Helmut-M.-Braem Preis an Karin Betz

(Hier folgt die ungekürzten Fassung der Laudatio, die in Übersetzen Heft 2/2024 in gekürzter Version abgedruckt ist)

Laudatio für Karin Betz

Philipp Theisohn

Wenn ich heute Abend Karin Betz laudiere, die heute mit dem Helmut M. Braem-Preis, dem ältesten deutschsprachigen Übersetzerpreis ausgezeichnet wird, dann ist mir das zunächst einmal eine große Ehre und vor allem Freude. Als jemand, der Karins Arbeit schon seit vielen Jahren verfolgt und sich an ihr erfreut, etwa an ihren Übersetzungen von Mo Yan, Can Xue und natürlich Liu Cixin, kann solch eine Auszeichnung gar nicht verdienter sein. Meine Kenntnis der chinesischen Gegenwartsliteratur liegt zu einem großen Teil in Karins Kopf und Händen, und da bin ich ganz sicher nicht der Einzige. Nun legitimiert Dank allein aber noch nicht das Lob, zumal sich dieses Lob ja im Grunde auf Dreierlei beziehen soll:

1. Auf den übersetzten Text, das ist in diesem Fall Xi Xis Hongkong-Roman Meine Stadt, im vergangenen Jahr nach fast einem halben Jahrhundert in deutscher Sprache erschienen.

2. Auf die hinter und in diesem Text sich verbergende Übersetzungsleistung.

3. Auf die hinter und in dieser Übersetzungsleistung sich verbergende Übersetzerin.

Das macht mein Unterfangen nun schwerer, als man es sich wünscht, denn wie man ahnt, ist
Trennschärfe hier durchaus ein Problem. Aber ich will versuchen, alle drei Aspekte im Blick zu
behalten und sie nacheinander zu würdigen.

Beginnen wir einmal mit dem Text, mit Xi Xis Meine Stadt, chinesisch »Wo cheng«. Es handelt sich, die Besprechungen lügen nicht, um einen mitreißenden Roman, ein kubistisches Portrait des Hongkongs der 1970er Jahre, vor allem aber um einen sehr, sehr komischen Text. Was ihn so komisch werden lässt, das will ich gleich verraten: Zwar gibt es reichlich Personal, es gibt auch eine Hauptfigur, den jungen, vaterlosen Aguo, der mit seiner Familie in ein heruntergekommenes Haus in der Schaukelpferdstraße 1 zieht, das seine Tanten ihm überlassen haben und das ihm an Wert und Erscheinung an »in der Chrysanthemenzeit geernteten Longjing-Tee neunten Grades« zu gleichen scheint. Aguo ist unser Auge, mit ihm ziehen wir durch diese Stadt, die von Festlandflüchtlingen überzuquillen beginnt, sich auftürmt, verschachtelt, absonderliche Bauten und geheimnisvolle Nischen gebiert, in denen wiederum skurrile Menschen leben. Menschen wie Herr Großfuß, der sein gesamtes Dasein im 69. Stock eines Hochhauses, des sogenannten »Super-Supermarkts«, verbringt; Menschen wie den ehemaligen Parkwächter Mike Munter, der sich zunächst als Stadionwart beim örtlichen Fußballklub, später bei der Telefongesellschaft (dort schließlich bei der Beschwerdestelle) verdingt und nebenher Chilis züchtet. (Er selbst ist keine Chilis, nur einmal gleich zwei Stränge.) Menschen wie Aguos Schwester Afa, die Wunderbares tut, und Aguos Tante Youyou, die Wunderbares beobachtet. Es gibt Schwerttänzer, Mahjong-Spieler, Leute, die im Springbrunnen angeln und eine Fußballmannschaft mit dem herrlichen Namen »Die Foulhelden«.

Also: Menschen wären genug da, aber die Hauptrolle in diesem Roman spielen nach wie vor die Dinge, die »geheimnisvollen Weißnichtwasfürdinge«, »die hässlichsten, banalsten, seltsamsten, längst vergessenen, nutzlosaberzuschadezumwegwerfen Dinge«. Dinge leben. Sie haben Bedürfnisse, Meinungen, Positionen. (So macht etwa die »Farbe des Feuerwehrautos […] sehr eindrücklich seinen Standpunkt deutlich: Es ist gegen Feuer.«) Sie haben Launen, wie die Bushaltestelle, an der Youyou immer warten muss, wenn sie ins Stadtzentrum will. (Busse wiederum haben meist »leider einen unschönen Charakter« und »sind meistens schlechtgelaunt«.) Dinge führen Krisensitzungen durch, wie die Ananasse, die »ihren guten Namen schützen« wollen. Das Lineal wiederum »gähnt«. Andere Dinge stellen sich vor, geben ihren Namen preis, wie das beschriebene Papier, das behauptet, »Unsinn« zu heißen. Es gibt auch Gehirne, die Dinge tun, ohne dass ihre Träger das mitbekommen, also etwa Telefonreparateure anrufen, die dann schon über das technische Problem Bescheid wissen, von denen man ihnen erzählen möchte. Und dann gibt es natürlich, allerorten in diesem Text, die Bücher, Bücher, von denen die Menschen meist nicht mehr wissen, wozu sie gut sind, die man aber, wenn man nur gut genug hinhört, »miteinander tuscheln« hören kann. Vielleicht wird das gleich noch wichtig werden.

