(Dies ist die ungekürzte Fassung der Dankesrede, die in Übersetzen Heft 01/2019 in Auszügen abgedruckt ist.)
Paul-Celan-Preis, 11.10.2018, Dankrede Thomas Brovot
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, Freunde der Literatur.
Der Literatur. Ich komme später darauf zurück.
Mindestens so groß wie die Freude über den Paul-Celan-Preis ist für mich, dass die Jury unter meinen Übersetzungen ein Buch hervorhebt, das mich seit den Anfängen meines Übersetzerdaseins begleitet: Juan Goytisolos Reise zum Vogel Simurgh.
Auf der Suche nach einem Übersetzer für eine Passage dieses Buchs, die im Schreibheft erscheinen sollte, landete zu Beginn der Neunzigerjahre der Publizist Hans-Jürgen Schmitt, nachdem offenbar nicht wenige Kollegen abgewinkt hatten – von wegen: „Das tu ich mir nicht an“ –, bei mir, dem No name, der seine Begeisterung für Goytisolos Prosa irgendwo mal zu Protokoll gegeben hatte. Schon während des Studiums hatte ich mich im stillen Kämmerlein übersetzend an einem Roman von Goytisolo versucht: Das kann doch nicht sein, da liest man ein Buch, versteht wenig bis nichts und findet es trotzdem toll! Das Ergebnis dieses Versuchs ist glücklicherweise verschollen, aber seither ist dieser ständige Stachel des übersetzerischen Verstehenwollens, der übersetzerischen Aneignung in mir.
Es hat viele Jahre gedauert, bis ich für den Suhrkamp Verlag, für den ich seit damals übersetze und wo ein großer Teil von Goytisolos Werk auf Deutsch erschienen ist, auch mal gängigere Kost übersetzen durfte, einträglichere auch, zumindest ein bisschen. (In Klammern gesagt: Geld spielt für Übersetzer-Sternchen-innen eine Rolle.)
Kennengelernt habe ich Juan Goytisolo 1993 in Berlin, er kam wie immer in Begleitung eines seiner literaturfernen Freunde, eines stämmigen türkischen Ringers aus Izmir mit strahlendem Gebiss, die Zähne aus Gold. Nach einer kurzen Verwunderung des Autors – er hatte nicht mit einem so jungen Übersetzer gerechnet, seine ersten Bücher waren auf Deutsch schon erschienen, als ich noch nicht mal auf der Welt war –, nach einer kurzen Verwunderung sagte er mir gleich, wie viel ihm daran liege, mit „seinen“ Übersetzern in Kontakt zu sein. Und tatsächlich scharte er, der ganz und gar nicht zu den geselligen Zeitgenossen gehörte, sie um sich, verpflichtete Literaturveranstalter auch schon mal, doch bitte schön auch seine Übersetzerinnen und Übersetzer einzuladen, lud sie zu sich nach Hause ein, nach Marrakesch, seine Wahlheimat.
Seine eigentliche Heimat aber war, nachdem er Spanien unter Franco den Rücken gekehrt, mit Spanien gebrochen hatte, die spanische Sprache, das ganze Füllhorn der spanischen Literatur seit ihren Anfängen, und nichts weniger verlangte er auch von uns: einzutauchen in unsere jeweils eigene Sprache und Literatur, nach Entsprechungen zu suchen, sprachliche Möglichkeiten auszuloten, uns vom Sprachrhythmus tragen zu lassen, nicht an Wörterbuchwörtern zu kleben oder im Hinblick auf eine schlichte Verständlichkeit nach der Leserschaft zu schielen.
Denn so kompromisslos wie in seiner politischen Haltung war er – der es als Auszeichnung verstand, wenn man ihn zur Persona non grata erklärte, weil er die unmenschlichen Arbeitsbedingungen der nordafrikanischen Immigranten im Gemüsegarten Andalusiens anprangerte; der keine Sekunde zögerte, während der Belagerung Sarajewos in diese Stadt zu gehen, um die Welt, die da wegschaute, aufzurütteln; der partout nicht in spanischer Erde begraben sein wollte, sodass man, da er nun mal kein Muslim war, den verwahrlosten ehemaligen spanischen Soldatenfriedhof im marokkanischen Larache noch einmal öffnete, wo er nun neben seinem Vorbild Jean Genet begraben liegt –, so kompromisslos wie in seiner politischen Haltung war Goytisolo eben auch im Schreiben. Mit einem einfachen Lesen ist es nicht getan, es bedarf des „Wiederlesens“, des erneuten, neugierigen Blicks, der immer wieder Neues, anderes entdeckt.
