(Dies ist die ungekürzte Fassung der Laudatio, die in Übersetzen Nr. 02/2016 in gekürzter Fassung abgedruckt ist.)
Sabine Peschel: Internationaler Literaturpreis an Shumona Sinha und Lena Müller
Charles Baudelaires schrieb sein Prosagedicht „Assommons les Pauvres!“, „Erschlagt die Armen!“, 1865, sieben Jahre, nachdem der gesamte südindische Subkontinent als Kronkolonie unter direkter britischer Herrschaft stand, in einer Zeit des 19. Jahrhundert, in der eine gigantische kapitalistische Ausbeutungsökonomie Millionen Menschen ins Elend trieb. Sie, Shumona Sinha, haben in Ihrem Roman über die „Sklaven des 21. Jahrhunderts“ geschrieben – und ihn mit einem vorangestellten Zitat des zeitgenössischen französischen Schriftstellers Pascal Quignard der „Freiheit“ gewidmet.
Wie wir gehört haben, begegnet der Baudelaire des Gedichts einem Bettler, der ihn um Almosen anfleht. Sein „guter Geist“ – ein Nachfahre von Sokrates’ Dämon – heißt ihn, den Bettler zu erschlagen. Erst als er ihn heftig prügelt, ermannt sich jener und wehrt sich. Baudelaire erkennt ihn als gleichgestellt, teilt den Inhalt seiner Börse mit ihm und rät dem Almosenempfänger, mit seinen Kumpanen ebenso zu verfahren wie er mit ihm.
Shumona Sinha hat für ihren Roman nicht nur den Titel von Charles Baudelaire entliehen. Auch der provokante Grundgestus ist ihm eigen – und ebenso eine zornige Empathie. Als Ihr Buch, Frau Sinha, 2011 in Frankreich erschien, löste es ein überwältigendes Medienecho aus. Auch hierzulande traf es den Nerv der Zeit. Es kam im August 2015, inmitten einer hysterisch anschwellenden Flüchtlingsdebatte, auf den deutschen Buchmarkt. Unsere Jury war beeindruckt von der diagnostischen Kraft Ihres Romans.
Erschlagt die Armen ist ein schmales Buch, es umfasst nur 127 Seiten Text. Wie konnte sich dieser Roman um am französischen Asylsystem scheiternde Flüchtlinge im Urteil der Jury gegen eine starke Shortlist mit umfangreichen Werken herausragender Autoren und ausgezeichneter Übersetzer durchsetzen? Das haben uns nicht nur einige Kritiker, sondern auch Sie selbst, Frau Sinha, gefragt. Die Gründe lassen sich klar benennen.
Da ist zum einen seine schon erwähnte große zeitdiagnostische Sensibilität, die weit über einen Kommentar zum aktuellen Geschehen hinausgeht. Ihr Roman beruht auf Ihren persönlichen Erfahrungen als Dolmetscherin in der französischen Einwanderungsbehörde OFPRA, „Office français de protection des réfugiés et apatrides“. Der zentrale Begriff, Protektion, Schutz, fand allerdings im Alltag Ihrer Tätigkeit keinen Niederschlag. Sie waren Mittlerin in jenen Verfahren, in denen Flüchtlinge aus Bangladesch, Pakistan und dem westbengalischen Indien mit all ihren biographischen Brüchen auf Beamte einer Asylbehörde trafen, deren Aufgabe es war, aus Menschen Aktennummern zu machen.
„Ich war vollkommen erschlagen davon, meine Landsleute in so einer peinvollen Situation zu erleben“, beschreiben Sie Ihr Empfinden damals, und Sie schildern Ihren Drang, darüber zu schreiben, als eine notwendige, geradezu physische Reaktion auf die harte Realität dieses Systems. Ein Roman wurde aus diesen wütenden Aufzeichnungen erst in einer zweiten, literarischen Phase.
Es gibt kein Gut und Böse in Ihrem Buch, kein Schwarz-Weiß. Es sind nicht nur die distanzierten Vertreter eines ablehnenden Systems, denen Ihre Wut gilt. Ihr Zorn trifft ebenso die Männer vom südindischen Subkontinent, die aus ökonomischer oder ökologischer Not fliehen und einem „weißen Verlangen“ folgend in Europa anstranden wie „ungeliebte Quallen“. In einem System, in dem die Wahrheit keine Chance hat, verfangen sie sich unausweichlich im Lügenlabyrinth von falschen, für Geld erworbenen Geschichten.