Jedenfalls: Dieser Roman erwartet von derjenigen, die ihn in seinen Tiefendimensionen ausleuchten, dechiffrieren und neu zusammensetzen will, maximale Hingabe, ein scharfes Auge. Und dann sieht sie auch, was hier eigentlich vor sich geht, was eigentlich zu übersetzen wäre: »Tag für Tag verabschiedet sich etwas in dieser Stadt still und leise von uns, verblasst allmählich, und verschwindet dann ganz.«

Die Literaturkritik hat dieses Erzählen dem sogenannten »magischen Realismus« zugeschlagen, und das kann man tun oder aber es auch lassen. Jedenfalls, und das dürfte unstrittig sein, fordert eine solch belebte Welt die Übersetzerin in ungeheurer Weise, wird sie durch diese doch unentwegt zu Registerfehlern gezwungen, wenn sie etwa einem Personalausweis trotz seiner geringen Größe »hohe Selbstverteidigungskräfte« zubilligen muss.

Womit wir schon beim zweiten Punkt wären. Die berückende Tollheit dieses Romans, das scheint ja prima facie das Verdienst der chinesischen Verfasserin zu sein, möchte man meinen. Aber wir wissen es besser: So gut man auch Kantonesisch verstehen mag, damit ist es im Fall von einem literarischen Text, und schon gar nicht im Fall eines so feinsinnigen Textes wie »Meine Stadt«, bei Weitem nicht getan. Diese bereits in der Schöpfungssprache so gespaltene, verfremdete Welt (die nicht von ungefähr im Roman keinen Namen trägt, »Hongkong« heißt sie nirgends) ins Deutsche zu bringen, verlangt viel mehr. Man kann einiges davon im Übersetzungsjournal nachlesen, das Karin Betz anlässlich ihrer Arbeit an »Meine Stadt« angelegt hat. Zunächst einmal ist Archäologie gefragt: Das Wissen, das den Details des Textes implizit zugrunde liegt, muss freigelegt werden, der technische Aufbau von Telefonen, der Bekanntheitsgrad der Beatles in Ostasien, Aufbau und Aussehen von Zeitungen für Pferdewetten, natürlich der politische Hintergrund, die gewaltigen gesellschaftlichen und ökonomischen Umbrüche, die Hongkong in den 1970ern erfährt, Sozialsysteme, Wohnungsbau, Einkommensstruktur, Segregation, Migration (Stichwort »Boat People«). Also kulturgeschichtliche Recherche, die gewohnheitsmäßig viel mehr Details zutage fördert, als die literale Übersetzung verlangt, aber soviel liefern muss, dass man aus der Vorstellung, nicht aus dem Wortlaut heraus übersetzen kann. Karin ist in diesen Dingen akribisch, das weiß ich noch aus meinen Gesprächen mit ihr über die fantastische Technologie Liu Cixins, also über einen
Sachverhalt, den man nur bis zu einem gewissen Grad recherchieren kann, weil er schon sehr bald ganz ins Imaginäre driftet.

Nach der Archäologie, also der Aufarbeitung der Vorstellungskomplexe, die den chinesischen Text stützen, rückt die Gegenseite in den Blick: reicht der eigene Thesaurus, mehr noch: reicht das eigene Sprachdenken eigentlich aus, um den urbanen Kosmos auf dem Weg in eine andere Sprache nicht brüchig werden zu lassen, ihn nicht zu entliterarisieren? Also müssen Texte gelesen werden, die nicht unmittelbar, nicht einmal mittelbar, sondern nur »ideologisch« an »Meine Stadt« heranreichen, fantastische Stadttexte, Übersetzungen von Calvino, Murakami, solche Dinge. Modellkosmen, die Sprache und fremde Topographie auf jeweils eigene Art verdichten – darin liegen vielleicht untergründige Verknüpfungen beschlossen, die man kennen sollte.

Und dann beginnen erst die eigentlichen Schwierigkeiten: Die den Text durchziehenden Wortspiele, die im Original manchmal von der Differenz zwischen Kantonesisch und Chinesisch leben, bisweilen auch Ortskunde, Kenntnis von Landschaftsnamen, aber auch Kenntnis des chinesischen Literaturkanons verlangen, auf den motivisch, topisch angespielt wird. Was macht man da? Erklärt man diese Dinge, verlieren sie ihren Witz, erklärt man sie nicht, versteht sie nahezu niemand. Karin Betz gibt in ihrer Übersetzung Letzterem die Wahl, sie vertraut auf die erahnten, nicht die erlesenen Spuren, die die Literatur durchziehen. Denn richtig bleibt, dass wir in jedem Text, den wir lesen, auch in jenen, die scheinbar unserem eigenen Sprach- und Kulturraum entstammen, vor der geheimen Logik der Verknüpfung, der Intertexte und Motivtraditionen zurückstehen und allenfalls dunkel erspüren, dass da vor unseren Augen noch andere, ungehörte Gespräche, eben: Getuschel zwischen den Büchern stattfinden. Man kann und muss nicht, man soll auch nicht alles erklären.

