Rowohlt-Preis an Volker Oldenburg

(Hier folgt die Laudatio von Ulrich Blumenbach anlässlich der Verleihung des Preises der Heinrich Maria Ledig Rowohlt Stiftung an Volker Oldenburg , über die in Übersetzen Heft 01/2021 berichtet wird.)

Lieber Volker,

liebe – alle Anderen.

Martin Luther? Also der kommt für mich gleich nach Volker Oldenburg. Das ist nicht nur als Sprücheklopfen gemeint. Martin Luther ist in Wittenberg auf dem Marktplatz und auf der Wartburg im Schlosshof rumgelaufen und hat bekanntlich „die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt“ belauscht. Volker brauchte für David Mitchells Wolkenatlas eine Zeitmaschine, die ihn ein paar Jahrhunderte Zurück in die Zukunft brachte, damit er sich unter Menschen nach dem Weltuntergang umhören konnte, ihnen „auf das Maul sehen, wie sie reden und darnach dolmetschen“ konnte.

Der literarische Tausendsassa Mitchell schreibt so etwas wie kinetische Literatur. Seine Romane bestehen aus Wort- und Sinnfluten, die immerzu in Bewegung sind. Die oberste Maxime des Übersetzers lautet hier ganz einfach: Das muss kesseln! Volker musste ein stilistisches Chamäleon werden und von Roman zu Roman und dann noch mal in jedem Roman alle hundert Seiten neue Textsorten und Wissensgebiete mit ihren jeweiligen Sondersprachen erobern. Da gibt es die musikologischen Briefe des Komponisten Robert Frobisher, da gibt es eine Reportage des embedded journalist Ed Brubeck über den Zweiten Irakkrieg, die doppelhelixartig mit einer Ehekrise verflochten wird, da ahmt Volker für einen Anwalt im Pazifik die Rechtschreibung und den Wortschatz zur Mitte des 19. Jahrhunderts nach, da fachsimpeln Philatelisten und Oldtimer-Händler seitenlang miteinander, und so geht das immer weiter und weiter.

Selbstverständlich kann Volker die ganzen barocken Ornamente und diese „Buntscheckigkeit des Stils“, wie Nietzsche sie mal nennt. Er kann meterlange Komposita wie „Soforterleuchtungshokuspokus“ basteln. Er kann unglaublich anschauliche Bilder malen wie diese selbstreflexive Beobachtung des Eindrucks, den man beim Lesen von Mitchells Büchern hat: „Zuweilen flitzt das flauschige Kaninchen Fassungslosigkeit so rasant um die Kurve, dass der Windhund Sprache perplex in der Startbox sitzen bleibt.“ In einem Essay hat Volker, der gelernte Tänzer & Theatermensch, mal geschrieben, dass er beim Übersetzen das Medium wechsle und das Original sozusagen in deutscher Sprache aufführe. Das trifft’s, wenn er beispielsweise in den Tausend Herbsten des Jacob de Zoet die seitenlang gereimte Schilderung eines Straßenpanoramas so umstellt, arrangiert und inszeniert, dass auch im Deutschen wieder ein Prosagedicht entsteht. Oder hier, noch ein Beispiel, da war ich richtig traurig, dass meine Kinder inzwischen erwachsen sind und ich sie nicht mehr mit diesem Satz in die Heia scheuchen kann: „Ab nach Bettenhausen in die Federallee.“ Volker kann in sich widersprüchliche und dadurch um so erhellendere Neologismen wie „Nixperten“ erschaffen und die Palette der Lautmalerei zum Einsatz bringen, wenn es etwa heißt: „Roses zoschte mir doll eins ins Gesicht“.

Selbstverständlich kann Volker, wie gesagt, diese ganze opulente Rhetorik, aber fast noch mehr beeindruckt mich das Gegenteil: seine Reduktion der Sprache. Sie erinnern sich vielleicht, dass sich die Menschheit im chronologisch letzten Teil vom Wolkenatlas mit bewundernswerter Präzision in die Steinzeit zurückbombardiert hat. An diesem Nullpunkt der Zivilisation sind auch nur noch Nullwörter übrig geblieben, die Kommunikation der überlebenden Horden und Stämme ist kurz vor dem Verstummen. Mit den Strukturen der Gesellschaft sind auch die Strukturen der Sprache zerfallen, es gibt nur noch „Babysprache für Erwachsene“, wie Mitchell in den Knochenuhren – gewissermaßen als Kommentar zum eigenen Frühwerk – mal schreibt. Die Wortarten werden kunterbunt durcheinander geworfen, ein Erzähler denkt über „unsre vorbein Leben“ nach, und man kann sich plötzlich „in ner kaktusichen Senke“ oder in „echonden Zimmern“ aufhalten. Von den Molekülen der Sprache – also zusammengesetzten, präfigierten, deklinierten oder konjugierten Wörtern – sind nur noch Atome oder sogar nur Bedeutungsprotonen übrig: Feste Nahrung heißt nur noch „Kau“, flüssige Nahrung heißt nur noch „Bräu“. Diesen Minimalismus des Erlöschens, diese Schwundstufe einer Sprache kurz vor dem Verstummen in der Übersetzung wieder hinzukriegen – das ist für mich wahre Meisterschaft.

Lieber Volker, ich bin einfach nur froh und glücklich, dass Du heute mit dem Rowohlt-Preis ausgezeichnet wirst, denn Du hast mir mit Deinen Übersetzungen mit die schönsten, sinnlichsten, heitersten, erhellendsten und die grauen Zellen auf Trab bringendsten Lesetage meiner letzten zwanzig Lesejahre beschert. Ich danke Dir.