Mazzucchetti Gschwend-Übersetzungspreis an Anette Kopetzki

(Hier folgt die ungekürzten Fassungen der Laudatio, die in Übersetzen Heft 2/2024 in gekürzter Version abgedruckt ist)

Laudatio Geschwend-Mazzucchetti-Preis

Vor knapp einem Monat auf der Turiner Buchmesse Salone del Libro, wo die deutsche Sprache als Ehrengast geladen war, präsentierte die wöchentliche Literaturbeilage der Zeitung La Stampa ein kleines Wörterbuch idiomatischer Redewendungen: unübersetzbare Begriffe wie „Fingerspitzengefühl“ gehörten dazu, aber auch das „Fernweh“ oder die „schwäbische Hausfrau“. In Italien spricht man von der „casalinga di Voghera“, die sich aber weniger durch Sparsamkeit auszeichnet als durch kleinbürgerlich-borniertes Verhalten. In einem entsprechenden italienischen Vokabelheft könnten „leoni da tastiera“ verzeichnet sein, Tastatur-Löwen, oder auch Sprichwörter wie „prendere due piccioni con una fava“, denn in Italien fängt man zwei Tauben mit einer Saubohne, während es bei uns zwei Fliegen sind, die man mit einer Klappe erwischt. Sofort fällt eine bestimmte kulturelle Grundierung auf: Im Italienischen blitzt häufig etwas Agrarisches durch. Wenn jemand sehr viel Glück hat, regnet es auf nassen Grund, „piove sul bagnato“, und bei schlechter Laune hat man einen krummen Mond, „avere la luna storta“, während man in unseren Breitengraden mit dem falschen Bein aufsteht. Was so ein kleines Diktionär sofort unter Beweis stellt: Für das Verständnis ist nicht die wortwörtliche Entsprechung zentral, sondern das Weltwissen drum herum. Übersetzerische Könnerschaft besteht also darin, das wuchernde kulturelle Geflecht bloßzulegen und es mitschwingen zu lassen. Unsere Preisträgerinnen Annette Kopetzki und Karin Krieger und unser Preisträger Moritz Rauchhaus besitzen genau dieses sprachliche Fingerspitzengefühl, das vielleicht fast eher ein „Zungenspitzengefühl“ ist, denn sie verstehen sich auf Satzgestaltung, Wortwahl, Tempus, Klangformen – kurzum auf das, was man Stil nennt.

