die – im Falle Bakers – großer Literatur in sich vereint. Zu unserem Glück stellen sie sich dieser doppelten Herausforderung als Übersetzer-Duo!

Starke Bilder, überraschende Bewegungsverben oder lautmalerische Vogellaute? – die Qual der Wahl

Es fiel mir schwer, aus all den starken Bildern, den überraschend eingesetzten, aberwitzigsten Bewegungsverben, den fantastischen Wortneuschöpfungen, den hinreißend lebendigen Landschaftsbeschreibungen, den gekonnt variierten Vergleichen – keine leichte Aufgabe in einem Werk der Naturbeschreibung –, den lautmalerischen Vogelrufen – die natürlich in jeder Sprache anders klingen und übersetzt werden müssen –, die mich in der Übersetzung in ihren Bann gezogen haben und die ich, lieber Andreas Jandl, lieber Frank Sievers, in ihrer Fülle alle lobpreisen möchte, nur einige Beispiele auszuwählen. Das Faszinierendste an Ihrer Übersetzung ist für mich zum einen, wie wunderbar adäquat, treu zum Original und dennoch frei, Sie die Bewegungen, den Flug der wilden Vögel und das permanente Schweben zwischen den Elementen, insbesondere die Analogien zwischen Luft und Wasser, übertragen, zum anderen, wie absolut souverän Sie den Blick des Lesers lenken.

Lassen Sie mich das an einigen wenigen Passagen veranschaulichen: „Eine Wanderfalkin, heraldisch schwarz vor weißem Himmelsschild, kreiste vom Meer heran. Sie wurde langsamer, segelte ziellos dahin, als wäre die Luft über dem Land zäh und schwer. Sie stürzte herab. Die Strände tosten und loderten von Salven weißer Flügel. Der Himmel riss auf, barst von wirbelnden Vögeln. Die Falkin bewegte sich auf und ab wie ein schwarzes Sichelmesser in weißem, splitterndem Holz. Sie schnitt und fuhr durch die Luft …“ Welch perfekt ausbalancierte Harmonie zwischen Präzision und Poesie: zunächst das neu kreierte Bewegungsverb „herankreisen“, das gleich die nahende Bedrohung ankündigt, die Übersetzung von „sable“ in „heraldisch schwarz“, was im deutschen Text zur raffinierten Dopplung der wappenkundlichen Begriffe „heraldisch“ und „Schild“ führt, die das machtvolle Bild der jagenden Falkin verstärken, schließlich der Vergleich der angreifenden Falkin mit einem wild schneidenden, schwarzen Sichelmesser. Die harten Farbkontraste schwarz-weiß, die bestürzenden Metaphern des von Vögeln berstenden Himmels, der von weißen Flügeln tosenden Strände evozieren eine mystische Landschaft. Kein Wort ist zuviel, keins am falschen Platz. Dichter, poetischer, genauer kann man nicht übersetzen.

Ebenso atemberaubend wie die Beschreibung des „gewaltigen Sturzflugs“ des Falken über eineinhalb Buchseiten, der an Tempo Zeile für Zeile zunimmt, vom gemäßigten „ersten leichten Herunterdriften“ und langsamen Rotieren bis zum finalen senkrechten Fall in Sekundenschnelle als „ruchlos niederfahrende Schwärze“. Dabei folgen die Übersetzer Bakers radikaler Sicht so konsequent wie souverän, das heißt mit feinem Gespür, was im Deutschen „machbar“ ist, wählen mitunter andere grammatikalische Strukturen als im Englischen, um dieselbe Wirkung zu erzielen, weil die Sprachen hier unterschiedlich funktionieren. Die wörtlichen Übersetzungen würden den Sturzflug unterbrechen oder irreleiten, so jedoch treiben sie ihn mit den jeweils treffenden deutschen Formulierungen voran. „In zehn Sekunden war der Falke am Boden, und das ganze glänzende Gefüge, die geschwungenen Retablen und riesigen Fächergewölbe seines Flugs waren im feurigen Sog des Himmels verzehrt und vergangen.“

