Brücke Berlin an Natia Mikeladse-Bachsoliani

Zaza Burchuladze und Natia Mikeladse-Bachsoliani Foto © Tobias Bohm

Brücke Berlin an Natia Mikeladse-Bachsoliani

(Dies ist die ungekürzte Fassung der Laudatio, die in Übersetzen Heft 01/2019 in Auszügen abgedruckt ist.)

Laudatio zur Verleihung des Brücke Berlin Literatur- und Übersetzerpreises 2018 an den georgischen Autor Zaza Burchuladze und an seine Übersetzerin Natia Mikeladse-Bachsoliani

 

Guten Abend, meine Damen und Herren,

und willkommen in Berlissi, dem janusköpfigen, vielgestaltigen Ort, den Zaza Burchuladze mit seinem Nervensystem erschafft und schreibend kartografiert – teils Höllenkreis, teils verlorenes Paradies. Ein so realer wie imaginärer Raum, der vom Nordosten zum Südosten Europas reicht und darüber hinausweist, “eine Mischung, ein kälteres Tbilissi, ein wärmeres Berlin”.

Es heißt, bevor sie zur exakten Wissenschaft wurde, sei die Kartografie eine Kunst gewesen, die Wissen und Erfindungsgabe verband, Beobachtung und Fabulierlust, Staunen und Erinnerung, eine Kunst, die sowohl Ängste als auch Sehnsüchte aufs Papier bannte.

So gesehen, führt Zaza Burchuladze diese altehrwürdige Kunst in seinem jüngsten Werk fort. Es trägt den schönen Titel Touristenfrühstück, der auf Anhieb eine Fülle von Assoziationen auslöst, auch dann – oder erst recht -, wenn man gar nicht weiß, dass es zu Sowjetzeiten eine Billigmarke für Dosenheringe war.

Das Touristenfrühstück, das der Autor uns hier serviert, düfte um einiges nahrhafter und genussreicher sein. Es lässt sich zunächst einmal leicht verspeisen, so ansprechend, wie es zubereitet ist (hier ist bereits die erste Würdigung der Übersetzerin fällig); es enthält eine Fülle von anregenden Zutaten, die uns mal mehr, mal weniger vertraut erscheinen, sich dabei zu einem einzigartigen Ganzen fügen und einen schwer zu fassenden Nachgeschmack hinterlassen. Food for thoughts – Gedankennahrung in Hülle und Fülle.

Auf den ersten Blick folgen wir hier nämlich einem Erzähler, der hier und da durch Berlin flaniert – Humboldthain, Kastanienallee, Friedrichstraße, Kreuzberg -, zum Arzt geht, ein Buch kauft, sein Töchterchen auf den Spielplatz begleitet und diesen Alltag in Notizen festhält. So einfach – so trügerisch.

Es beginnt mit der Figur des Erzählers: Er ist dem Autor Zaza Burchuladze zum Verwechseln ähnlich – Name, Lebensumstände, Beruf, alles, (fast) alles stimmt überein. Das gilt auch für die äußere Erscheinung, den kahlgeschorenen Kopf, der schon früh zum Markenzeichen wird, der in den Augen seiner Ehefrau offenbar Coolness und Führungsqualitäten signalisiert und seinen Lektor an den schillernden Walter White aus der Serie Breaking Bad erinnert. Für den Erzähler hingegen ist es eine Art von selbsttherapeutischer Maßnahme, wenn er “morgens das Rasiermesser anlegt”. Das ist so eine Stelle, wo einem beim Lesen der Atem stockt und die Achtsamkeit schlagartig zunimmt, um möglichst keine der existenziellen Spuren zu übersehen, die Zaza Burchuladze oft so unauffällig wie spielerisch legt. Wobei die Identität beziehungsweise Nichtidentität von Autor und Erzähler nicht letztgültig zu klären ist. Schließlich hat sich der reale Zaza Burchuladze schon vor vielen Jahren eine durchaus medienwirksame Persona mit diesem Namen geschaffen, ist also gewissermaßen als fiktiver Doppelgänger seiner Selbst öffentlich in Erscheinung getreten. Eine bessere Tarnung ist kaum vorstellbar. Und doch hat sie den Autor in seiner georgischen Heimat nicht vor Anfeindungen schützen können, die immer lebensbedrohlichere Züge angenommen haben. Wenn man sich vor Augen führt, dass ihn sogar der damalige Staatspräsident Saakaschwili zur besten Sendezeit im Fernsehen angegriffen hat, verwundert es nicht, dass religiöse Fanatiker seine Bücher verbrannten und er von einem Schlägertrupp praktisch ins Exil getrieben wurde. Und der Anlass für derlei Hetze? Die schonungslose Aufrichtigkeit des Schriftstellers – sich selbst und allen anderen gegenüber.

