(Hier folgt die ungekürzte Fassung der Laudatio, die in Übersetzen Heft 2/2024 in gekürzter Version abgedruckt ist)
Laudatio Ki-Hyang Lee, 20. März 2024
von Marie Schmidt
Ki-Hyang Lee tänzelt mit ihrer Übersetzung der Geschichten von Bora Chung an einem Abgrund.
Diese Geschichten spielen in einer zum Teil hochtechnisierten, modernen Welt, in der zugleich uralte Gespenster leben und gnadenlose Flüche wirken.
Ki-Hyang Lee findet unterschiedliche Sprachregister um uns die gegensätzlichen Atmosphären dieser Erzählungen so stark spüren zu lassen, dass wir jederzeit bereit sind zu glauben, was Bora Chung erzählt: Dass sich zwischen der modernen Vernunft und dem Wissen der Alten die Finsternis auftut. Dass dort die gestaltlosen Monster hausen, die Urängste Wirklichkeit werden. Besonders Urängste disziplinierter Frauen sind das: vor dem Fremden, dem Unheimlichen, das der eigene Körper hervorbringt.
In der Sprache, die Ki-Hyang Lee diesen Texten verleiht, haben sie eine zitternde Offenheit für das Neue und Unerwartete. Das Niedliche und das Widerliche kommen uns daraus entgegen. Wir erleben die Liebe, wie sie sich in einer nahen Zukunft womöglich anfühlen wird und haben plötzlich dieses merkwürdige alte deutsche Lied im Ohr:
Wenn ich mir was wünschen dürfte,
Käm ich in Verlegenheit,
Was ich mir denn wünschen sollte,
Eine schlimme oder gute Zeit.
Denn diese Geschichten haben, so sehr sie von allgemeinmenschlichen Ängsten handeln, ihre festen kulturellen Orte, vor allem in Südkorea.
Aber auch in Mitteleuropa, auf dem viereckigen Platz im Zentrum einer polnischen Kleinstadt mit der Statue eines Dichters der Romantik in der Mitte zum Beispiel.
Übersetzen bedeutet dabei auch von beweglichen Standpunkten aus zu denken, was nah und was fern, was selbstverständlich und was fremd ist. In diesem Buch werden Fremdsprachen gesprochen und die Übersetzung spielt mir ihrer Rolle.
Diesen fabelhaften Erzählungsband, der seine Karriere in der englischsprachigen und anderen Teilen der Welt schon gemacht hat, bringt Ki-Hyang Lee nun einer deutschsprachigen Leserschaft nahe.
Wie sie überhaupt mit ihren Übersetzungen unermüdlich dafür sorgt, dass wir hier ein Bild davon haben, wie beneidenswert reich die südkoreanische Gegenwartsliteratur ist.
„Der Fluch des Hasen“ hat uns das Fürchten gelehrt mit den unvertraut vertrauten Stimmen, die Ki-Hyang Lee ihren Figuren und Erzählerinnen verleiht.
Mit ihrem Ton im Ohr rechnet man mit den Monstern an jeder Ecke. Man öffnet die Tür zu einem dunklen Zimmer oder den Toilettendeckel zuhause irgendwie anders, nachdem man dieses Buch gelesen hat.
Man achtet mit neuer Aufmerksamkeit auf die Welt.
Liebe Ki-Hyang Lee, ich gratuliere Ihnen zum Preis der Leipziger Buchmesse.