(Hier folgt die ungekürzte Fassung der Laudatio, die in Übersetzen Heft 01/2023 in gekürzter Fassung abgedruckt ist)
Einmal die Ostsee mit Dank erhalten
(Laudatio auf Klaus-Jürgen Liedtke aus Anlass der Verleihung des Übersetzerpreises Ginkgo-Biloba für Lyrik im Hilde Domin-Saal der Stadtbücherei Heidelberg, 29. September 2022)
Beginnen wir mit dem rein Quantitativen: 54 von Klaus-Jürgen Liedtke aus dem Schwedischen, dem Finnlandschwedischen und mitunter auch aus dem Dänischen übersetzte Bücher listet der ihm gewidmete Wikipedia-Artikel auf: zahlreiche Lyrikbände, aber auch Prosawerke von Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts wie Almqvist, Strindberg, Tavaststjerna, Diktonius, Kihlman und Wijkmark oder auch Essaybände wie die „europäische Farbenlehre“ des schwedischen Benjamin-Übersetzers Ulf Peter Hallberg, 1995 bei Kiepenheuer in Leipzig erschienen unter dem Titel Der Blick des Flaneurs.
Stellt man diese 54 Bücher nebeneinander ins Regal, so ergibt das mehr als einen Meter Lesestoff. Noch gar nicht dabei sind jene Übersetzungen, die in Zeitschriften wie den Akzenten oder in Walter Höllerers Sprache im technischen Zeitalter veröffentlicht wurden oder auch – vor 40 Jahren bereits – in den Trajekt-Bänden des Helsinkier Otava-Verlags oder in der Avantgarde-Anthologie Auf der Karte Europas ein Fleck von 1991.
Ein weiterer Abschnitt der Wikipedia-Bibliographie verweist auf von ihm herausgegebene Werke, etwa den im Straelener Übersetzer-Kollegium erarbeiteten Band von 1984 Hölderlin träumte. Schwedische Lyrik 1965-1980 oder auch die gewichtige Anthologie Die Ostsee – Berichte und Geschichten aus 2000 Jahren, erschienen 2018 in 5.000 in kürzester Zeit verkauften Exemplaren.
Unter der Überschrift „Werke“ nennt Wikipedia schließlich noch acht Titel, für die Liedtke als Autor zeichnet: Der Gedichtband Scherben, Leben, Brocken, Tod von 2001, das lokalhistorische Büchlein August Strindberg in Stockholm, das 200 Seiten starke Taschenbuch schreiben aus einem abgeschiedenen land, eine Sammlung seiner Essays und Begleittexte, zusammengestellt zu seinem eigenen 70. Geburtstag im Dezember 2020 sowie die beiden 2008 bzw. 2018 in der Anderen Bibliothek erschienenen, auf jahrzehntelangen Oral history-Recherchen fußenden familien- bzw. dorfgeschichtlichen Ostpreußen-Bücher. Am Schluss des zweiten dieser Bände findet sich das autobiographische Bekenntnis, dass für ihn „das Schwedische und Schweden auch der Eingang zu anderen Kulturen (waren): der russischen, finnischen, sámischen.“
Mit all dem hat man freilich noch längst nicht all das beisammen, was den durch Jahrzehnte freiberuflich arbeitenden Schriftsteller, Übersetzer und Herausgeber Liedtke ausmacht. Denn hinzudenken muss man sich zu dieser reichen Papierfracht noch ein stetig wachsendes digitales Textarchiv, die Virtuelle Ostseebibliothek bzw. Baltic Sea Library. In ihr werden seit 2010 Gedichte, Erzählungen, Romanauszüge, Hörspiele und Essays veröffentlicht – und zwar nicht nur auf Deutsch, sondern in allen Sprachen der Ostseeanrainerstaaten plus Latein – und das Lateinische natürlich, um auch ältere Texte berücksichtigen zu können, die über die zirkumbaltischen Regionen und ihre Bewohner Auskunft geben.[1]
Also: 14 Sprachen sind es insgesamt und etwa 100 Essays sowie 500 literarische Texte von 350 Autoren. Gesteuert wird dieser interkulturell-plurilinguale Ostseedampfer von Klaus-Jürgen Liedtke. Zur Unterstützung angeheuert hat er ein 14-köpfiges Herausgeberteam, je ein Kopf für eine der beteiligten Sprachen, für das Dänische und Finnische ebenso wie für das Lettische und Deutsche, für das Litauische und Estnische ebenso wie für das Polnische und Russische.[2]
Undurchführbar ist natürlich die Idee, jedes Gedicht, jede Erzählung und jeden Essay der Ostseebibliothek auch in die jeweils dreizehn anderen Sprachen übersetzen zu lassen. Aber man staunt, wie viel bereits in vielen Sprachen vorliegt… an der Spitze gewiss die dreizehn Versionen von Tomas Tranströmers wundersamem Langgedicht über die Baltischen Meere: Östersjöar. Vorgelesen sogar kann man sich diesen Ostsee-Grundtext des schwedischen Nobelpreisträgers in neun Sprachen anhören, 25 oder 30 Minuten dauert das pro Sprache, die deutsche Übersetzung von Hanns Grössel liest der Dichter-Verleger Michael Krüger.