„Meine Aufgabe als Schriftstellerin ist es, die Wahrheit zu suchen, und dabei kann man nicht sanft und nett sein“, sagten Sie über Ihre eigene Rolle. „Es ist nicht die Aufgabe von Literatur, Partei zu ergreifen.“ Trotzdem ist Ihr Buch zutiefst empathisch. Sie haben Menschen Ihre Zeit, Energie und Gedanken gewidmet, die, wie Sie es im Interview beschrieben, in der französischen Gesellschaft nicht existieren. In Ihrem Roman bekommen sie ein Gesicht, eine Geschichte und Gefühle – ein Leben. Wäre das allein nicht schon hinreichender Grund für eine Auszeichnung?
Sie haben ein Buch geschrieben, das nur Sie so schreiben konnten: Sie, die Inderin aus einem Professorenhaushalt in Kalkutta, die selber vor fünfzehn Jahren, schon mit einem ersten Hochschulabschluss versehen, nach Frankreich kam, an der Sorbonne Literaturwissenschaft studierte und in der französischen Sprache heimisch wurde. Das analytische, rationale Französisch hat Ihr Denken und Ihr Schreiben verändert, haben Sie berichtet. Der Monolog Ihrer Ich-Erzählerin mit seiner rauen, zornigen Sprache wirkt radikal, wie dahingespuckt. Erschlagt die Armen gewinnt seine große Kraft aus seiner harten, präzisen Sprache und dem trotz allem lyrischen Grundton – dem Erbe Ihrer Muttersprache Bengali.
In 22 kurzen Kapiteln leistet Ihr Text literarisch eine Analyse einer gleichzeitig globalen wie im höchsten Maße individuell existentiellen Problematik, die keinen Leser und keine Leserin unberührt lassen kann. Die Perspektive, aus der das Kaleidoskop des Elends aufgefächert wird, ist einseitig. Es gibt nur einen Blick, den Ihrer monologisierenden, sich erinnernden, reflektierenden Erzählerin. Deren innerer Blick richtet sich jedoch nicht nur auf Flüchtlinge und ein absurdes Asylsystem, sondern auch auf sie selbst: auf die Dolmetscherin, die sich der männlich-chauvinistischen Ansprüche ihrer Landsleute erwehren muss und in erotischen Abenteuern vergeblich die grausame Dramatik ihrer täglichen Erlebnisse zu sublimieren versucht. Und er betrachtet die Frau, die am Leid und ihrer Wut darüber letztlich fast erstickt und deren Aufbäumen in einem Schlag auf einen der Asylbittsteller seine groteske Form findet. Womit wir – unter umgekehrten Vorzeichen, was das Gleichgestelltsein betrifft – zu Baudelaire zurückgekehrt wären.
Lena Müllers großartiges Verdienst ist es nicht nur, als Übersetzerin dieser namenlosen weiblichen Stimme die ganze Wucht des Originals mitgegeben zu haben. Sie war es, die den Roman überhaupt erst für Deutschland entdeckte und – zu unserem Glück – nach jahrelanger Suche in der Edition Nautilus eine verlegerische Heimat für ihn fand. Hoffentlich sind ihr und dem Verlag Tausende dafür dankbar. Die Jury ist es jedenfalls zutiefst.
Unsere Bewunderung und der Dank gilt aber keineswegs nur Ihrem literarischen Spürsinn, liebe Lena Müller, sondern auch der Meisterschaft, mit der Sie die Klaviatur der Sprachvariationen beherrschen. Ihre prägnante deutsche Sprache wird dem Original gerecht: Ob beschreibend, erinnernd oder erzählend, ob nachdenklich, traurig oder wütend, ob wortkarg nüchtern oder poetisch bild-reich – Ihre deutsche Romanfassung geht unter die Haut, lässt einen nicht los, beschäftigt über die Dauer des Lesens hinaus.
Liebe Frau Sinha, Sie haben ein berührendes Werk geschaffen. Es ist das Gegenteil der von Tim Parks in seinem demnächst erscheinenden Sachbuch Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen kritisierten Kategorie des „langweiligen neuen globalen Romans“. Wir wollen mehr von Ihnen und Lena Müller lesen und freuen uns, dass das schon im August mit dem Roman Kalkutta auch auf Deutsch möglich sein wird.
Im Namen der Jury gratuliere ich Ihnen zu Ihrem einzigartigen Roman Erschlagt die Armen und Ihnen, Frau Müller, zu einer sprachlich und stilistisch vollkommen gelungenen Übertragung ins Deutsche.