Kulturpreis der Stadt Basel an Ulrich Blumenbach

Ulrich Blumenbach mit Helga Frese-Resch und Sabine Baumann, Foto (c) Alain Claude Sulzer

Kulturpreis der Stadt Basel an Ulrich Blumenbach

(Dies ist die ungekürzte Fassung der Laudatio, die in Übersetzen Heft 01/2017 in Auszügen abgedruckt ist.)

Ich erinnere mich nicht mehr genau, wie alles angefangen hat, aber vor gut 40 Jahren hörte ich von zwei Anglisten aus Berlin, die Stellen aus Finnegans Wake von James Joyce übersetzten, also gerade aus dem extremsten und ver-rücktesten Buch, das immer noch als unüberholbar gilt, und das am wenigsten erschlossene. Das Unternehmen war wohl als Semesterarbeit gedacht. Es gibt in der Tat nichts Besseres, einen ausgefallenen Text zu verstehen, als sich an seiner Übersetzung zu versuchen. Übersetzer sind ohnehin die genauesten Leser. Ein junger Ulrich Blumenbach nahm sich demnach gleich das Unmöglichste vor und zog sich so gut aus der Affäre, dass sein Beitrag, ein Frühwerk, in eine Anthologie von Übersetzungen aufgenommen wurde.

Ich wünschte damals den mutigen Studenten alles Gute und segnete das Unternehmen aus abgehobener Distanz. Er und sein Kommilitone besuchten uns dann zu Forschungszwecken in der Zürcher Joyce-Stiftung. So haben wir uns kennengelernt. Woraus hervorgeht, dass ich hier auch als Befangener spreche.

Aus dem angehenden Akademiker, der durchaus als Literaturwissenschaftler Karriere gemacht hätte, wurde dann, durch verschlungene Umstände und Zufälle, aber gewiss auch aus einer Art Bestimmung, zuerst ein Anfänger mit Aufträgen bei richtigen Verlagen und bald ein Professioneller. Er hat es unterdessen in die Champions League der Übersetzer geschafft, und es steht mir zu, ihn anerkennend in leichte Verlegenheit zu bringen. Über die Jahre habe ich, als einer, der selber selten, bei vorgehaltener Pistole, übersetzt, sich aber bei Gelegenheit klug darüber äußert, Ulrich von der Seitenlinie aus, und auch in der Werkstatt, beobachtet.

Die Liste seiner Autoren darunter Stephen Fry, Anthony Burgess, Kinky Friedman, Arthur Miller, Agatha Christie, und vor allem David Foster Wallace, dazu in letzter Zeit noch Dorothy Parker mit ihren pointierten Gedichten, ist lang und breit gefächert.

Eine Aufzählung seiner Übersetzungen und seiner Autoren ist schon vom Umfang her beeindruckend und zeigt als Leistungsausweis, zweitens, seine Vielseitigkeit, Energie, und Ausdauer – aber, erstens, dass man ihm unterdessen gerade die vertracktesten und ausgefallensten Autoren anvertraut, die am weitesten vorgestoßen sind und die man resigniert als unübersetzbar abschreiben könnte.

Doch zuerst, zur Aufwärmung, ein wenig Allgemeines, zum Thema Übersetzung, eine der wichtigsten kulturellen Leistungen überhaupt. Es ist mir aufgefallen, dass wir für die Tätigkeit keinen treffenden Begriff haben, sondern im Grund nur unpassende Vergleiche oder Metaphern heranziehen. Wobei das Wort Metapher selber eine ist. Es heißt (hin) überbringen, ganz ähnlich wie das Wort “Übersetzen”, wie “Übertragen” oder die lateinischen Vorstellungen – trans-ferre oder trans-ducere – von denen sich die Benennungen in den romanischen Sprachen ableiten. Sie alle umschreiben einen Transport von hier nach dort, gedacht unter schwierigen Umständen, etwa über einen Fluss hinweg — über setzen —, eine Art sprachlicher Zubringerdienst. Die Vorstellung klammert das wohl Wesentlichste aus. Ein Paket, das am andern Ende von der Post überbracht wird, mag etwas gelitten haben, hat aber seinen Inhalt nicht verändert. Ganz im Gegensatz zur sprachlichen Übertragung, wo notwendigerweise alles dasselbe bleiben sollte und gleichzeitig anders werden muss.