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Beim Herumklicken, beim Stöbern in Liedtkes Virtueller Ostseebibliothek stieß ich auf ein von ihm ins Deutsche gebrachte Gedicht des Finnlandschweden Henry Parland. Es entstand 1929 oder 1930 und es geht so:
Vor dem Grab des unbekannten
Soldaten in Kowno,
eingeklemmt zwischen Juden Deutschen Litauern
wiederum Juden
durchströmt mich Patriotismus
wenn die Elektrizität aufflammt
im Grabkreuz
und alle Juden ihre Köpfe entblößen
für die Nationalhymne
Kowno, das ist der polnische bzw. russische Name für Kaunas, die Kulturhauptstadt EU-Europas in diesem Jahr 2022. Als Parland sein Gedicht schrieb, war Kaunas noch die provisorische Hauptstadt der Republik Litauen, eines Staates, der sich gleich Finnland, Estland oder Lettland nach der Oktoberrevolution aus dem russischen Imperium gelöst hatte.[3]
Einen eigenen Staat also hatten die Litauer mit eigener Hymne, eigener Fahne, eigenen Briefmarken und Geldscheinen, mit eigener Armee und eigenem Erbfeind (das waren 1930 die Polen) und sogar mit Helden, die für das Zustandekommen dieses Staates ums Leben gekommen waren. Und wie das nach dem Massenmorden des ersten Weltkriegs überall in Europa Brauch geworden war, errichtete man auch in Kaunas ein Grabmal des unbekannten Soldaten. An dem versammelte man sich einmal im Jahr und entblößte sein Haupt, wenn zum Abschluss der Totenfeier von der aufmarschierten Militärkapelle die Nationalhymne intoniert wurde. Das war in Kaunas nicht anders als in anderen Hauptstädten Europas.
Etwas anderes aber ist anders in Kaunas 1930, wenn man Parlands Gedicht und seiner Übersetzung trauen darf: dass dort nämlich nicht nur die Angehörigen der Titularnation zusammenkommen, sondern dass dort auch Deutsche und Juden, Juden vor allem, dicht beieinander stehen. Ungewöhnlich ferner, dass auf diesem Heldengrabmal ein Kreuz angebracht ist, das plötzlich durch Glühbirnen erleuchtet wird, als wolle man zeigen, wie modern man inzwischen in der Hauptstadt im sonst noch so rustikalen Litauen geworden ist. Und die Juden, die den, der da am Kreuz gestorben sein soll, keineswegs als ihren Messias anerkennen können, die nehmen beim Aufflammen des Lichts vor diesem Kreuz ihre schwarzen Hüte und ihre Kippot vom Kopf.
Zwischen ihnen, eingezwängt in der Masse, steht der fremde teilnehmende Beobachter und hat das Empfinden, auch selbst unter Strom gesetzt zu sein von dieser patriotischen Inszenierung. Der Nationalismus als säkularisierte Religion – staunt darüber der Fremde? Macht er sich sogar lustig darüber? Fragt er sich womöglich, warum es neuerdings in vielen Ländern solche Gräber des unbekannten Soldaten gibt, aber nirgendwo ein Grab des unbekannten Demokraten oder des unbekannten Kommunisten … Und wundert er sich, dass auch die Juden an diesem litauisch-katholischen Nationalritual teilnehmen? Die Juden, von denen es wohl 30.000 in Kaunas 1930 gegeben hat unter den insgesamt etwa 100.000 Einwohnern.
