Dies ist die ungekürzte Fassung der Laudatio auf Eveline Passet anlässlich des Celan-Preises 2020, die in Übersetzen Heft 01/2021 in Auszügen abgedruckt ist.
„Als erstes kommt die Lektüre, als zweites überlege ich mir ob, ich von Anfang an übersetze oder ob ich in der Mitte einsteige und als drittes fange ich einfach an.“
Das erklärt die Übersetzerin Eveline Passet in einem Videoporträt aus dem Jahr 2015. Klar wird dabei: Literatur ist eine ernsthafte Angelegenheit, keine ästhetische Spielerei. Schon die Lektüre des Werkes kann nicht einfach damit beschrieben werden, was die Literaturwissenschaft mit dem etwas sperrigen Wort „Rezeption“ bezeichnet. Es geht nicht darum, ein fertiges Kunstwerk zu „rezipieren“, sondern darum, in einen sehr persönlichen Dialog mit einem fremden Sinnentwurf zu treten. Evelines Passets zweiter Punkt spiegelt genau diesen Zugang zum Text. So wie es manchmal eine gewisse Zeit braucht, um einen Menschen kennenzulernen, so erschliesst sich ein Wortkunstwerk nicht sofort, sondern erst nach einer bestimmten Phase. Der Vorteil des Buchs gegenüber dem Menschen liegt allerdings darin, dass man die Zeit vorwärts und rückwärts spulen kann und den Moment wiederfinden kann, an dem sich die grösste Nähe eingestellt hat. Genau das macht Eveline Passet, wenn sie ein Buch gewissermassen aus dem Zentrum heraus übersetzt. Schliesslich gehört zum Übersetzen auch der Mut zum Anpacken – Eveline Passet weiss, dass die Überführung eines künstlerischen Sinnentwurfs in eine andere Sprache, in eine andere Kultur, in einen anderen Kontext von politischer Lebenserfahrung kein Spaziergang ist. Im Gegenteil: Übersetzen bedeutet knochenhartes Vorwärtsgehen, bei dem es Erfolgserlebnisse, aber auch Durststrecken gibt.
Eveline Passet hat für ihren Beruf aber nicht die Metapher der Langstreckenläuferin gewählt. Wenn ich es recht verstehe, sieht sie sich als professionelle Sprachschürferin, die für ihre Arbeit in einer wichtigen Publikation den bezeichnenden Titel Im Bergwerk der Sprache gewählt hat. Wenn Eveline Passet auf eine Goldader gestossen ist, dann geht sie mit dem Ernst eines Kumpels an das Werk, der weiss, dass seine Arbeit ebenso anstrengend wie gefährlich ist. Im besten Fall fördert er Wertvolles zutage, im schlimmsten Fall kommt es zu einem Schlagwetter und der von ihm sorgfältig erstellte Schacht bricht in sich zusammen. Die Stützbalken in Eveline Passets Bergwerk sehen ähnlich aus: Bücherregale bis an die Decke, vollgepackt mit Büchern und Papier. So bewahrt die gigantische Ansammlung des gedruckten Worts als lexikalischer Pfeiler die Decke vor dem Einsturz.
Eveline Passets Arbeitsmaterial sind Wörter. Diese Wörter müssen aneinandergefügt werden. Manchmal ist Passgenauigkeit vonnöten, manchmal braucht es den schrillen Kontrast. Wo findet man diese Wörter? Eveline Passet verwendet Wörterbücher – Schatzkammern von lexikalischen Zeichen, die eine Welt schaffen. Bei ihr zu Hause stehen nicht nur Stilwörterbücher, sondern auch Bildwörterbücher. Eveline Passet bewegt sich in der von ihr geschaffenen Wörterwelt und benennt die Dinge so, wie es zuerst die von ihr übersetzten Autoren in ihrem adamitischen Gestus in ihren Büchern getan haben.
