(Hier folgt die ungekürzte Laudatio von Karin Betz, angekündigt in Übersetzen 01/2021 )
Liebe Claudia,
liebe alle, die diese Laudatio nun nicht wie geplant zu hören, sondern nur zu lesen bekommen –
An einer Stelle in Virginie Despentes Vernon-Subutex-Trilogie heißt es: Le son est exellent, ce type et un génie. Ein schlichter Satz, verständlich selbst für jemanden, der des Französischen nicht besonders mächtig ist und ihn sich im Kopf vielleicht zu «Der Sound ist ausgezeichnet, der Typ ist ein Genie» übersetzt. Claudia Steinitz übersetzt: «Der Sound ist great, der Mann ist top». Und man möchte jubeln und dasselbe über Claudia sagen, die in einem Interview behauptet hat, «keine besonders mutige Übersetzerin» zu sein und damit so kleine, aber wichtige und mutige Schritte wie den vom «génie» zu «top» überspielt. Vielleicht möchte sie sich damit bescheiden hinter Übersetzerkolleg*innen stellen, die sich an der explosiven sprachlichen Kreativität eines David Mitchell messen müssen wie Volker Oldenburg. Dabei wissen wir, die wir übersetzen, alle, dass der Schwierigkeitsgrad einer Übersetzung nicht an augenfälligem Wortreichtum (an diesem natürlich auch!) zu messen ist.
Despentes vielstimmiger Roman wechselt immer wieder die Erzählperspektive, an der zitierten Stelle sitzt der Leser im Kopf eines reichen, kokainsüchtigen Ex-Traders, der gerade Vernons DJ-Performance kommentiert. Und der muss auf Deutsch genau so klingen, wie Claudia Steinitz ihn übersetzt und nicht anders. Über die Models auf seiner Party denkt er «Einwegmodelle. Der letzte Loser packt sich eine vom Laufsteg ins Bett.» Man hat diesen Typen sofort vor Augen und nicht nur vor Augen; man bekommt eine Gänsehaut vor seiner furchtbar alltäglichen Widerlichkeit.
Die Autorin ist eine Meisterin darin, sich in die verquere Logik der Denkwelten aller ganz normal bis extrem gefährlich Verrückten der modernen (Pariser) Gesellschaft einzudenken und es dem Leser zu überlassen, sie anhand ihrer Sprache zu entlarven. Einer Sprache, die uns erlaubt, eine Art des Denkens und Fühlens nachzuvollziehen, die uns abgrundtief zuwider ist, und zwar ohne, dass dieses Denken süffisant, kritisch oder polemisch vorgeführt wird und auch ohne, dass von uns erwartet wird, es zu verstehen. Wie diese Grenzverschiebungen sich erst subtil in der Sprache, dann radikal im Handeln äußern, ist das Beklemmende an diesem Roman – und das beglückende an Claudias Übersetzung. Eben diese Grenzbereiche von Sprache auszuloten, bis zu dem Augenblick, in dem die Leserin erschrocken feststellt, dass ein eben noch sensibel wirkender Typ in Wirklichkeit ein brutaler wie selbstmitleidiger Frauenschläger ist, und das ganz ohne Klischee, ohne eine Farce zu sein, ist große Kunst. Wie denkt und redet ein Frauenschläger? Ein Obdachloser, der im Lotto gewonnen hat und nicht weiß, was er mit dem Geld anfangen soll? Oder die auf Lynchmorde in sozialen Netzwerken spezialisierte «Hyäne», die zur Detekivin avanciert: «Sie hat ihr Repertoire falscher Identitäten deutlich erweitert, und sie will ja nicht angeben, aber ihr Schwachsinn ist viral. In achtundvierzig Stunden verpestet sie das Netz.»
Claudia Steinitz hat in einem Interview erzählt, dass sie sich für die Recherche zu dieser Übersetzung auch stundenlang mit einem Obdachlosen unterhalten hat – und diese Nähe, die Unmittelbarkeit ihrer deutschen Subutex-Sprache spürt man bei jedem Wort: Das sitzt! Es sitzt auch dann, wenn es um Gestalten geht, von denen ich hoffe, dass Claudia nicht erst den Umgang mit ihnen suchen musste, um uns mitten in deren wirrem Kopf landen zu lassen.
Virginie Despentes gerät nie in Versuchung zu urteilen, anstatt zu beobachten. Diesen Balanceakt nachzuvollziehen und sich nicht dazu hinreißen zu lassen, dicker aufzutragen, durch die Wahl des falschen Adjektivs zu kommentieren oder zu suggerieren – das erreicht man nicht allein durch ständige Recherche im Thesaurus oder das gezielte Lesen aller sprachlichen Äußerungen von Fanzines bis Bekennerschreiben. Man muss die Persönlichkeit mitbringen, die diese sprachliche Fairness zulässt. In einem Gespräch über ihre Übersetzung einer ihrer Lieblingsschriftstellerinnen. Albertine Sarrazin, weist Claudia Steinitz darauf hin, wie wichtig es ihr war, den Widerspruch, den «Charme der Fallhöhe zwischen enormer Bildung und miserablen Lebensumständen», der sich in den extremen Sprachregistern Sarrazins ausdrückt, zu erhalten und den Wechsel zwischen einer scheinbar zu gehobenen, poetischen Sprache und derbstem Argot nicht einzudampfen, um den Charakter plausibler erscheinen zu lassen. Das klingt dann so: «Da dachte ich, ich könnte die Sommersonnenwende, diesen Gauneräquator, in Freiheit überschreiten, und nun bin ich vor den Stichen der Sonne und den Süchten des Mondes geschützt, aber dafür den Schlägen in die Fresse und den Stürzen der Seele ausgesetzt für eine entsetzlich bestimmte Zeit.»
Mit diesem Preis wird eine Übersetzerin, aber vor allem auch eine Persönlichkeit ausgezeichnet. Eine, die sich einlässt und engagiert, auch in der Arbeit für die Sache der Übersetzer*innen, im VdÜ, als Gründungsmitglied der Weltlesebühne und aktuell als Vertreterin des VdÜ im Rat der Europäischen Literaturübersetzerverbände CEATL. Obwohl sie seit 1989 über hundert Romane aus dem Französischen und Italienischen übersetzt hat, ist Claudia Steinitz 2020 zum ersten Mal mit gleich zwei wichtigen Preisen ausgezeichnet worden, dem Cotta-Übersetzerpreis der Stadt Stuttgart und jetzt mit dem Scatcherd-Preis der Rowohlt-Stiftung. Vielleicht, weil sie mit radikalen Autorinnen wie Despentes und Sarrazin zeigen konnte, wie viel sprachlichen Rock’n’Roll sie auf dem Kasten hat. Den Rock’n’Roll, der am Ende der Subutex-Trilogie doch noch hoffnungsvoll in die Zukunft weist.
Ich freue mich, dass ich Dir, liebe Claudia, zu diesem Rock’n’Roll heute, als noch sehr unbedarfte Kollegin, Mitstreiterin und als leidenschaftliche Tänzerin, sehr herzlich gratulieren darf.