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So kann man vom Hölzchen aufs Stöckchen kommen, wenn man einmal mit dem Herumklicken in der Virtuellen Ostseebibliothek begonnen hat. In die Suchmaske hab ich noch das Wort „Kaunas“ eingegeben und kam auf über 70 Treffer. In vielen ging es um das Gedicht Kaunas 1941 von Johannes Bobrowski[4] und man kann es in estnischer, litauischer, russischer und schwedischer Übersetzung lesen: Es ist ein Gedicht über den Anfang der Auslöschung der Judenheit in Kaunas und ganz Litauen: „Am Tor / lärmen die Mörder vorüber. Weich / gehn wir, im Moderduft, in der Wölfe Spur.“
Der eine oder die andere von Ihnen wird Helene Holzmans Buch Dies Kind soll leben kennen, im Frankfurter Schöffling Verlag erschienen, ein Bericht über diese schreckliche Schreckenszeit der Jahre 1941 bis ‘44, herausgegeben von Reinhard Kaiser, der zuvor schon den Band Königskinder veröffentlicht hatte über eine scheiternde jüdisch-deutsch-schwedische Liebe, die ebenfalls in Kaunas spielt. Klaus-Jürgen Liedtke hat seinem Übersetzerkollegen Kaiser für dessen Recherchen in Stockholm entscheidende Hilfe geleistet, sonst besäßen wir vielleicht diese beiden wichtigen Bücher gar nicht …
Doch noch zurück zu Parland: Warum benutzt er eigentlich nicht den litauischen Namen der litauischen Hauptstadt? Warum spricht er von „Kovno“ statt von „Kaunas“? Hatte er das jiddische „Kovne“ im Ohr? Oder war „Kowno“ in der Schwedischen Botschaft in Kaunas, in der Parland als Sekretär arbeitete, die geläufige Variante für den Namen der Stadt? So wie man in Deutschland damals von „Helsingfors“ sprach, wenn man Helsinki meinte. Aber warum hat auch der Übersetzer diese polnisch-russische Namensform statt der litauischen beibehalten? Oder steckt noch anderes dahinter? Dass vielleicht in diesem kleinen Text auf Schwedisch wie auf Deutsch jemand spricht, dem die Reihung von: ein Volk – ein Reich – eine Sprache nicht selbstverständlich war. Henry Parland wurde 1908 im finnisch-vielsprachigen Wiborg/Viipuri geboren, im Elternhaus redete man Deutsch; dann zog die Familie für mehrere Jahre nach Kiew und Sankt Petersburg, noch als Zehnjähriger hat Parland angeblich am liebsten Russisch gesprochen; aus Russland ging es zurück nach Finnland, Parland kam auf eine finnischsprachige Schule in Helsinki und schließlich auf ein schwedischsprachiges Gymnasium in einem Villenvorort der finnischen Hauptstadt. Das Schwedische soll er erst mit 14 Jahren erlernt haben, aber in dieser Sprache wurde er zum Dichter. 1929 schickte die Familie ihn nach Kaunas, wo er am 10. November 1930 starb, am Scharlachfieber, mit 22 Jahren.
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Klaus-Jürgen Liedtke hat seine Parland-Texte nicht nur in der Ostseebibliothek veröffentlicht, er hat einen ganzen Band mit Parland-Gedichten übersetzt, innerhalb von zwei Wochen während eines New York-Aufenthaltes im Herbst 2013. Erschienen ist das Buch bei Kleinheinrich 2014, als Finnland Ehrengast auf der Frankfurter Buchmesse war. Und Kleinheinrich hat zu diesem Anlass nicht nur diesen Parland-Band veröffentlicht, sondern noch vier weitere Lyrikbände finnlandschwedischer Avantgarde-Dichter: Edith Södergran, Elmer Diktonius, Rabbe Enckell und Gunnar Björling. Allesamt wurden sie herausgegeben und übersetzt von Klaus-Jürgen Liedtke. Sein Name steht jeweils auf dem schneeweißen Umschlag sowie auf dem Titelblatt und jeder Band enthält einen Begleittext von ihm, in dem er sich auch zu den übersetzerischen Entscheidungen äußert. Diese fünf poetologischen Texte sind nicht als Nachworte platziert, sondern sie stehen am Anfang jedes Bandes. Was zeigt: Für diesen Übersetzer gilt die Klage über die Unsichtbarkeit der Translatoren im verlegerischen Peritext mitnichten. Und ich finde es korrekt, dass er für diese Hervorhebung des Übersetzernamens Josef Kleinheinrich öffentlich gedankt hat, in seiner Rede von 2005 zur Verleihung des Celan-Preises.