Diese Aufrichtigkeit mag ein Grund sein, warum auch die Gattungszugehörigkeit von Touristenfrühstück nicht so leicht zu bestimmen ist. Es wird als Roman deklariert, präsentiert sich jedoch in Form eines Tagebuchs, mit typisch fragmentarischem Charakter, essayistischen Passagen, poetologischen Reflexionen, aber-witzigen Anekdoten (zum Beispiel der Besuch einer traditionellen georgischen Totenwache mit dem französischen Regisseur Leos Carax, der zu einem absurd komischen Drogentrip mutiert), mit wilden Gedankensprüngen, die vom Kaukasus zum Kafkasus führen – die Bezeichnung für Prag in Burchuladzes Kartografie -, dazu Titel von Büchern und Filmen, die allesamt Türen zu immer neuen Assoziationsräumen öffnen, und, zunehmend, Erinnerungen. Berlin ist dann nur noch “die Beschichtung über der Losnummer”, man rubbelt ein bisschen, schon kommt Tbilissi zum Vorschein, Stadt der Rosen und der Sonne, aber auch immer wieder Stadt unter Beschuss – unser Erzähler weiß, wie sich das anfühlt.

Ohnehin führt er eine zutiefst gefährdete Existenz. An Hepatitis C erkrankt, trägt er den (O-Ton) “sanften Killer” in sich, wenn er durch Berlin spaziert und seine Erinnerung ihn – gegen seinen Willen – nach Tbilissi katapultiert, immer weiter zurück, bis in die Zeit seiner Kindheit, bis in die Sowjetunion, wo er sich früh in Empathie übte: Er, der als Enkel eines privilegierten Funktionärs regelmäßig Kaviar und Trüffeln zu essen bekam, schlich sich lieber in die Arbeitergaststätte, um dort von allen Gerichten zu kosten und sich in seine unbekannten Mitmenschen hineinzuversetzen. Da zeigen sich bereits Neugier und Forscherdrang des künftigen Schriftstellers, der schon immer “jemand anderes” sein wollte, da zeigt sich vor allem seine Wunschvorstellung des Nomadentums: Das Herumtreiben “in anderen Menschen”, nicht unbedingt an anderen Orten.

Doch nun ist er in Berlin, wähnt sich frei von jeder Nostalgie für seine Heimat, deren Tradition des Leidens und Duldens er selbst vehement ablehnt. Und sieht trotzdem “immer häufiger Tbilissi und die Tbilisser” vor sich, Zukunftsangst und Melancholie brechen immer stärker durch. Darin meint er eine Schwächung seines Immunsystems zu erkennen – eine Nebenwirkung der Medikamente, die er gegen den “sanften Killer” einnimmt. Wir erkennen darin die Hellsichtigkeit eines Leidenden. Der Ausnahmezustand schärft die Wahrnehmung, auch und gerade nach innen, und fördert im wahrsten Sinne Unvergessliches zutage. Am Ende einer “sentimentalen Reise in die Vergangenheit”, die der Erzähler “mit einer Zeitbombe im Leib” angetreten ist, langt er beim Geschmack seiner Kindheit an. Ein Geschmack, der sich hoffentlich als heilsam erweisen wird.