Eveline Passet wird mit dem Celan Preis ausgezeichnet. Es gibt keinen anderen Übersetzer, der besser zu Eveline Passets akribischer Spracharbeit passen würde. So wie Eveline Passet hat auch Paul Celan aus dem Französischen und Russischen übersetzt. Und so wie Eveline Passet hat Celan dabei höchste Sorgfalt walten lassen. Celan ist nach eigenem Bekunden in seinen Übersetzungen „mit seinem Dasein zur Sprache gegangen“. Die Sprache ist für Passet und Celan nicht einfach ein Mittel zur Abbildung der Welt, sondern die Sprache ist die Welt selbst. Das biologische Dasein bekommt erst einen Sinn, wenn es sagbar wird. Wie schwierig die Überführung von Sprache in Welt ist, belegt Celans Arbeit an Osip Mandelstams Gedichten. Celan hat dem russischen Jahrhundertdichter Osip Mandelstam eine deutsche Stimme verliehen. Dabei ging es ihm gerade nicht um eine wörtliche Übersetzung dessen, was im Original steht. Celan sagte über Mandelstam: „Diese Gedichte haben Gewicht. Man möchte sie selbst geschrieben haben.“ Celan ging sogar so weit, seine eigenen Gedichte als „Übersetzungen ohne Originale“ zu bezeichnen. Celan charakterisierte seine Arbeit an Mandelstams Lyrik mit dem schönen deutschen Wort „Zackern“. In einer Notiz heisst es: „Am Mandelstamm zackernd, aufs neue“.
Ich kannte das Wort nicht und habe das gemacht, was Eveline Passet auch gemacht hätte: Ich habe im Wörterbuch nachgeschlagen. Der Duden belehrte mich, dass „Zackern“ eine Kontamination aus „zum Acker fahren“ sei und „umpflügen“ bedeute. Celan hat diesen Ausdruck von einem Hölderlin-Kritiker übernommen, der Hölderlins Arbeit an Pindar ebenfalls als „Zackern“ bezeichnet hat.
Es ist kein Zufall, dass Eveline Passet und Paul Celan Erdmetaphern für ihre übersetzerische Spracharbeit verwenden. Für Celan sind Wörter wie Schollen, die man umpflügt. Auf beiden Seiten der Scholle stehen Wörter, die Scholle verändert sich aber durch das Umpflügen. Für Eveline Passet steht ein Wort nie isoliert da. Es ist immer Teil eines grösseren Ganzen, einer fremden Kultur. Wenn Eveline Passet sich ans Übersetzen macht, dann bleibt kein Stein auf dem anderen. Sie annotiert einzelne Stellen im Originalmanuskript mit vielen Wortbedeutungen. Oft skizziert sie eine Situation. Dann entsteht ein Ortsplan oder ein Tierkopf. Sprache und Bildlichkeit bedingen sich bei Eveline Passet gegenseitig. Mit diesem Sprachverständnis befindet sich Eveline Passet nahe bei Vladimir Nabokov. Für seine berühmten Literaturvorlesungen an der Cornell University hat Nabokov ebenfalls Zeichnungen angefertigt – so etwa einen Lageplan zu Charles Dickens Bleak House, eine entomologische Skizze zu Franz Kafkas Verwandlung oder einen Modesketch von Kittys Kostüm beim Eiskunstlaufen in Anna Karenina. Berüchtigt waren auch Nabokovs Prüfungsfragen, als er seine Studierenden etwa aufforderte, das Tapetenmuster im Schlafzimmer der Karenins zu beschreiben. Als Fussnote: Möglicherweise die berühmteste Literaturschülerin Nabokovs war die kürzlich verstorbene Supreme Court-Richterin Ruth Bader Ginsburg.
Wie wichtig das Zusammenspiel von Wort und Bild ist, zeigt sich auch an Eveline Passets Übersetzung eines Essays über Jean Genet und Alberto Giacometti aus der Feder des französischen Kulturwissenschaftlers Thierry Dufrêne. Der Schriftsteller Genet und der Skulptor Giacometti interessierten sich gegenseitig für ihre Kunst: Genet schrieb ein Buch über Giacometti, Giacometti fertigte drei Porträts von Genet an. Aus diesem Vergleich entsteht eine Analyse der Darstellbarkeit des menschlichen Gesichts in der modernen Kunst und Literatur.