Annette Kopetzki, seit Jahrzehnten eine beeindruckend produktive Vertreterin ihres Metiers, hat mit Stefano Massinis Lehman Brothers ihr übersetzerisches Hauptwerk vorgelegt. Das zeitgenössische Epos, in dem die Geschichte der jüdischen Auswanderer aus Bayern in die USA und ihr grandioser Aufstieg und Fall dargeboten wird, ist in Versform verfasst. In Annette Kopetzkis Version gewinnt es eine ebenso fesselnde wie betörende Anmutung. Massinis Original hat etwas sehr Eigenwilliges, und es sticht im Panorama der zeitgenössischen italienischen Literatur hervor. Der Krach am Pier des New Yorker Hafens, wo Heyum Lehmann, der bald schon Henry Lehman heißen wird, 1844 eintrifft, vermittelt sich in der Eingangsszene auch auf lautmalerischer Ebene. „Bambini che gridano/ facchini sotto il peso dei bagagli/ stridere di ferro e cigolio di carrucole“, und Kopetzki löst die Verbalkonstruktion auf, findet neue innere Reime und Assonanzen und bildet die Alliterationen nach „Schreiende Kinder/ Träger mit schwerem Gepäck/ Kreischen von Eisen und Knarren von Karren“. Sie folgt den Sprachbewegungen mit enormer Musikalität. Massini geht es um die Verführungskraft des Geldes, das Außenseitern den gesellschaftlichen Aufstieg ermöglicht: Aus einem Stoffladen wird ein Handelsimperium und schließlich eine Investmentbank. Das Unternehmen geht nach über 150 Jahren untadeliger Bilanzen spektakulär den Bach runter. Fluchtpunkt des Unterfangens von Massini ist die Bloßlegung der Mechanismen des Kapitalismus. Das Bänkelsängerhafte, der Balladenton, das Derbe, der düstere Witz, das Lapidare und Lakonische, das biblische Pathos – unsere Preisträgerin findet für alles eine Entsprechung. In großer wirtschaftlicher Not kommt es zu einer Opferszene: „L’orologio sulla parete: assordante.// Bobbie fissa suo padre/ e ha come la sensazione di vedergli in mano una lama/ con cui sta per colpirlo/ sull’altare del sacrificio.”  Durch die Umkehr der Satzteile imitiert Kopetzki den Rhythmus: “Robert, mein Lieber, es ist an dir, uns zu retten.“/ Ohrenbetäubend die Uhr an der Wand. //  Bobbie betrachtet den Vater/ ihm ist/ als sähe er ein Messer in Philips Hand/ mit dem er ihn opfern wird/ auf dem Altar.“ Kopetzki verkürzt an entscheidenden Stellen: „ha come la sensazione“ wird zu dem viel kompakteren „ihm ist als“, aus der lama, der Klinge, wird im Deutschen das Messer, was prononcierter wirkt, und aus dem Opferaltar macht sie die weniger pathosgeladene Konstruktion „opfern auf dem Altar“. Im Deutschen geht es dann folgendermaßen weiter: „Sein Blick geht zum Fenster hinaus./ Aber kein Engel eilt im Sturzflug herbei/ die Tötung des Sohnes/ im letzten Moment zu verhindern./ Der Himmel draußen ist grau/ kompakt und leer.“// Die Engel bleiben alle dort oben/ gleich werden sie die Schleusen öffnen.“ Nicht nur der „Sturzflug“ – „a picchiata“ ist klug gewählt, weil sich so im Deutschen das Abrupte, Plötzliche vermittelt, sondern auch die Entscheidung, bei den Engeln, die im Original die „rubinetti“ öffnen, also die Wasserhähne, von Schleusen zu sprechen. Schließlich beginnt es im nächsten Moment zu regnen. Bemerkenswert an Annette Kopetzkis ebenso einfallsreicher wie sensibler Übersetzung ist schließlich auch das kenntnisreiche Glossar hebräischer und jiddischer Begriffe. Sie wird der Komplexität dieser ineinander verwobenen Sprachschichten mit äußerster Souveränität gerecht. Für diese Arbeit im dichten Bergwald der Sprache zeichnen wir sie mit dem Preis für die beste Übersetzung aus.