In diesem Sinne ist Reise zum Vogel Simurgh, dieser Flug durch die finsteren Zonen der Repression und Kontamination, hin zu einem wiedergefundenen Garten Eden, Goytisolos dunkelstes, leuchtendstes Werk. An dem ihm auch am meisten lag. Immer wieder fragte er nach: Wann kommt das Buch auf Deutsch? Zwei Jahrzehnte hat es gedauert, mit Vertröstungen im Duett. Verlag: Sobald Brovot es übersetzt. Brovot: Sobald der Verlag es ins Programm nimmt.
Hier ist der erste Dank angebracht: dem Suhrkamp Verlag. Denn dass ein solches Buch bei uns erscheinen konnte – ein Buch, das, hat man den Eindruck, mehr Schreibende von Sekundärliteratur hervorgebracht hat als Lesende, Wiederlesende –, es ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Und das von Jahr zu Jahr weniger. Nischenliteratur, klar. Wenn nicht Literatur überhaupt schon zur Nische geworden ist und des Artenschutzes bedarf: Mein Mobilfunkanbieter hat die Kategorie „Lieblingsbuch“ bei den Sicherheitsfragen längst gestrichen.
Und als wär’s damit nicht genug, rückt uns, die wir übersetzen, auch noch die Künstliche Intelligenz auf die Pelle. Zwanzig Jahre gab uns neulich ein Experte noch, dann würden die Übersetzungsprogramme auch Literatur bewältigen. Tatsächlich liefern diese Programme heute schon erstaunlich korrekte Sätze. Aber was heißt korrekt. Die Tests, die ich mit ein paar Passagen aus dem Vogel Simurgh gemacht habe, waren dann doch recht beruhigend. Denn der Inhalt ist das eine, wie es geschrieben ist, noch mal was ganz anderes. Vielleicht müssen wir uns noch viel mehr genau darauf kaprizieren. Was ja auch eine schöne Herausforderung ist.
Um hier eine Minibrücke zu Paul Celan zu schlagen: Auch manche seiner Gedichte galten mal als dunkel, als schwer bis nicht zu entschlüsseln. Die Germanistik hat da ganze Arbeit geleistet, die Quellen und Bezüge sind weitgehend aufgedröselt. Aber macht das den tieferen Sinn, den Reiz der Gedichte aus? Auch ein Buch wie Reise zum Vogel Simurgh will beim Übersetzen entschlüsselt werden, für mich war es eine Reise in Literaturen, die mir bis dahin fremd waren, Gedichte von San Juan de la Cruz, Texte der persischen und arabischen Mystik. Aber dann muss das alles eben auch wieder verhüllt werden, übereinandergeschoben, mit einer „Vielfalt und Gleichzeitigkeit von Bedeutungen“, wie es im Buch heißt, vertrauend auf „die reine Glut des Wortes“; muss zu einem Palimpsest werden, das auf die unterschiedlichste Weise gelesen werden kann. Und dazu bedarf es dann doch, um mit Dieter E. Zimmer zu sprechen, des „Humantranslators“.
Ich danke Paul Ingendaay für diese wunderbare Laudatio, der Jury und dem Deutschen Literaturfonds für den Paul-Celan-Preis; danke meinem lieben Kollegen Humantranslator Frank Heibert, der damals mit mir an den ersten Vogel-Passagen gefeilt hat; meinem Humanlektor Jürgen Dormagen, der den Vogel und viele andere meiner Übersetzungen bei Suhrkamp so engagiert begleitet und mit zum Fliegen gebracht hat; dem Literarischen Colloquium Berlin, das mir, seit ich mit einem Roman von Goytisolo in der dortigen Übersetzerwerkstatt war, zur übersetzerischen Heimat geworden ist; sende einen Gruß dem Agnostiker Juan Goytisolo, der jetzt bestimmt mit einem kleinen Lächeln aus seinem sehr eigenen Himmel auf uns hinabschaut; und freue mich, gleich mit Ihnen und mit euch anzustoßen. Vielen Dank!