Mir fällt bei der Gelegenheit ein wohlgemeinter Rat ein, der einst den französischen Übersetzern eines neuen Ulysses auf den Weg gegeben wurde: Aber Ihr dürft kein einziges Wort verändern! Auch eine geometrische Veranschaulichung, dass man einem Text näher komme, bleibt entgegen ihrem Anschein reichlich schwammig, weil Nähe kaum zu abzugrenzen ist. Sie ruft so etwas auf wie ein Boccia-Spiel und verfehlt ihr Ziel allein schon deshalb, weil sich die Übersetzung nicht zweidimensional abspielt, sondern nach allen Seiten offen bleibt. Jedes einigermaßen bedeutende literarische Werk hat mehrere Ausdehnungen; die Zahl der denkbaren Blickwinkel und Schattierungen ist unbeschränkt. Literarische Werke zeichnen sich durch ihre

Dynamik aus, die inneren Spannungen. Ein noch weiterer Dreh ist nie auszuschließen.

Texte halten nicht still – als ob es sonst nicht schon schwierig genug wäre. Der notwendige und nach oben nicht begrenzte Aufwand an Entwerfen, Nachforschen, Verbessern, Verfeinern, gelegentlichem Verzweifeln, steht erst noch in einem Missverhältnis zum materiellen Ertrag, da Übersetzer nicht nach der aufgewandten Zeit, sondern nach Umfang entlohnt werden.

Ich wage mir gar nicht vorzustellen, wie es sich an einem frühen Morgen anfühlt, wenn man Hunderte von dicht bedruckten Seiten vor sich hat und dabei den Mut nicht verlieren darf. Zum Beispiel, um die wohl bekannteste Leistung herauszugreifen, beim Roman Infinite Jest von David Foster Wallace, im Umfang 1079 Seiten im Original, die in der deutschen Fassung Unendlicher Spaß auf 1554 Seiten anwachsen. Allein der Umfang schreckt ab, aber über die schiere Quantität hinaus ist es die Dichte an Anspielungen, an lokalen Einrichtungen, Fachbegriffen aus dem Tennis-Sport oder dem amerikanischen Steuersystem, dazu eine Phalanx von dürren amtlichen oder sperrigen Akronymen, die umständlich zu recherchieren oder erst zu auszudenken sind.

Wallace verwendet ein weites Spektrum an sprachlichen Registern, darunter Black English, für das noch keine gültige Entsprechung ge- oder er-funden worden ist, und Benennungen, denen notwendigerweise in anderen Kulturen jegliche Resonanz abgehen muss. Terminologische Sackgassen und Sprachfallen also auf Schritt und Tritt — auf fachspezifischem Schritt und stilistischem Tritt —, gleichgültig, ob sich die Leser in den deutschen Entsprechungen je besser zurechtfinden werden. Dazu stößt jeder Übersetzer auf Wörter, die in seiner Sprache fehlen, die es aber geben sollte.

Ich leide an einem Hang für Konkretes und schiebe ein konkretes Beispiel ein,  gewissermaßen an der Wandtafel, zum Mitschreiben. Es ist notwendigerweise kurz, nachvollziehbar — und schmerzlos. Es handelt sich ein sogenanntes Wortspiel, ein übrigens nicht ganz zutreffender Ausdruck, der vorgibt, dass irgendwo in der Literatur die Wörter nicht spielen. An einer Stelle unter vielen, wo manche, darunter ich, das Handtuch geworfen hätten, wird ein etwas gezwungenes Rätsel aufgetragen, Ein allzu typischer Fall für Übersetzer.

“What do you get when you cross an insomniac, an unwilling agnostic, and a dyslexic?”

Auffallend sind die drei Fremdwörter lateinischen und griechischen Ursprungs — insomniac, agnostic, dyslexic” —, die im praktischen Alltag und auch von den Personen im Roman nicht unbedingt verstanden werden. In der Tat hat der Angesprochene Mühe mit “insomniac” und muss es sich erklären lassen. Weil im Deutschen niemand “Insomniak” sagen würde, wird das Wort durch die Umschreibung “einer, der an Schlaflosigkeit leidet” ersetzt, während sich für

“dyslexic” unser immerhin “Legastheniker” anbietet.

Angesichts der Wiedergabe der Antwort:

 

You get somebody who stays up all night torturing himself mentally over the question of whether or not there is a dog.

könnte man durchaus verzweifeln. Viel ist untergebracht: einer, der nicht schlafen kann, quält sich als Atheist mit der Existenz Gottes ab, wobei eben im Englischen — und nur im Englischen — God von hinten gelesen (legasthenisch oder dyslexisch) Dog ergibt. Ulrich Blumenbach – ich weiß nicht, ob dank der Gnade eines glücklichen Einfalls oder als Ergebnis vielfachen Ausprobierens – macht daraus:

Man bekommt jemanden, der sich die ganze Nacht die Frage um die Ohren schlägt, ob es einen Nebel nach dem Tod gibt.