Ein beeindruckendes Lebenswerk, für das wir sie prämieren möchten, hat Karin Krieger zu bieten. Mit ihren vielfältigen Übersetzungen steht sie für eine ganze Epoche des italienischen Erzählens. Angefangen von Alessandro Baricco, Andrea Camilleri, Margaret Mazzantini und Ugo Riccarelli über Giorgio Fontana, Claudio Magris, natürlich Elena Ferrante bis zu Alba de Céspedes und Gianfranco Calligarich ist ihr Panorama kontrastreich und breit gefächert. Kriegers Register weisen eine Fülle von Abstufungen auf, und sie versteht sich auf die verschiedensten Tonlagen. Unvergessen blieb für uns ihr grandioser Camilleri über die drei Wochen lang regierende Vizekönigin von 1677 Elenora di Mora, deren Geschicke der sizilianische Schriftsteller in Die Revolution des Mondes nachzeichnet. Mit ihren mal zotigen, mal hochgestochenen Formulierungen verlieh Karin Krieger diesem Roman ein ganz eigenes Gepräge. Man wird der Schönheit „ansichtig“, steckt in „Schwulitäten“, „eisige Schauer“ laufen den Rücken herunter, die minchia wird zur „heiligen Scheiße“, der sacco vuoto zum „schlaffen Sack“, was sehr viel bildkräftiger ist als nur ein leerer Sack. Dann gibt es natürlich die Karin Kriegersche Elena Ferrante: „Wir trauten dem Licht auf den Steinen nicht und auch nicht dem auf den Häusern, auf dem Umland und auf den Menschen draußen und in den Wohnungen. Wir ahnten die dunklen Winkel, die unterdrückten Gefühle, die immer kurz vor dem Ausbruch standen“, rhythmisiert sie dort die Prosa Ferrantes, gibt ihr eine eigene Klanggestalt und stellt ihre Fähigkeit als geniale Freundin des Italienischen unter Beweis. Bei de Céspedes wiederentdeckter Lebensbeichte einer Gattenmörderin Aus ihrer Sicht vermittelt Karin Krieger einen prunkvollen, satten Realismus, verknappt aber an entscheidenden Stellen zu ausgewalzte und adjektivbeladene Satzperioden, wodurch das Ganze eine größere Prägnanz erhält. „Egli mi guardava ridere, incerto, diffidente“ heißt es im Original über den Vater, auf Deutsch wird daraus: „Argwöhnisch schaute er mich an.“ Oder sie schwächt übertriebenes Pathos ab: „Poi caddi a terra, svenuta nella mia risata come in una pozza di sangue“, „dann brach ich ohnmächtig zusammen“, der Vergleich „ertrank ich in meinem Gelächter wie in einer Pfütze aus Blut“ fällt weg. An anderen Stellen findet sie Wörter wie eine „schattenkühle“ Treppe. Hervorheben möchte ich schließlich noch Gianfranco Calligarichs aus der Versenkung zu Tage geförderten Roman Der letzte Sommer in der Stadt über einen militanten Müßiggänger, der bei Krieger eine ganz bestimmte dolce-vita-Melancholie entfaltet. Wenn nämlich die Platanen „schwere Schatten“ werfen und Kuppeln, Brücken und alte Häuser „imbevute di luce“, „vollgesogen mit Licht“ sind, als wollten „sie es für die Zeit der Dämmerung bewahren.“ Für all diese Fertigkeiten, mit denen Karin Krieger vielen verschiedenen italienischen Schriftstellern und Schriftstellerinnen ein deutsches Sprachkleid schneidert, verleihen wir ihr den Lebenswerkpreis.

Mit dem Förderpreis zeichnen wir Moritz Rauchhaus aus, der uns Giovanni Boccaccios Kleinod, sein Büchlein zum Lob Dantes in neuer Fassung vorlegt und es mit einem kenntnisreichen Vorwort versieht. Dadurch bläst er Staub von dem wichtigsten Dante-Biographen, dem ersten überhaupt, und seinem Trattatello in laude di Dante, und vermittelt uns auf einen Streich gleich zwei Klassiker – Boccaccio und Dante. Rauchhaus fängt also mit einer Bohne mindestens zwei Tauben ein und uns gleich dazu. Boccaccio kritisiert das Gemeinwesen und stellt den Wert des Individuums heraus: „Oh undankbare Heimat, welche Vergesslichkeit, welche Nachlässigkeit ergriff dich, als du deinen lieben Bürger, deinen größten Wohltäter, deinen einzigen Dichter mit unerhörter Grausamkeit in die Flucht geschlagen und ihn fern von hier sterben gelassen hast“ fragt Rauchhaus‘ deutscher Boccaccio, beklagt Dantes Schicksal und liefert eine vehemente Verteidigung der Dichtung an sich. Boccaccio sei der Erfinder der italienischen Literatur, so Rauchhaus, weil er ihr erster Chronist sei.

Chronisten der italienischen Literatur sind auch die drei, die wir heute Nachmittag feiern: Annette Kopetzki, Karin Krieger und Moritz Rauchhaus. Wir beglückwünschen sie zu ihren feinen Sprachnerven. Gratulation!

Maike Albath