Eveline Passet hat eine Vorliebe für das Unfertige, Fragmentarische, aus dem Rahmen Fallende, aus dem Ruder Laufende. Das gilt nicht nur für Figuren wie den homosexuellen Dieb Jean Genet oder den eigenwilligen Bildhauer Giacometti. Sie übersetzte die Prosasammlung Abgefallene Blätter des russischen Publizisten Wassili Rosanow. Rosanow gehört zu den schillerndsten Gestalten der russischen Literatur. Er legte ein umfangreiches, aber fragmentiertes Werk vor, in dem er in seinen besten Momenten hellsichtige Aperçus vorlegt. Rosanow war aber auch ein ewiger Provokateur, der sich mit allen anlegte, ohne sich um die Konsistenz seiner eigenen Position zu scheren.
Rosanow arbeitete in jungen Jahren als Gymnasiallehrer für Geschichte und Geographie in der Provinz, wo er auch Michail Prischwin unterrichtete. Allerdings kam es zu einem Eklat zwischen Lehrer und Schüler, worauf Prischwin vom Gymnasium flog. Später ist Prischwin aber immer wieder auf die skandalträchtigen religionskritischen Positionen seines Lehrers zurückgekommen und hat sich mit seiner eigenen Poetik an Rosanow abgearbeitet. Prischwin galt lange Zeit als privilegierter sowjetischer Dienstschriftsteller, der sich sogar ein Auto leisten konnte und einem extravaganten Hobby wie der Photographie frönte. Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems konnten allerdings Prischwins Tagebücher publiziert werden, in denen er sich bereits sehr früh als hellsichtiger Kritiker des Systems zeigt. Zwischen 1991 und 2017 sind 18 Bände mit Prischwins Tagebuchaufzeichnungen erschienen. Diese Notizhefte waren Prischwin so wichtig, dass er im Herbst 1941, als die Wehrmacht vor Moskau stand, nur gerade einen Koffer mit seinen Tagebüchern bei der Flucht aufs Land mitnahm. Eveline Passet hat nun dieses umfangreiche Konvolut gesichtet und plant eine gekürzte Ausgabe von Prischwins Tagebüchern in vier Bänden – ein erster Band ist bereits erschienen und hat von der Literaturkritik hohes Lob erhalten. Aus der Werkstatt der Tagebücher hat Prischwin auch einen Roman verfertigt. 2015 hat Eveline Passet den satirischen Roman Der irdische Kelch übersetzt, den Prischwin in bestimmten Stücken bereits durch Tagebucheinträge vorbereitet hatte. In diesem Roman legt Prischwin – wie man heute sagen würde – eine sozialanthropologische Studie des ersten Jahres nach der Oktoberrevolution vor und schaut dem Volk direkt aufs Maul. Eveline Passet zieht alle Stilregister des Deutschen, um diese Stimmenvielfalt in ihrer Übersetzung wiederzugeben.
Gewissermassen ein moderner Rosanow ist der Autor Wassili Golowanow, der seine exotischen Reiseerfahrungen in Büchern verarbeitet hat, die jeden Umfang und jede Genrezuordnung sprengen. Auch Golowanow ist ein Autor, der seine Welterfahrung in eine ungemein kreative Prosa zu giessen vermag, dabei aber zu keinem Schluss kommt – und zwar in jedem Sinn dieses Ausdruck. Eveline Passet hat Golowanow meisterhaft übersetzt.
Eveline Passets Übersetzungs-Palmarès greift auch in die französische Literatur aus. Sie hat dort Benjamin Constants Jahrhundertroman Adolphe übersetzt. Constant hatte hier seine eigenen amourösen Erfahrungen mit Madame de Stael und weiteren Geliebten verarbeitet. Dieser Text darf in seiner radikalen Authentizität als einer der Wegbereiter der Literatur nicht nur des späten 19., sondern auch des 20. Jahrhunderts gelten.
Seit 1995 hat Eveline Passet zehn Romane von Daniel Pennac übersetzt. Pennac ist ein Sprachvirtuose, der mit verschiedenen Handlungselementen jongliert und sich als Erzähler immer wieder von der extravaganten Sprechweise seiner Figuren anstecken lässt. Entstanden sind dabei rasant erzählte Prosastücke, die von Eveline Passet in ein sehr freches Deutsch übertragen wurden.
Eveline Passet hat diesen Autoren der russischen und französischen Literatur nicht nur ihre Stimme gegeben, sie ist ihre Stimme. Ich gratuliere zu dieser ausserordentlichen Leistung und freue mich, dass Sie mit dem Paul Celan Preis des Deutschen Literaturfonds ausgezeichnet werden.