Die Umkehrung von God zu Dog wird zu einer von Leben zu Nebel. “ob es einen Nebel nach dem Tod gibt”, liest sich passend kalibriert, auch wenn sich theologisch etwas leicht verschoben hat. Es passt, dass die Existenz eines Gottes ohnehin etwas neblig ist und dass man sich über Nebel und Schöpfung Gedanken machen könnte, abgesehen davon, dass im zweiten Buch Mose auch schon ein Nebel aufsteigt. Es entsteht sogar etwas an Mehrwert. Derartige Feinheiten sind überhaupt nicht zwingend und hier nur aufgeführt um zu zeigen, dass auch Übersetzungen zum Weiterspinnen – wie immer man das jetzt auffassen mag – anregen können, also gerade dem, was sonst oft durch kaum vermeidbare Verflachung zu kurz kommen muss. Auch die noch so geistreiche Lösung – und darum handelt es sich hier – erreicht kaum je eine ideale Deckungsgleichheit. Natürlich ist ein “Legastheniker” (mit Schwächen beim Lesen) klinisch nicht genau dasselbe wie “dyslexic”, wo Silben oder Buchstaben vertauscht werden. Ich selber, als Gelegenheits-Dyslexiker, könnte davon ein Leid singen.

Rein handwerklich gesprochen wäre es von Vorteil, wenn “Nebel” ein Neutrum wäre, da eine Wendung “gibt es ein Nebel nach dem Tod” allen als “ein Leben nach dem Tod” besser in die Augen gesprungen wäre. Alle Sprachen haben ihre Eigenheiten und Gesetze und sind nicht geschaffen, um Übersetzern ihre Aufgaben zu vereinfachen. Die vorgelegte witzige Entsprechung liegt weit über dem erreichbaren Durchschnitt. Erzwingen lässt sich ein Einfall nicht. Sonst wäre es keiner.

Die kurze überschaubare Kostprobe steht an einem Ende des weiten Spektrums . Am andern ziehen sich verschachtelte labyrinthische Sätze über Seiten hin, in denen jeder kleine Nebensatz seine eigenen Tücken aufweisen kann. Solche Gebilde sind auch bei mehreren Anläufen nicht zu durchschauen; ihre syntaktische Aufschlüsselung allein beansprucht höchste Konzentration und viel Zeit — unentgoltene Zeit!

Es ist denkbar, dass der Autor die Verwirrung seiner Leser in den Verstrickungen in Kauf genommen oder sogar beabsichtigt hat. Leser dürfen sich im Dickicht verirren, dürfen missverstehen, sogar überspringen. Nur der Übersetzer darf sich saloppe Fahrlässigkeit nicht erlauben, und muss der Konstruktion bis in die letzten Verästelungen nachgehen, d.h. zunächst sie verstehen und jedes einzelne Glied umsetzen, selbst wenn kein Leser die Feinstruktur eines ausfächernden Gebildes je bewusst aufnehmen sollte.

An einer Übersetzer-Tagung habe ich einmal mit einer tiefgründigen Plattitüde aufgewartet — dass nämlich die Welt nicht erschaffen worden ist, um Übersetzer glücklich zu machen. Das sollte vor allem die allgemeine Stimmung etwas aufheitern und leichtfertigen Trost in die Runde von stets unterschätzten Berufs- Übersetzern bringen. Es wurde aber von Ulrich auf- und offenbar ernst genommen. Ihm wurde der von der Zunft selber am höchsten geschätzte Hieronymus-Ring zugesprochen, eine Auszeichnung, kein solider Preis. Allen Gegebenheiten zum Trotz, bekannte er, sei ihm bei aller Mühseligkeit durchaus auch zufriedene Genugtuung zuteil geworden, also doch etwas von Glück. Das gönnen wir ihm. Es gibt doch noch Gerechtigkeit auf dieser Welt. Wer einen Unendlichen Spaß von gut 1500 Seiten mit unendlichen Anstrengungen auf Deutsch aufleben lässt, für den soll verdienterweise davon, d.h. von dem Spaß, den er den Lesern anbietet, auch etwas abfallen. Nur fürchte ich, dass bei aller Plackerei Spaß doch eher die Ausnahme bleibt.

