Else-Otten-Preis an Christina Siever und Simone Schroth

(Hier folgt die ungekürzte Fassung der Ansprache, die in Übersetzen Heft 2/2024 in gekürzter Version abgedruckt ist)

Leipzig, den 23.4.2024 – Buchmesse, Übersetzungszentrum

Liebes Publikum,

als die ersten Buchausgaben von Etty Hillesum in den achtziger Jahren in den Niederlanden erschienen, war das eine regelrechte Sensation. Jeder las ihre Bücher, auch ich. Und die Sensation war international, bald sahen Übersetzungen das Licht, darunter eine französische, wofür der junge und noch nicht renommierte Philippe Noble verantwortlich war. Une vie bouleversée erschien 1985 und nicht lange Zeit danach zeigte der Übersetzer sich unzufrieden. Er hatte bemerkenswerte stilistische Eigenschaften bei der noch so jungen Autorin entdeckt, unterschiedliche Stilregister und mehr Wechselhaftes im Denken und Schreiben. Noble war inzwischen von der großen Bedeutung Etty Hillesums überzeugt und es gelang ihm, nach einer scharfen Selbstkritik, eine Neufassung zu publizieren. Und jetzt erscheint eine neue deutsche Übersetzung – von den zwei jungen Übersetzerinnen – die dafür den Else-Otten-Preis 2023 bekommen. Die Jury – Bärbel Jänicke, Bettina Baltschev und ich – begründen ihre Wahl folgendermaßen:

‚Mit Ich will die Chronistin dieser Zeit werden. Sämtliche Tagebücher und Briefe. 1941-1943 haben Christina Siever und Simone Schroth ein international anerkanntes Standardwerk der jüdischen Erinnerungskultur exzellent übersetzt, dessen besondere Bedeutung in den letzten Jahrzehnten glücklicherweise zunehmend erkannt wurde. Beispielhaft hingewiesen sei auf die vermutlich erstmalige Beschreibung des Durchgangslagers Westerbork durch Etty Hillesum (1914-1943). Hier erweist sich dieses Werk nicht nur als persönliches, sondern auch als kulturhistorisch unverzichtbares Dokument.

Tja – Westerbork. Wenn ich es richtig verstehe, war dieser Ort – nun ein Brennpunkt jüdischen Leidens – vier Jahre zuvor noch wüst und leer, und der Geist des Justizministeriums schwebte über der Heide. (…) Es gibt Schlamm, so viel Schlamm, dass man irgendwo zwischen den Rippen schon sehr viel innerlichen Sonnenschein besitzen muss, wenn man nicht das psychologische Opfer dieses ganzen Schlamms werden will. (Die Sache mit den kaputten Schuhen und nassen Füßen begreifen Sie natürlich ohne weitere Erklärung.)

… schreibt Etty Hillesum im Dezember 1942 an zwei Schwestern in Den Haag, in einer Übersetzung, die von wohlüberlegtem Sprachgefühl und sowohl literarischer als auch historischer Expertise zeugt. Christina Sievert, die die Tagebücher übersetzt hat, und Simone Schroth, die für die Übertragung der Briefe Etty Hillesums verantwortlich ist, zeigen sich auf jeder Seite dem besonderen Schwierigkeitsgrad des Textes außerordentlich gut gewachsen und finden einen gemeinsamen Ton, der den unterschiedlichen Genres von Briefen und Tagebüchern jederzeit gerecht wird. Verfügte die junge Autorin doch über einen sehr persönlichen, sehr prägnanten Stil, der eigene Wortschöpfungen und fragmentarische Sätze umfasst, dessen Ausdruck mal blumig und schwärmerisch, mal tiefsinnig und nachdenklich ist. Einerseits sind die Tagebücher und die Briefe an vielen Stellen von heftigen Gefühlen durchdrungen und war sich Etty Hillesum jederzeit der Fragilität der menschlichen Existenz bewusst, andererseits artikulierte sie immer wieder ihr großes Wissen über religiöse und philosophische Fragen. Diese hohe Spannung zwischen den Perspektiven, der permanente Wechsel zwischen Privatheit und Weltgeschehen, bleibt auch im Deutschen erhalten. So wird die außergewöhnliche Persönlichkeit der Autorin für die Leser:innen nicht nur erfahrbar, sondern nachfühlbar. Sprachliche Eigenheiten Etty Hillesums wurden nicht geglättet, sondern behutsam und mutig zugleich übertragen, der reiche niederländische Wortschatz der Autorin mit ebenso reichem deutschen Vokabular übersetzt. Auch damit wird die hohe literarische Qualität des Ausgangstextes unterstrichen und bewahrt, wie ein weiteres Zitat beweist:

Zwischen meiner Schreibmaschine, einem Taschentuch und einer Spule schwarzem Garn verwelkt meine Teerose. Sie ist schon fast unerträglich schön und zart. In einem sanften, schicksalsergebenen Verwelken scheidet sie allmählich aus diesem kurzen, kalten Leben. Sie ist so zart, so anmutig und von einer solchen Grazie in ihrem langsamen Erlöschen, es bricht mir fast das Herz. Man sollte auch so eine Teerose in Ruhe sterben lassen, statt sie leidenschaftlich und verzweifelt zurückhalten zu wollen. Früher konnte ich angesichts einer verwelkenden Blume untröstlich und unvorstellbar unglücklich sein. Aber man muss auch lernen, das Verwelken in der Natur ohne Widerstand zu akzeptieren. Und wissen, dass es immer wieder ein neues Blühen geben wird.‘

Eine Zwischenbemerkung meinerseits: ich kann inzwischen dieses Fragment nicht mehr anders lesen als symbolisch – Etty als Teerose, die Teerose als Etty.

Zum Schluss noch die letzten Sätze der Jury: ‚In einem erhellenden Nachwort machen Christina Sievert und Simone Schroth zudem ihre Vorgehensweise transparent. Sie erklären und begründen die Wege ihrer Recherche, legen die Quellen ihrer Übersetzung offen und liefern für deutsche Leser:innen notwendige Erläuterungen, die die niederländische Ausgabe vortrefflich ergänzen. Dass das Buch sorgfältig ediert und lektoriert wurde, mag nicht allein das Verdienst der Übersetzerinnen sein, soll hier aber ebenfalls hervorgehoben werden. Dass der deutschsprachigen Leserschaft achtzig Jahre nach der Ermordung Etty Hillesums im Konzentrationslager Auschwitz eine zuverlässige Gesamtausgabe vorliegt, ist von unschätzbarem Wert.‘

Ton Naaijkens