Verliehen am 28. September 2016 im Deutschen Theater
(Dies ist die ungekürzte Fassung der Laudatio, die in Übersetzen Heft 01/2017 in Auszügen abgedruckt ist.)
Vielleicht ist es kein Zufall, dass der Brücke Berlin Preis in diesem Jahr – wie bereits 2014 – an einen Autor verliehen wird, der, ich möchte es vorsichtig sagen, einen modernen Heimatroman über ein Grenzland geschrieben hat. Grenzen sind ja momentan im Kommen, allenthalben hört man von Grenzzäunen, sicheren Grenzen, Grenzkontrollen.
Szczepan Twardochs großer, mit epischer Wucht, erzählter Roman „Drach“ führt uns in ein europäisches Grenzland, in den südöstlichen Teil Oberschlesiens, in eine Landschaft, die über Jahrhunderte am Grat zwischen deutscher, polnischer, tschechisch-österreichischer und jüdischer Kultur verlief und die – wie jedes Grenzland – zum Spielball machtpolitischer Ambitionen wurde.
Schon der Name – Śląsk (Slonsk), Schlesien, Slezsko – widersetzt sich eindeutiger sprachetymologischer Zuschreibungen, die einen wollen darin germanische, die anderen slawische Wurzeln entdecken, wohl auch nach Nationalität und ideologischer Befindlichkeit des jeweiligen Sprachhistorikers.
Diesseits der Grenze gehört der Name Schlesien inzwischen zu denen, die, wie Gräfin Dönhoff über Ostpreußen schrieb, keiner mehr kennt. Längst ist die Gegend östlich der Oder kein Grenzland mehr, sie liegt mitten in Polen an der Grenze zu Tschechien, die auch keine wirkliche mehr ist.
Für viele, vor allem jüngere Deutsche ist Schlesien nicht einmal mehr eine Enklave der Erinnerung. Es ist uns gewissermaßen ‚entschlüpft‘, wie einem der Helden in „Drach“ seine Geliebte. Selbst dem Verlag sind bei der Begründung für den Brücke-Berlin-Preis die geografischen Koordinaten ein wenig verrutscht, der Roman spielt eben nicht im einst protestantisch-preußisch geprägten Niederschlesien, sondern in Oberschlesien, in der Gegend südlich von Gliwice, die katholischer und kulturell durchmischter war. 1982, da war Szczepan Twardoch drei Jahre alt, beendete Horst Bienek seinen Gleiwitzer Zyklus und ich habe mich beim Lesen von „Drach“ gefragt, ob eine der zentralen Figuren, die Familienpatriarchin Valeska Magnor nur zufällig eine Namensvetterin von Bieneks Valeska Piontek ist.
Wie dem auch sei, „Drach“ holt Oberschlesien mit sprachgewaltigen Bildern und bewegenden Geschichten in unsere Imagination zurück. Der Roman erzählt vom Schicksal einer Familie. Über das blutige zwanzigste Jahrhundert – im Buch symbolträchtig eingeleitet mit der Schlachtung eines Schweins – begleiten wir vier Generationen vom ersten Weltkrieg bis in unsere Tage. Von den Schützengräben Flanderns bis hinein ins moderne, aufstrebende Polen, vom oberschlesischen Grubenarbeiter und deutschen Soldaten im ersten Weltkrieg Josef bis zu seinem Urenkel Nikodem, einem erfolgsverwöhnten polnischen Stararchitekten.
Dabei löst sich die zeitliche Linie der Ereignisse im ewigen Sein dieser Landschaft auf: Kriegserfahrungen, Verfolgung, Konzentrationslager, Vergewaltigung bei Kriegsende, sowjetische Besatzung, Erschießung, Inhaftierung im stalinistischen Polen, gewaltsame und friedliche Tode, individuelle und kollektive Tragödien. Diese werden in einen noch größeren Zeithorizont gestellt, der zurückreicht bis ins Mittelalter oder den deutsch-französischen Krieg, in Zeiten, in denen der gute Preuße nicht Deutsch sprechen musste, wie sich der alte schlesische Schamane Pindur im Buch erinnert, weil ja nicht einmal der preußische König gern Deutsch sprach.
Die schlesische Erde, die Szczepan Twardoch zum ungewöhnlichen Erzählmedium dieses außergewöhnlichen Roman kürt, nimmt diese Schicksale nicht einfach in sich auf. – Das Geschehene lagert sich Flözen gleich in ihr und ihren Menschen an, es ist allgegenwärtig – in Zeit und Raum.
Virtuos, in einer Sprache, die in ihrer spröden Lakonie große poetische Kraft entfaltet, wird Oberschlesien mit seinen Menschen – ein global betrachtet winziger geographischer Raum – zum Mikrokosmos, der nicht mehr an einer Grenze liegt, sie aber für immer in sich trägt. Wie in einem Brennglas entzündet und vollzieht sich hier Weltgeschichte.