Auf der anderen Seite ist Karin Betz dann auch eine, die, wie sie offen zugibt, auch gerne einmal an den übersetzten Romanen »mitschreibt«, mitunter Anspielungen einflicht, die im Original gar nicht stehen. Warum tut sie das? Weil sich hierdurch die ungesprochene, ungeschriebene Welt, die Xi Xis Roman ausschreitet, ohne sie ganz auszubuchstabieren, an Kohärenz gewinnt. Eben: Wenn die Beatles gerade ihren Durchbruch in Hongkong erleben und dort Konzerte geben, dann darf man das auch hören bzw. lesen. Die Musik liegt in den Dingen, bestimmt ihre Folge, ihren Rhythmus, sie bleibt aber nicht dort, sondern durchfließt sie einfach nur. Der Roman selbst reflektiert diese Geste, die Sonorität, die an die Stelle des übersetzten Sinns tritt, an einer Stelle sehr treffend. Es geht da um eine Schulung, an der Aguo als künftiger Mitarbeiter der Telefongesellschaft teilnehmen muss:

»Wieder bekommen wir Papier ausgehändigt, zuerst sollen wir ein paar Rechenaufgaben lösen und anschließend einen Aufsatz schreiben. Dann sollen wir einen Absatz auf Englisch ins Chinesische übersetzen. Ich übersetze: Wie vermittelt man bei der Annahme eines Anrufs einen guten Eindruck? Welchen Ton sollte man anschlagen? An diesem Punkt vergesse ich ganz, dass ich übersetzen soll und nehme die Frage wörtlich. Daher antworte ich: Am besten spricht man wie ein ausländisches Staatsoberhaupt bei einer Rede. Ich habe einmal eine Liveübertragung per Satellit im Fernsehen gesehen, bei der ein Präsident vereidigt wurde. Seine Stimme klang wunderbar.«

Genau so arbeitet im Grunde auch Karin Betz: Wer übersetzt, der muss in manchen Momenten auch einfach vergessen, dass er übersetzen soll – und sich vielmehr dem Sound hingeben, der einen über die Details hinausträgt. Diese Überantwortung an den Sound, die ja übrigens auch über das Übersetzen hinaus das Leben von Karin Betz ausmacht, ist ganz entscheidend für die Qualität ihrer Texte. Natürlich – und längst bin ich nun schon im dritten und letzten Teil meiner Laudatio angelangt – ist Karin Betz eine gelehrte, eine traditionsbewusste Übersetzerin. Man muss nur ihre Ausführungen zu Richard Wilhelm lesen, zu jenem Großmeister der deutschen Übersetzung chinesischer Philosophie, dessen Nachlass sie gesichtet hat, um sicher sein zu können, dass bei aller Liebe zur Populärkultur hier nichts ohne historische Kritik, ohne Einübung in ein anderes Denken vor sich geht. Und doch: Karin Betz versteht es, sich immer wieder vom Ballast der Überlieferung auch zu lösen, den Text körperlich auszufüllen. Sehr schön kann man das nachvollziehen an ihren Übersetzungen von Jin Yongs »Adlerkrieger« Romanen, die man unter das Rubrum »Kungfu«-Literatur einsortieren könnte (auch wenn man präziser von »wuxia«-Literatur, dem kämpferischen Heldentum verpflichteter Literatur sprechen müsste). Dem Kampftext zu folgen, die Dynamik, in die er Figuren, Landschaft und Geschichte stürzt, zu erfassen und im Deutschen auszugestalten: so etwas kann nur die, die Bild, Klang und Bedeutung der Schriftzeichen stets zueinander in Beziehung, in Schwingung zu bringen vermag. (Auch hier empfehle ich die Lektüre der jeweiligen Übersetzungsjournale.)

In der Übersetzung von Xi Xis Wo cheng hat Karin Betz einmal mehr das ihr ganz eigene, unnachahmliche Vermögen unter Beweis gestellt, die Schwingungen großer Literatur lesbar werden zu lassen. Ihre Stadt ist nicht dieselbe Stadt, die Xi Xi bewohnt hat, aber Xi Xi hat eine Stadt bewohnt, die ohnehin niemals dieselbe war und geblieben ist. Wenn wir sie durch die Augen, durch die Sprache von Karin Betz nun neu erkunden dürfen, so werden wir vieles entdecken, was sich nur uns zeigt, keinem anderen, womöglich und wahrscheinlich sogar Dinge, Orte, Figuren, die die deutsche Übersetzung nirgends erwähnt. Dass wir sie aber überhaupt entdecken können, das verdanken wir dieser großartigen, verdienstvollen und ja: preiswürdigen Frau.

Liebe Karin, ich gratuliere dir von ganzem Herzen zu deinem Preis.