In beiden Passagen folgt der deutsche Satzrhythmus genau dem Tempo der Wanderfalken, langsam und ausladend, wo sie gleiten, immer schneller und kürzer werdend, wo sie brutal herabstürzen. Fast ist im Deutschen der Sturzflug noch rasanter gelungen! Es liegt wohl daran, dass die Übersetzer – wie sie mir verraten haben – im Fokus ihrer sprachlichen Nachbildung der Bewegungsabläufe viel mehr als die Grammatik oder Syntax – bei der sie allerdings die Satzgrenzen stets einhalten, eine strenge Übersetzerregel (!) – das zu schaffende Bild vor Augen haben, wie bei einer Kamerafahrt, vom Auftakt und langsamen Anschwellen der Spannung über das erste noch spielerische Sich-Fallenlassen bis hin zum rasenden, auf seine Beute „herabsäbelnden Himmelssturz“. Und so lenken sie den Blick des deutschen Lesers genau „richtig“. Das ist Übersetzungskunst!

Welch großer Genuss ist es, dass wir dadurch beim Lesen den Blick des Wanderfalken einnehmen, über der Landschaft schweben, diesen Prozess in der Sprache erleben können! Wie wunderbar ungewohnt ist diese Perspektive, die – ich zitiere noch einmal Macfarlane – bei den Griechen kataskopos hieß, der eigentlich den Göttern und den Vögeln vorbehaltene „Kundschafterblick“. „Der Blick des Wanderfalken von oben auf das Land ist wie der Blick des Seemanns auf die Küste, wenn er in die lange Flussmündung einfährt […] Wie der Seefahrer lebt der Wanderfalke in einer zerfließenden Welt ohne Halt, einer Welt der Wellen und Wogen, aus versinkenden Flächen von Land und Wasser. Wir Verankerten und Geerdeten können uns diese Freiheit, die das Auge hat, nicht vorstellen“, schreibt Baker. Dank Ihrer Übersetzung lieber Andreas Jandl, lieber Frank Sievers können wir das zumindest ein bisschen. Durch Ihren genauen, hochkonzentrierten und empathischen Übersetzerblick wurde „[a]lle Entfernung […] fortgeweht, jeder Baum, jedes Gehöft rückte näher, nachdem [der Himmel] seine Nebelhaut abgelegt hatte“. Und so können wir, dem Wanderfalken gleich, zwischen Land, Luft und Wasser hin- und herschweben. Das Abenteuer, das erzählt wird, findet in der Lektüre statt.

Vom Pflügen zum Verdichten – und nach Baker ist alles leichter!

Das Kreativste, so die Übersetzer, sei die Übertragung von Bakers „Neuschöpfungen“ gewesen, zum Beispiel das Verb „to sooth“, das eigentlich ein Akkusativobjekt fordert, plötzlich aber als aktive Handlung auftaucht („four short-eared owls soothed“), und aus dem im Deutschen „vier Sumpfeulen sachtelten aus dem Ginster“ wird, oder die permanente Verwandlung von Substantiven zu Verben, von Adjektiven zu Substantiven, oder auch originelle Richtungsverläufe wie das HINAUF-SINKEN. Alles scheint sich auf unvorhersehbare Weise zu verhalten. So rauscht bei der Jagd der Boden heran und zerschmettert eine Taube, oder es sieht so aus, als „fiele ein Strandläufer langsam zum Falken zurück“ und verschmelze im Tod mit der „dunklen Silhouette“ seines Mörders.

Da dies im Deutschen schnell künstlich wirken kann, haben die Übersetzer Bakers Verfahren sparsamer angewendet als im Original, haben vor allem Verben in ungewöhnlicher Weise eingesetzt und mit den im Deutschen produktiven Zusammensetzungen aus Substantiv und Adjektiv oder zwei Adjektiven gespielt, wie „goldbeglittert“ oder der „sonnenbesengte Himmel“.