Schon Szczepan Twardochs erster Roman ließ aufhorchen. Darin schickte er im Warschau des Jahres 39 einen morphinsüchtigen Alkoholiker und Bordelldandy, der gleichzeitig liebender Ehemann und Familienvater ist, in den polnischen Widerstand. In der Uniform seines deutschnationalen Vaters und mit dem Segen seiner polnisch-nationalen Mutter. Ein Held, der keiner sein wollte, eine geniale Fehlbesetzung in jedem patriotischen Epos.
Auch in „Drach“ räumt der Autor mit Geschichtsmythen von Zugehörigkeit und Nationalpathos auf. Er zeigt die verhängnisvolle Auflösung der Idee einer Nation als Rechtsgemeinschaft hin zur der einer homogenen „Volksgemeinschaft“, in der die vermeintliche ethnische Zugehörigkeit und der Sprachgebrauch zu Kriterien der nationalen Bestimmung werden.
Die Helden in „Drach“ suchen dieser erdrückenden Macht der Zuschreibung durch die Ideologien des 20. Jahrhunderts zu begegnen, indem sie auf ihrer oberschlesischen, ihrer gewissermaßen ‚hinternationalen‘ Herkunft beharren, was ihnen oft genug zum Verhängnis wird.
Die ihnen abverlangten Entscheidungen, Deutsche oder Polen zu werden, haben wenig mit Patriotismus zu tun. Vielmehr sind es Zufälle, eine Klassenzugehörigkeit, ein Faible für die Luftfahrt oder die unfreiwillige Zwangsrekrutierung in die eine oder andere Armee, die dazu führen, dass sie sich fast immer zur falschen Zeit auf der falschen Seite wiederfinden. Der Roman erinnert ohne Larmoyanz aber doch nachdrücklich daran, dass kollektive Identitäten den Keim der Gewalt stets in sich tragen. Er stellt die simple Frage, was wir sind, wenn wir den Mantel der nationalen Zugehörigkeit, diese imaginierte Garderobe, abwerfen.
„Drach“ ist ein Wort, das weder im Polnischen noch im Deutschen existiert, es ist dem oberschlesischen Dialekt entlehnt, jenem Wasserpolnisch, das einst als Sprache der Flößer östlich der Oder entstand, eine Sprachhybride aus Polnisch, Deutsch und Tschechisch. Erst im 19. Jahrhundert bekam es jenen pejorativen Klang. Für die Deutschen war es ein verwässertes Polnisch, den Polen galt es als störende Erinnerung an die deutsche Geschichte der Region, ein lästiges Schmutzpartikel in der beschworenen Reinheit der Nation. Der ‚große Drach‘, was man auch als Anagramm von Twardoch lesen kann, ist ein Wesen mit harter, schrundiger Haut, ein Urgetüm, dessen Blut der Sage nach auch dem Menschen eine unverwundbare Panzerung verschaffen kann.
Die Sprache, das Wasserpolnisch, wird im Roman zu einem eigenen, widerständigen, Charakter. Aus dem Mund der Helden klingt sie im polnischen Original wie in der deutschen Übersetzung fremd, archaisch, störrisch. Sie ist eine den Eliten suspekte Volkssprache.
Richat und Hilda, zwei Nebenfiguren im Buch, sprechen zu Hause immer Deutsch, wenn sie allein sind, was sie fast immer sind, vor dem Krieg haben sie zu Hause immer Schlesisch, also Schläsch, gesprochen, weil man das auf der Straße damals nicht durfte und danach, im kommunistischen Polen, war es umgekehrt. Auch wenn sich das Deutsche in den Familien verliert, das Schlesische bleibt. „Drach“ ist also keineswegs die elegische Sterbebegleitung einer Minderheitensprache, sondern das literarische Zeugnis eines trotzigen Überlebenskampfes.
Olaf Kühl hat Großartiges geleistet. Er hat den oberschlesischen Dialekt gewissermaßen synthetisiert, indem er ihn in das uns auch durch den Schlesier Gerhart Hauptmann nähere und hierzulande verständlichere Niederschlesisch transportierte. Jedes Wort musste recherchiert, jeder Satz auf den authentischen Klang geprüft werden. „Drach“ stellt Übersetzer darüber hinaus vor multiple Herausforderungen: eine verknappte, zuweilen karstige, von Staccato durchsetzte Diktion, Handlungssequenzen, die sich atemlos in einem Absatz zwischen Jahrzehnten und Jahrhunderten hin – und her bewegen, Sätzen gespickt mit Details aus dem Bergbau, der Waffen- und der Automobilkunde, denn die Helden, das sei ganz wertfrei angemerkt, sind überwiegend Männer. Entstanden ist eine vielschichtige Textlandschaft, in der die Geschichten Oberschlesiens in einem unverwechselbaren Sound widerhallt.