Es gibt seit einiger Zeit bei literarischen Veranstaltungen die Einrichtung des “gläsernen Übersetzers”. Ulrich Blumenbach war auch oft einer von ihnen, der Entwürfe, das behutsame Vorantasten, die Abwägungen und laufenden Verbesserungen einem Publikum offen vor Augen führt. Doch eigentlich sind Übersetzer immer gläsern. In Deckung zu gehen, ist ihnen verwehrt.

Ihre Leistung liegt sichtbar offen für alle Nachprüfungen; Wir anderen, Verfasser von Kommentaren, Interpreten, Nörgler wie ich, haben es ungemein leichter: Wir können mit ausgesuchten Weisheiten auftrumpfen und alles, worüber wir nichts Gescheites auszusagen hätten, oder was wir gar nicht verstehen, diskret verschweigen. Ich selber bin mit selektiven Einsichten bisher ganz gut gefahren.

Bei Übersetzungen kann jeder kritisieren, unvermeidliche Mängel aufzeichnen und es besser wissen. Rezensenten, wenn sie sich schon auf die Übersetzung herablassen, neigen dazu, vermeintliche Fehler hervorzuheben. Im Zweifelsfall wird kaum offen gelassen, ob sich die Übersetzerinnen (denn die meisten sind heutzutage weiblich) sich auch etwas ausgedacht haben könnten. Sie geraten schon deshalb oft ins Abseits, weil ihnen der Vorteil von Autoren meistens verwehrt ist. Was man an Unstimmigem oder nicht Geglücktem bei Schriftstellern, genialen ohnehin, durchgehen lässt, weil man schwerfällige Stellen eher dem eigenen Unvermögen zuschreibt, wird Übersetzern gleich als Unzulänglichkeit angekreidet.

Ich erinnere mich an einen jungen Deutschen – unterdessen selber ein Autor –, der sich unbefangen ein Stück von Joyces Finnegans Wake vornahm, also dem Abartigsten, was bisher an Literatur vorliegt, ohne von den innewohnenden Schwierigkeiten eine Ahnung zu haben. Nach einer Diskussion voller Takt und Rücksicht stellte er am Ende eine entwaffnende Frage, die ich seither oft zitiert habe: “Wozu soll eine Übersetzung gut sein, wenn sie dasselbe aussagt wie das Original?”

Es liegt in der Natur der Sprachen und der Kulturen, dass die Gefahr vollständiger Übereinstimmung gering bleibt, schon weil eine Übersetzung anders klingen und anders daherkommen muss. Übersetzungen müssen alles verändern und sollten doch alles gleich lassen.

Im letzten Jahr ist Ulrich Blumenbach das renommierte “Zuger Übersetzer-Stipendium” zugesprochen worden für eine nächste große Herausforderung, Joshua Cohens Roman Witz, der mit ganz anderen, wiederum neuartigen Komplikationen aufwartet. Es deutet sich schon im Titel an, weil das jiddische Wort “Witz” andere Schattierungen hat als das gleich lautende und nur scheinbar identische deutsche. Wenn ein Autor ganz anders verfährt als seine Vorgänger, entstehen anders geschichtete Probleme und Widerspenstigkeiten. Und genau für derartige übersetzerische Zumutungen zieht man Ulrich Blumenbach heran. Unterdessen ist er selber Mitglied der Zuger Fachjury und wird uns bei schwierigen Entscheidungen bestehen.

Ich schließe mit dem für mich höchsten denkbaren Lob Ich habe von meiner Warte aus wiederholt schüchterne Vorstöße unternommen, Ulrich Blumenbach für mein eigenes Gebiet abzuwerben, dass er sich einen neuen, zeitgemäßen Ulysses vornimmt, was nach mehr als 40 Jahren seit der letzten, guten Übertragung überfällig wäre. Wenn es einer zustande brächte — oder skeptischer gesagt mit doppelter Verneinung: wenn es einer am allerwenigsten nicht könnte — so wäre es Ulrich.

Aber nein, so die Antwort, das nicht, und wenn schon, dann lieber gleich Finnegans Wake. Vor dem ganz Unmöglichen hat das beinahe nicht Mögliche zurückzuweichen.

Wobei wir wieder dort wären, wo alles seinen Anfang genommen und sich dann so ertragreich entwickelt hat. Was immer Ulrich Blumenbach noch unternehmen wird, neugestärkt durch die heutige Anerkennung — und wir alle hoffen auf vieles! – wenn er je zu Joyce zurückkehren sollte, so verspreche ich ihm alle denkbare Hilfe: Ich würde mein Nützlichstes tun, ihm seine Arbeit nach Möglichkeit aufmunternd zu erschweren.