Und das Schwierigste war, den Text im Deutschen mit seiner weit ausholenden Syntax und den oft längeren Wörtern wieder und wieder „verschlanken“ zu müssen, um die konzentrierte Dichte des Originals zu halten. Wie ich eingangs erwähnte, hat Baker selbst das Manuskript extrem stark komprimiert. Hier zeigt sich besonders, was für ein Glück es war, dass sich zwei Übersetzer, die ihre Zusammenarbeit zu der Zeit schon an zwei Romanübersetzungen erprobt hatten, die kreativen Köpfe zerbrechen; vier, fünf, sechs Mal gehen die Textvarianten zwischen beiden hin und her, wird gegengelesen, verworfen, gestrichen, komprimiert, bis die schließlich endgültige Form gefunden ist. „Pflügen und Verdichten“ nennen die beiden selbst dieses Verfahren – erst werden die Sprachfelder aufgepflügt, um sie dann immer mehr zu verdichten. Auch der Klang und der Rhythmus des deutschen Textes spielen dabei für Frank Sievers und Andreas Jandl, die große Freude am Darstellen, an szenischen Lesungen und Übersetzerperformances haben, eine bedeutende Rolle. Aufwendig und fordernd ist diese Arbeitsweise, nach Baker sei alles einfacher, sagen sie. Und der ökonomische Hintergrund des Im-Duo-Arbeitens, die Annahme nämlich, dass dabei Zeit und somit Geld zu sparen wäre, ist dann gar nicht mehr wichtig! Denn hier kommt noch etwas ins Spiel, was den exzellenten, von seiner Sache beseelten Übersetzer ausmacht: die Leidenschaft, ohne die man solche Bücher schlicht nicht übersetzen kann und die beide auszeichnet!

Allerdings müssen auch Übersetzer leben, und deshalb sind Übersetzerpreise auch in diesem Sinne durchaus wichtig!

Jeder der beiden übersetzt seit 11 bzw. 15 Jahren Literatur, Sachbücher, auch Theaterstücke aus dem Französischen und Englischen, Andreas Jandl zudem Jugendliteratur, jeweils mit einer beachtlichen Publikationsliste. Als Duo sind sie inzwischen ausgewiesene Übersetzer von Naturbeschreibungen. Baker war ihre erste! In der großartigen Reihe Naturkunden des Verlags Matthes & Seitz Berlin erschienen inzwischen in gemeinsamer Übersetzung Robert Macfarlanes Karte der Wildnis (2015) und Alte Wege (2016) wie auch Roger Deakins Logbuch eines Schwimmers (2015) und bald dessen Ode ans Holz (2017), allesamt aktuelle und beredte Zeugnisse des Genres Nature Writing, Naturbeschreibung.

Das Politische!

Einen „der drängendsten Konflikte unserer Zeit“ nennt der Philosoph Jürgen Goldstein, der zur Geschichte der Naturwahrnehmung forscht, die zunehmende Zerstörung der Natur. Er betont, diese stehe „in einem engen Zusammenhang mit der Art und Weise, wie wir über Natur sprechen und somit denken“. Es findet in der Sprache statt! Deshalb sind Reihen wie die Naturkunden, die laut Verleger Andreas Rötzer zur „Korrektur unserer Wahrnehmung“ beitragen sollen, auch von eminenter Bedeutung. Und es freut mich, dass der hochdotierte Christoph-Martin-Wieland-Übersetzerpreis dieses Jahr im Zeichen der „Naturbeschreibung“ steht! Helga Pfetsch und dem Freundeskreis zur Förderung literarischer und wissenschaftlicher Übersetzungen ist dafür zu danken.

Eine wichtige, eine wunderbare Übersetzung! Ich gratuliere Ihnen, lieber Andreas Jandl und lieber Frank Sievers, von Herzen zu diesem überaus verdienten Preis und freue mich mit Ihnen!

Biberach, den 28. September 2017

Dankesreden zum Christoph-Martin-Wieland-Übersetzerpreis

Andreas Jandl:

Sehr geehrte Frau Staatssekretärin, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, sehr geehrte Frau Bönsch, liebe Helga Pfetsch, liebe Karin, lieber Frank, sehr geehrte Damen und Herren,

Am Hieronymustag 2015, dem internationalen Übersetzertag, der am 30. September gefeiert wird, haben wir uns aufgemacht zu einer einwöchigen Reise nach England, um die Landschaften der von uns übersetzten Naturkunden-Bücher zu besuchen. Das war uns möglich dank eines Reisestipendiums des Deutschen Übersetzerfonds.