Mit diesem Preis wurde Klaus-Jürgen Liedtkes siebenbändige Ausgabe der Werke Gunnar Ekelöfs gewürdigt, an der er – vielfältig unterstützt von dem Ekelöf-Interpreten Anders Olsson[5] – durch 13 Jahre gearbeitet hatte und die ebenfalls bei Kleinheinrich erschienen war – zweisprachig, wie das auch bei dem Espmark-Band von 2011, dem Stagnelius-Band von 2013 und den fünf Lyrik-Büchern der finnlandschwedischen „Modernisten“ gemacht wurde. Stets kann man als Leser den Blick von der rechts abgedruckten deutschen Version nach links zum Original schweifen lassen und dann doch das eine oder andere bemerken, selbst wenn man kein Schwedisch gelernt hat.
In der vor einigen Monaten wiederum bei Kleinheinrich erschienenen, buchkünstlerisch aufwendigst gestalteten Ausgabe mit Gedichten, Erzählungen und Essays aus dem Nachlass von Inger Christensen wurde auf den Abdruck der dänischen Gedichte verzichtet. Das finde ich schade, zumal in dem Band neben seinen eigenen Übersetzungen auch einige seines 2012 verstorbenen Übersetzerkollegen Hanns Grössel stehen. Hier vermisst man erst recht den Abdruck auch des dänischen Originals, und sei es nur, um herauszufinden, ob es in Inger Christensens Text ebenfalls jenen – an Thomas Klings Wortzerlegungskunst erinnernden – morphologischen Verssprung gibt, mit dem Liedtke im Gedicht Stilleben das Wort „Natur-zustand“ auf zwei Zeilen verteilt, während es bei Grössel unzerbrochen in einer Zeile steht.
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Damit sind wir bei Detailfragen zum WIE des Übersetzens angelangt oder auch zu jener Tradition, in die sich Liedtke stellt. Er hat sich dazu mehrfach ausführlicher geäußert. In seiner Celan-Rede etwa benennt er drei Personen, denen er es verdanke, Übersetzer geworden zu sein: Paul Celan, Elmar Tophoven und Manfred Peter Hein. Ferner findet sich dort die Aussage, dass „ohne poetischen Funken in der eigenen Sprache Übersetzung von Lyrik kaum denkbar (wäre),“ sowie die zustimmend zitierte Enzensberger-Sentenz: „Was nicht selber Poesie ist, kann nicht Übersetzung von Poesie sein.“ An anderer Stelle fügt Liedtke diesem Diktum die spannende Frage nach den Kriterien an, die für eine Unterscheidung zwischen guter und schlechter Poesie zur Verfügung stehen – unabhängig davon, ob wir es mit einem Original oder der Übersetzung eines Gedichts zu tun haben.
Sehr souverän und keine Spur beleidigt hat er auf eine Rezension, einen – wie er selbst formuliert – „fulminanten Verriß“ seiner Södergran-Übersetzung geantwortet, die 2003 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen war. Am konkreten Beispiel postuliert Liedtke das „Eigenschöpferische“ bzw. den „Eigen-Sinn“ als das „Produktive“ seiner Södergran-Versionen. Man muss weder dem Kritiker noch dem Übersetzer in jedem Detail beipflichten, aber man wird sagen können, dass Liedtke ein in hohem Maße selbstbewusster und reflektierter Übersetzer moderner Poesie ist. Er ist ein Kopfmensch, der Phänomenen der klanglichen Gestaltung der Verse und Strophen gründlich nachfragt, auch Vorgängerübersetzungen studiert, bevor er sich dann auf seine eigene ihm als „neu“ und „zeitgemäß“ erscheinende Verdeutschung festlegt.