Dass die Arbeit der Erinnerung Weltliteratur schafft, steht jedenfalls außer Zweifel, und das gilt auch für diesen äußerlich so schmalen Band, gar nicht viel größer als ein Pass, in dem aber Platz ist für unzählig viele Welten. Und für gleich mehrere Romane, um die Frage von vorhin wieder aufzunehmen: Touristenfrühstück ist ein Exilroman, der uns am schmerzlich erhellenden Erkenntnisprozess des Exilanten teilhaben lässt. Ein Liebesroman, ja eine Liebeserklärung an Kind und Frau, an Berlissi, an das Leben, den Film und die Literatur. Und nicht zuletzt ein Künstlerroman, dessen Verfasser “in einem Land der Worte zur Welt gekommen und aufgewachsen” ist und sich selbst – in Anlehnung an den Slogan eines Berliner Gebrauchtkleiderhandels – gern als FIRST CLASS SECOND HAND AUTOR bezeichnet.

An einer Stelle sinniert dieser Autor darüber, dass manche Ursprungswerke – wie Alphonse Allais‘ “Trauermarsch” – weitgehend unbekannt bleiben, während die Version eines anderen – zum Beispiel “4’33” von John Cage – Weltberühmtheit erlangt. Dass wir das ursprünglich auf Georgisch verfasste Touristenfrühstück mit solchem Genuss und solchem Gewinn in der deutschen Version lesen, ist seiner Übersetzerin Natia Mikeladse-Bachsoliani zu verdanken.

Mit ihrer Sprache erzeugt sie jene unmittelbare Wirkung, die diesen Text so wahrhaftig und zugleich verführerisch macht, sie trifft den richtigen Ton, wenn intimste Details mit größter Selbstverständlichkeit preisgegeben werden, sie weiß genau, wie sie den Grad von Emotionalität oder Emphase dosieren muss, damit kein falscher Eindruck von Pathos oder Schwulst entsteht. Beides ist dem Autor völlig fremd, könnte aber bei einer wortwörtlichen Übertragung entstehen, weil die georgische Sprache offenbar deutlich mehr Emphase transportiert und verträgt.

Erlauben Sie mir an dieser Stelle einen kleinen Exkurs: Um die Qualität einer Übersetzung zu beurteilen, brauche ich sie – anders als so oft behauptet – nicht Wort für Wort oder Zeile für Zeile mit dem Original zu vergleichen. Wenn die deutsche Fassung mir ein solches ästhetisches und intellektuelles Vergnügen bereitet, darf ich ihr voll und ganz vertrauen.

Natia Mikeladse-Bachsoliani, die Übersetzerin unseres Vertrauens, weiß nämlich auch, dass sie ihre deutsche Leserschaft nicht unterfordern muss, dass sie ihr ein gewisses Maß an Fremdheit zumuten kann – die Anmerkungen beschränken sich auf das Allernötigste -, ohne in Exotismen zu schwelgen.

Eine besondere Herausforderung, die wenig mit der georgischen Sprache, aber viel mit dem kosmopolitischen Geist, der stupenden Belesenheit Burchuladzes zu tun hat, meistert sie ebenfalls bravourös: Das Jonglieren und Puzzeln mit einer Fülle von mehr oder weniger expliziten Zitaten, die mit kunstvoller Beiläufigkeit in den Text integriert werden.

Sie ist nicht nur für uns, sondern auch für ihren Autor eine wunderbare Übersetzerin, denn sie vertraut selbst ganz und gar auf die Kraft seiner Bilder, auf die Tragfähigkeit seines Wort- und Weltengerüstes.

Und so danken wir beiden, Zaza Burchuladze und Natia Mikeladse-Bachsoliani, für das Touristenfrühstück, dem wir noch viele, viele Leser-Genießer wünschen.