Am 3. Oktober waren wir an der Küste von Essex, nahe der kleinen Stadt Maldon, südlich der Mündung des Blackwater in die Nordsee, auf der Halbinsel Dengie, an der Kapelle Saint-Peter-on-the-Wall, am Ende der zivilisierten Welt, und schauten über eine Böschung auf einen Acker, die dahinterliegende Marsch und die Weite des Meeres. In Schichten feiner Farbabstufungen lag die Landschaft vor uns, und Frank las aus dem Wanderfalken von J.A. Baker den Tagebucheintrag zum 3. Oktober vor. Wir waren erstaunt, wie sehr sich die Atmosphäre von Buch und Landschaft glichen. Am späteren Vormittag, bei steigendem Wasser, fielen sogar Gewehrschüsse.

Frank Sievers:

Wir beschlossen, eine Wanderung zum Mündungsgebiet des Blackwater zu machen. Aufklarende Sonne, rotleuchtende Beeren über saftigem Grün, Röhricht und Schilf, über den Böschungen ein Blick auf eine sanftmütige Landschaft aus grünen und ockernen Feldern.

Plötzlich standen wir vor einem Schild mit der Aufschrift: „Mundon Wash Sluice“. Wir hatten ein Wort aus dem Peregrine gefunden! Tagelang hatten wir uns daheim den Kopf zerbrochen, was dieser „sluice“ ist. Im Englischen ist es mehrdeutig, Damm oder Graben, und wir hatten partout nicht herausfinden können, was gemeint war, durch keine Internetrecherche, Bildersuche, Befragung von Muttersprachlern und Überfliegen von Google Earth. Aber jetzt wussten wir: Es war ein Entwässerungsgraben, der die Feldkanten entlang bis in den Blackwater führt.

Mittags sind wir schließlich weitergefahren – leicht enttäuscht –, weil wir keinen Wanderfalken gesichtet hatten. Aber dann, wir waren gerade aus Bradwell-on-Sea hinausgefahren:

„Um zwölf Uhr sahen wir einen Wanderfalken, der nahe vor uns im Auftrieb segelte, ohne mit den Flügeln zu schlagen. Nach einer Weile gesellte sich eine Falkin zu ihm, und sie formten gemeinsame Achten, indem sie ihre Kreise gleichsam tangential aneinanderlegten. Wie ein Tanz, wie ein Frage-und-Antwort-Spiel, wie ein Liebesentzücken umwarben sie einander.

Das ganze Schauspiel dauerte vielleicht eine Viertelstunde, aber es hatte eine tiefe Wirkung auf mich. Es kam mir vor, als hätten wir stundenlang in den Himmel gestarrt.“

*

Als ich The Peregrine zum ersten Mal las, betörte und befremdete mich das Buch. Es löste in mir Begeisterung und ebenso große Angst aus. Und als ich die ersten Seiten übersetzte, dachte ich: Das schaffe ich nicht. Für dieses Buch gibt es im Deutschen keine Sprache.

Erst sehr allmählich entwickelte sich ein Stil, und ich begann zu ahnen, dass dieser befremdende, betörende Text auch auf Deutsch funktionieren kann. Schließlich schickte ich meine erste Fassung, die ich für sehr gelungen hielt, an Andreas.

*

Eigentlich kann es nicht funktionieren: Zwei grundverschiedene Übersetzungsansätze, zwei grundverschiedene Übersetzertypen – hier die barocke, ausladende Sprache, die das Pathos nicht scheut und in die Hinterzimmer der deutschen Sprache steigt – dort die schlichte Eleganz, das stilsichere Vermeiden von Klischees, das umsichtige Jonglieren mit Wörtern und Wendungen –, aber genau aus dieser explosiven Mischung entstehen unsere Texte.

Dabei geht es nicht nur darum, dass zwei Menschen mehr Ideen haben als einer, sondern vor allem darum, dass aus dem gemeinsamen Diskutieren und Fabulieren völlig neue Lösungen entstehen.