Wie sich sein Ausdrucksrepertoire durch die Jahrzehnte entwickelt hat, wie er auch der Nachbildung einzelner poetischer Techniken – etwa dem Reim oder den antikisierenden Vers- und Strophenformen bei Stagnelius – bewusst aus dem Weg geht, wäre ein spannendes Thema für eine skandinavistisch informierte Übersetzerstudie. Anfangen könnte man mit jenen – noch gar nicht am literarischen Höhenkamm ausgerichteten – 24 Liedtext-Übersetzungen, die er 1979 seinem dokumentarischen Sammelband über die alternative Musikbewegung in Schweden angefügt hat. Den Stockholmer wie Westberliner Zeitgeist der 70er Jahre, man findet ihn dort in rotzfrechen Liedern; etwa in Wir machen das unmoralische Schlagerfestival mit ätzenden Versen auf ABBA, die „auf alles scheissen / um schnell Kohle zu machen“, aber in ihren „Kleidern aus Plastik“ genauso tot seien wie Heringe in Konserven – dazu die Fußnote des Übersetzers: „Der ABBA-Konzern ist der grösste Hersteller von Heringskonserven in Schweden.“
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Zum Thema Poesie und „Kohle machen“ darf ich noch kurz ein zweites Gedicht von Henry Parland vorstellen, das sich mir schon Anfang der 80er Jahre in der Übersetzung von Wolfgang Butt eingeprägt hatte. In Liedtkes Deutsch geht es so:
Herr Gott,
laß uns lieber
in Geld dichten
wie Ivar Kreuger
oder Basil Sacharoff;
die pfeifen auf den Nobelpreis.
Reißen ein Blatt aus der Geschichte
und quittieren:
einmal Europa
dankend erhalten.
Wieder sind es wie vorhin bei Kowno / Kaunas im Gedicht vorkommende Namen, die zu weiterer Recherche ermuntern. Bei Ivar Kreuger wird man rasch fündig: Er schuf nach dem ersten Weltkrieg einen Konzern, der mit 750.000 Mitarbeitern die Zündholzproduktion in 33 Staaten kontrollierte. Er gab finanzschwachen Ländern wie Deutschland, Ungarn, Rumänien oder Polen riesige Kredite und ließ sich im Gegenzug das Streichholzmonopol geben. Von seinem unerhörten Reichtum zeugt der 1926/28 in Stockholm erbaute Zündholzpalast.
Verwickelter war die Suche nach Basil Sacharoff. Ich vermutete zunächst einen entfernten Verwandten des sowjetischen Atomphysikers, Stalinpreisträgers und späteren Dissidenten Andrej Sacharov, aber unter dem russischen Namen war kein Basil oder Vassili zu entdecken. Erst nach langem Hin und Her wurde mir klar, dass Parland einen Griechen gemeint haben muss: Zacharias Basileos Zacharoff, im Griechischen mit Zeta und Omega geschrieben und also mit „Z“ statt mit „S“ (wie bei Parland und Liedtke) zu transliterieren und auf der vorletzten Silbe zu betonen: Basil Zachároff. Dieser griechische Zachároff war der bedeutendste Waffenhändler und einer der reichsten Leute seiner Zeit. Oft belieferte er beide Kriegsparteien und wurde als Kriegshetzer geschmäht. Er mied konsequent die Öffentlichkeit. 1929 erschien auf Deutsch, Englisch und Schwedisch eine Biographie dieses – wie es im Buchtitel hieß – „mysteriösen Europäers“.
All das hat Parland natürlich gewusst, als er 1929/30 sein Gedicht in Kaunas schrieb, und gewiss auch, dass Alfred Nobel einst seine Patente für Dynamit jenem Basil Zachároff verkauft hatte, über den zudem das böse Gerücht verbreitet wurde, dass er in Wahrheit kein Grieche sondern ein litauischer Jude sei.
