(Hier folgt die ungekürzte Fassung der Laudatio, die in Übersetzen Heft 1/2025 in gekürzter Version abgedruckt ist)
Liebe Mascha, sehr geehrter Herr Staatsminister Blume, liebes Publikum,
bei der Vorbereitung auf diesen schönen Abend habe ich lange ungläubig auf das Geburtsdatum unserer – in jeder Hinsicht – ausgezeichneten Übersetzerin gestarrt, denn sie ist so jung, als Erscheinung und in ihrem Wirken, dass die Jahrzehnte ihr nicht anzumerken sind. Sie manifestieren sich aber in einem reichen Lebenswerk, literarisch wie kulturpolitisch, und von den heute Abend anwesenden Übersetzern und Übersetzerinnen gibt es wohl keine, mich eingeschlossen, die ihr nicht unendlich viel zu verdanken hat, sei es künstlerische Inspiration und Anleitung und/oder deutlich verbesserte Fördermöglichkeiten und Arbeitsbedingungen.
Umso größer unsere Freude – und hier schließe ich Andrea O’Brien und Thomas Weiler ein, die ebenfalls zur aktuellen Jury gehören –, Rosemarie Tietze dieses Arbeitsstipendium für eine ihrer charakteristischen Pioniertaten zusprechen zu können.
Denn sie übersetzt ja nicht nur seit vielen Jahren die ganz Großen der russischen Literatur – Puschkin, Dostojewski, Tolstoi, Nabokov, um nur einige der bekanntesten zu nennen –, sie entdeckt selbst immer wieder bedeutende Stimmen und Werke, die Verlagen im deutschsprachigen Raum entgangen sind. Diese Entdeckungslust, Überzeugungskraft und auch Beharrlichkeit haben tatsächlich ihre Karriere als Übersetzerin begründet, denn als sie anfing, schien niemand auf sie und ihre Trouvaillen gewartet zu haben.
Das ist heute unvorstellbar, aber wenn man weiß, dass Rosemarie Tietzes Weg zur russischen Sprache und Literatur möglicherweise schon in der Wiege begann, als ihre Familie 1945 erfuhr, dass ihr Vater dort drüben „im Krieg geblieben war“, wenn man weiß, dass sie mit dieser Sprache gewissermaßen eine Leerstelle besetzen sollte, die jener Krieg hinterlassen hatte, und dass sie schon Anfang der 1970er Jahre alles daran setzte, die aufregend eigenwillige zeitgenössische Literatur Russlands in den deutschsprachigen Raum zu vermitteln, mitten im Kalten Krieg und angesichts einer beispiellosen westlichen Ignoranz, kann man erst recht ermessen, wie sehr sie unsere Literaturlandschaft bereichert hat und weiterhin bereichert, beispielsweise mit den virtuos-subversiven Werken Andrej Bitows oder mit dem Roman „Getäuscht“ von Juri Felsen, für dessen Übersetzung sie heute das Arbeitsstipendium des Freistaats Bayern erhält.
Auf diesen herausragenden, lange vergessenen Autor, der zu Lebzeiten als russischer Proust galt und der in seinem Pariser Exil so produktiv war, bis die Nazis ihn 1943 nach Auschwitz deportierten und dort ermordeten, hatte Rosemarie Tietze bereits 2012 im Nachwort zu ihrer Übersetzung von Gaito Gasdanows Roman „Das Phantom des Alexander Wolf“ hingewiesen und an die vielen russischen Montparnassiens erinnert, die infolge von Gewaltherrschaft, Krieg und Vernichtung vergessen wurden. Mit der Zerstörung von Menschenleben ging schon immer die Zerstörung von Lebenswerken einher. Die Menschen lassen sich nicht wieder beleben, die Werke mit ein wenig Glück schon – wenn sie auf so entschlossene und beseelt-beseelende Vermittlerinnen treffen wie unsere Übersetzerin.
Heute, im Schatten eines neuen Krieges, der ausgerechnet vom kriegsgezeichneten Russland ausgeht, sagt Rosemarie Tietze – die trotz allem an den „Versuch von Verständigung und Austausch“ glaubt, dem sie ihr Leben gewidmet hat: „Die russische Literatur wird jetzt wieder sehr stark Exilliteratur sein.“ Und damit ermutigt sie uns alle, weiterhin neugierig zu sein, auf diese zu allen Zeiten, selbst die finsterster Tyrannei, reiche und vielfältige Literatur.
Neugierig bin ich jetzt persönlich auf die Fortsetzung von „Getäuscht“ – der Jury lagen ja lediglich eine Handvoll Seiten dieses Romans von 1930 auf Deutsch vor, aber was für Seiten, welch ein Deutsch! Gleich mit den ersten üppig verschachtelten, gedanken- und empfindungsreichen Sätzen gelangen wir in Kopf und Herz des Erzählers – und wollen gar nicht mehr heraus, so unmittelbar, atemlos, lebensprall wird hier erzählt. Und das liegt vor allem daran, dass sich in der Übersetzung von Rosemarie Tietze die „ästhetische Energie“ des Originals offenkundig überträgt, ein lebendiger Funke, ein ganzes Feuerwerk an Funken – mühelos überwinden sie die fast hundert Jahre, die zwischen der Erstausgabe des Originals und seiner Erstübersetzung ins Deutsche liegen.
Liebe Mascha: für Deine Meisterschaft und für Deine Pioniertaten, für Deinen gewaltigen Beitrag zur Verständigung über Zeit und Raum und ganze Abgründe hinweg wurdest Du schon vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Voß-Preis, dem Münchner Übersetzerpreis, dem Celan-Preis, dem Deutschen Sprachpreis, dem Verdienstkreuz 1. Klasse. Angesichts Deiner unermüdlichen Arbeit kann es aber gar nicht genug Preise geben – damit Du weitermachst, allen Anfechtungen der Zeit zum Trotz, und uns weiterhin mit Deinen Entdeckungen und Deiner unbeschreiblichen Sprachkunst beglückst.
Und so gratuliere ich, gratulieren wir von Herzen zum Arbeitsstipendium des Freistaats Bayern 2024.