*

Ein Beispiel, wie sich unsere Übersetzung im Laufe dieses Hin und Her gewandelt hat. Es ist die Stelle, wo das Wanderfalken-Männchen zum ersten Mal Beute reißt:

(Legende: Fett Änderung; # Inversion; Ø Streichung)

1. Fassung
Etwas sauste hinter dem Häher vorbei, der plötzlich in der Luft zu stolpern schien.

Die Eichel flog ihm aus dem Schnabel wie ein Korken aus einer Flasche. Der Häher geriet seitlich ins Fallen, als hätte er einen Anfall. Er zerschellte am Boden.

28 Wörter, 161 Zeichen

2. Fassung
Etwas sauste hinter dem Häher vorbei, der plötzlich in der Luft zu stolpern schien.

# Wie ein Korken Ø ploppte die Eichel aus seinem Schnabel. Der Häher geriet seitlich ins Fallen und drosch nieder, als hätte er einen Anfall. Der Boden machte ihm den Garaus.

29 Wörter, 170 Zeichen

Letzte Fassung
Etwas sauste hinter dem Häher vorbei, der plötzlich in der Luft zu stolpern schien.

Wie ein Korken ploppte die Eichel aus seinem Schnabel. Der Häher geriet seitlich ins Fallen und schlug nieder, als hätte er einen Anfall. Der Boden brachte ihm den Tod.

29 Wörter, 169 Zeichen

Original
Something blurred and hissed (verwischte und zischte) behind the jay, which seemed suddenly to trip and stumble (strauchelte und stolperte) on the air.

The acorn spurted out of its bill, like the cork out of a bottle. The jay fell all lopsidedly and threshing, as though it were having a fit. The ground killed it.

31 Wörter, 161 Zeichen

Der erste Satz ist bis zum Ende gleichgeblieben. Dann die drei Sätze, die sich geändert haben:

„Die Eichel flog ihm aus dem Schnabel wie ein Korken aus einer Flasche.“ Das ist faktisch richtig. „The acorn spurted out of its bill, like the cork out of a bottle.“ Im Englischen gibt es diesen Knalleffekt bei „bill, like“. Ähnliches gelingt uns dann durch eine Inversion: „# Wie ein Korken Ø ploppte die Eichel aus seinem Schnabel.“ Gestrichen: „aus einer Flasche“. So hat der Satz das gleiche Scharnier („bill, like“ – „ploppte“) und mit 19 Silben nur 2 Silben mehr als das Original.

„Der Häher geriet seitlich ins Fallen, als hätte er einen Anfall. Er zerschellte am Boden.“ Die Nähe von „Fallen“ und „Anfall“ lässt den Satz klappern. Außerdem haben die drei ersten Sätze in der 1. Fassung alle den annähernd gleichen Rhythmus. Es fehlt uns hier das „threshing“:

„Der Häher geriet seitlich ins Fallen und drosch nieder, als hätte er einen Anfall.“ Hier erleben wir unmittelbar im Satz, durch Rhythmus und Klang, wie der Häher zu schlingern beginnt, und zwar in voller Fahrt.

„Der Boden machte ihm den Garaus.“ – „The ground killed it.“ Ein bei Baker häufiges Verfahren, die Perspektive zu wechseln. Der Boden ist aktiv. „Er zerschellte am Boden“ würde der Besonderheit des Satzes also nicht gerecht. „machte ihm den Garaus“ wiederum legt eine martialische, dramatische Note in den Satz.

In der letzten Fassung ist all das dann wunderbar austariert: „Der Häher geriet seitlich ins Fallen und schlug nieder, als hätte er einen Anfall. Der Boden brachte ihm den Tod.“

„niederschlagen“ hat eine ähnliche Wucht wie „niederdreschen“, lässt den Häher aber weit unkontrollierter aussehen. „brachte ihm den Tod“ kann man dann im Kontext des Absatzes sehr schön aktivisch lesen, so als hätte der Boden eine Gabe, die er dem Häher darreicht.

*

Dabei geht die Auseinandersetzung nicht selten bis zur Halsstarrigkeit.