„Einmal Europa / dankend erhalten“ – so tönt es aus Parlands Gedicht über zwei mächtige Repräsentanten des, wie wir es heute nennen würden, militärisch-industriellen Komplexes. Dass deren Nachfolger ungebrochen erfolgreich „in Geld dichten“, auf den Nobelpreis pfeifen und erneut quittieren: „einmal Europa / dankend erhalten“ – darin mag man die unerwünschte Wahrheit dieser schlichten Verse sehen.
Ein Weilchen sah es so aus, als könnte zumindest die Ostsee ein „Meer des Friedens“ werden. 1992 versammelten sich 400 Schriftsteller aus allen Ostseeanrainerstaaten zu einer Mare balticum-Kreuzfahrt. Unter ihnen auch Klaus-Jürgen Liedtke. An Bord des Friedensdampfers schloss er u.a. Freundschaft mit Oleg Gluschkin, dem Schriftsteller aus Königsberg, aus Kaliningrad in Preussisch-Russland.
Die Aufbruchstimmung dieser 1990er Jahre findet ihr Echo noch im Ostsee-Kosmopolitismus der Virtuellen Ostseebibliothek. Hanna Sjöberg, die schwedische Künstlerin und Lebensgefährtin von Klaus-Jürgen Liedtke kuratierte 2014 die Installation „Har du minnen från Östersjöstranden när havet var delat av Järnridån?“ – „Haben Sie Erinnerungen an die Strände der Ostsee aus der Zeit des Eisernen Vorhangs?“ – Schaut man sich im Netz die Installationen an, so fröstelt es einen nicht nur bei jenem Bild des am Strand mit seinem kleinen Segelboot spielenden Knaben und der Bildunterschrift „om kriget kommer“ – „Wenn der Krieg kommt“.
Dunkle Wolken über der Ostsee, in dessen Anrainerstaaten man nicht mehr nach „Schwertern zu Pflugscharen“ ruft, sondern nach „Frieden schaffen mit besseren Waffen“. Aber gilt zumindest hier noch der Satz aus dem Katrin wird Soldat-Roman der Adrienne Thomas: „Das einzige internationale Verständigungsmittel ist die Kunst“?
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Zum Schluss ein Wunsch, wie ich ihn ähnlich vor zwei Jahren für Richard Pietraß geäußert habe: Könnte Klaus-Jürgen Liedtke aus seinem so vielschichtigen übersetzerischen Œuvre nicht eine Auswahl der überzeugendsten Gedicht-Übersetzungen zusammenstellen und dazu ein Vor- oder Nachwort schreiben mit Auskünften über seinen Weg ins Übersetzen? Auf dem Umschlag dieser Anthologie – Arbeitstitel: Einmal die Ostsee mit Dank erhalten – sollte stehen: Übersetzerpreis Ginkgo-Biloba für Lyrik 2022.
[1] wie etwa die Historia de Gentibus Septentrionalibus von Olaus Magnus aus der Mitte des 16. Jahrhunderts.
[2] Kriterium für die Aufnahme eines Textes in die Ostseebibliothek ist seine „balticness“, sein „Ostseeisches“. Wobei dieses Kriterium nicht allzu engherzig angewandt wird, nicht in jedem Beitrag muss die Ostsee explizit erwähnt werden und sogar Isländisches und Lappisch/Sámisches findet sich in dieser frei zugänglichen digitalen Bibliothek.
[3] Die eigentliche Hauptstadt der jungen Republik sollte Vilnius sein, doch die Stadt und das umliegende Gebiet hatte Polen 1920 okkupiert. Erst Stalin sollte es dann in der Folge seines Paktes mit dem Deutschen Reich im Oktober 1939 den Litauern zurückgeben. Aber 1930 ist das noch ungeahnte ferne Zukunft.
[4] Zwölf Bobrowski-Gedichte hat Klaus-Jürgen Liedtke 2006 im Ostseezentrum in Visby auf Gotland in viele Sprachen übersetzen lassen und die Ergebnisse der Bobrowski-Werkstatt 2013 im Saxa-Verlag veröffentlicht.
[5] Anders Olssons herausragende Dissertation von 1983 hat Liedtke ebenfalls übersetzt: Ekelöfs Nein. Der poetische Kosmos Gunnar Ekelöfs. Münster: Kleinheinrich 2013. 355 S.