Zugleich stellt der Roman so manche Binsenweisheit der Postmoderne vom Kopf auf die Füße.
„Drach“ steht für die schlesische Erde und ihre Menschen, denen Sczcepan Twardoch mit seinem Roman ein Denkmal gesetzt hat. Seine Magnors, Coiks und Gemanders sind Antipoden zu den Nomaden unserer Tage, jenen Jetset- Globalisierern und ihren leidgeprüften Zwillingspartnern, den Flüchtlingen. Diese Oberschlesier sind keine Vertriebenen, keine Umsiedler, sie stecken wie der Autor einmal über seine eigene Befindlichkeit schrieb „in dieser Erde … wie ein vor dem Brand bewahrter, verkümmerter Baumstumpf inmitten der Aschefelder eines Waldes“. Sie sind erdverbunden, sie bauen sich Häuser mit Stahlskeletten und aus Beton – und zwar nicht nur, um darin die Erschütterungen der vom Bergbau durchlöcherten Erde besser zu überstehen. Sie kehren – oft gegen jeden gesunden Menschenverstand – in ihre Heimat zurück, wie Nikodems Großmutter Gela, die im Frühjahr fünfundvierzig auf einem Fahrrad halb Deutschland gen Osten durchquerte. Was sie nicht ahnte: Ihr Vater, von den Deutschen als Grenzbeamter im polnischem Dienst nach Mauthausen verschleppt, hatte das Lager nicht überlebt.
Es gibt im Roman einen Ort der gewissermaßen exterritorial ist. Ein Spital für Nerven- und psychisch Kranke, das in allen politischen Ordnungen, die über Oberschlesien wie Feuersbrünste hinweggezogen sind, seinen Dienst tat. Es ist Schutzraum und Zufluchtsort zugleich, ein Ort des Wartens im Niemandsland, weder jenseits noch diesseits der Grenze.
Im Januar fünfundvierzig entflieht Josef Magnor – eben jener, der als Sechsjähriger die Schweineschlachtung erlebte, der für die Deutschen im ersten der zwei großen Kriege kämpfte und später Mitglied der Polnischen Militärorganisation von Oberschlesien wurde – im bloßen Hemd aus diesem Spital. Er, der durch einen tragischen, der Begierde, dem Zufall, dem Missgeschick begangenen Doppelmord den Verstand verlor, sucht im Chaos der letzten Kriegstage nach den Seinen. Er wird sie finden, bevor sie alle, wie so oft auf der falschen Seite der Grenze, zu Opfern der neuen Sieger werden.
„Drach“ zeigt uns in diesen für Europa bewegten Zeiten, dass Identität durchaus etwas mit Heimat, aber Heimat nicht unbedingt etwas mit nationalen Zuschreibungen zu tun hat. Heimat ist kein Spuk aus fernen Zeiten, der von der Moderne entzaubert wurde. Man kann sie nicht in Bindestrichen verorten, sie ist keine Hybride, die sich nach Lust und Laune aus dem Supermarkt der Selbstzuschreibungen bestücken lässt.
Nikodem trägt die Schicksale seiner Vorfahren in sich, auch wenn er sich dessen nie bewusst war. Der 28. Januar 1945 und der 29. Juni 2014 verschmelzen am Ende des Romans mit vielen anderen Schicksalstagen ineinander.
„Im Spital wird Nikodem fachmännische Pflege zuteil. Die Ziegelmauer des Spitals ist von Kugeln zerlöchert. Nikodem bemerkt diese Einschussnarben nicht. Früher hat er sie auch nicht bemerkt, jetzt aber bemerkt er gar nichts mehr. Doch das ist erst später, wenn auch zur gleichen Zeit. ( … ) Auf den Feldern vor dem Spital liegen steifgefrorene Leichen mit nackten Unterschenkeln, der Januarwind reißt an den Spitalshemden.“
Lieber Szczepan Twardoch, lieber Olaf Kühl, für die große Kunst, eine europäische Grenzlandschaft mit ihren Besonderheiten, ihrer widerständigen und zugleich gefährdeten Kultur, mit der hybriden und zuweilen einsamen Identität ihrer Bewohner in einer ganz besonderen Sprache mit eigenwilligem Klang wiederzugeben, werden Sie heute mit dem Brücke Berlin-Preis für den Roman „Drach“ und seine Übersetzung ins Deutsche ausgezeichnet. Sie haben – jeder in seinem Metier – viel gewagt, und gewonnen! Herzlichen Glückwunsch!