*

Für mich persönlich ist unsere Übersetzung des Wanderfalken auch deshalb besonders, weil es die erste gemeinsame Arbeit nach mehreren Jahren ist, in denen jeder seine eigenen Wege gegangen ist und wir uns fast aus den Augen verloren haben. Und es war der Auftakt einer Reihe von Übersetzungen für die Naturkunden von Matthes & Seitz, die allesamt das größte Vergnügen bereiten.

*

Nach dem Wanderfalken fiel es mir schwer, noch Romane zu lesen, weil mir darin plötzlich alles vulgär erschien: Dieses Buch war gleichsam eine Purifikation. Es geschieht scheinbar nichts – oder wenig. Tatsächlich aber geschieht sehr viel, auch die Tiere und die Landschaften handeln, nur auf eine Weise, die für uns kaum wahrnehmbar ist und die Baker so feinsinnig herausgearbeitet hat. Und was ich besonders am Wanderfalken mag, sind die neuen Wortverbindungen, die der detailgenaue Blick uns schenkt: den flügelverhangenen Himmel und die laublodernden Horizonte, die grabsteinweißen Gesichter, den wasserschweren Flug und den herabsäbelnden Himmelssturz.

*

Das Buch hat meinen Blick in den Himmel verändert.

*

Zuletzt möchte ich einigen Kolleginnen und Kollegen, Übersetzerinnen, Dozenten, Buchenthusiasten und Autoren, danken, von denen ich viel gelernt und denen ich viel zu verdanken habe:

Andreas Rötzer, Bärbel Flad, Christiane Buchner, Christian Hansen, Frank Heibert, Jürgen Dormagen, Katja Lange-Müller, Kristian Lutze, Mona Wodsak, Niki Théron, Rosemarie Tietze, Svenja Becker – die heute Abend hier ist –, und Thomas Brovot.

Andreas Jandl:

Dankesrede binär

Seeadler: nein
Steinadler: nein
Fischadler: nein
Mäusebussard: nein
Wespenbussard: nein
Bienenbussard: nein
Habicht: nein
Sperber: nein
Rohrweihe: nein
Kornweihe: nein
Merlin: nein
Milan: nein
Rotfußfalke: nein
Baumfalke: nein
Turmfalke: nein
Wanderfalke: ja.

Maker: nein
Taker: nein
Faker: nein
Waker: nein
Quaker: nein
Baker: ja.

Matthes zu Seitz: nein
Matthes oder Seitz: nein
Matthes nach Seitz: nein
Matthes minus Seitz: nein
Matthes and Seitz: no
Matthes und Seitz: ja.

Erdkunden: nein
Bodenkunden: nein
Laufkunden: nein
Wappenkunden: nein
Staatsbürgerkunden: nein
Stammkunden: nein
Schreckse-kunden: nein
Lebenskunden: nein
Sachkunden: nein
Pflanzenkunden: nein
Naturkunden: ja.

Frank Sinatra: nein
Frank Zappa: nein
Frank Schätzing: nein
Frank Schirrmacher: nein
Frank Castorf: nein
Frank A. Potente: nein
Frank Sievers: ja.

Freundeseck: nein
Freundesquader: nein
Freundespyramide: nein
Freundeshexagon: nein
Freundesoktaeder: nein
Freundesrund: nein
Freundeskreis: ja.

Else-Otten-Preis: nein
Helmut-M.-Braehm-Preis: nein
Johann-Heinrich-Voß-Preis: nein
Eugen-Helmlé-Preis: nein
Hamburger Übersetzerpreis: nein
Münchner Übersetzerpreis: nein
Hermann-Hesse-Preis: nein
André-Gide-Preis: nein
Christoph-Martin-Wieland-Übersetzerpreis: ja.

Sachsen: nein
Mecklenburg-Vorpommern: nein
Bremen: nein
Berlin: nein
Rheinland-Pfalz: nein
Hessen: nein
Schleswig-Holstein: nein
Saarland: nein
Baden-Württemberg: ja.

Danke Punkt: nein
Danke Komma: nein
Danke Semikolon: nein
Danke Gedankenstrich: nein
Danke Fragezeichen: nein
Danke Ausrufezeichen: ja.