(Hier folgen die ungekürzte Fassung der Laudatio, die in Übersetzen Heft 2/2019 in gekürzter Fassung abgedruckt ist, sowie die ebenfalls ungekürzte Dankesrede der Hauptpreisträgerin)
Erfinden, was es schon gibt
Laudatio zum Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW 2019
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Jury, liebe Olga Radetzkaja, lieber Jan Schönherr,
Die beiden Übersetzungswerke, die heute mit dem Straelener Übersetzungspreis ausgezeichnet werden, sind in jeder Hinsicht gegensätzlich: Wir haben zum einen den Augenzeugenbericht eines russischen Literaturwissenschaftlers aus dem Bürgerkrieg 1917-1922, und wir haben zum anderen das Romandebüt eines britischen Sachbuchautors, das im New York des 18. Jahrhunderts spielt. Auch sprachlich stellen Viktor Schklowskijs „Sentimentale Reise“ und Francis Spuffords „Neu York“ ihre Übersetzer vor ganz unterschiedliche Herausforderungen.
Doch die beiden Werke haben auch Gemeinsamkeiten. So stellen beide Texte höchste Ansprüche an die Kunst des Übersetzens. Und noch etwas Weiteres ist ihnen gemein: Die Veröffentlichung ihrer deutschen Fassung im Jahr 2017 fand in den Feuilletons kaum Widerhall. Die Jury korrigiert mit ihrer Entscheidung also auch ein Versagen der Literaturkritik – dafür danke ich den Juroren.
Der Straelener Übersetzerpreis 2019 geht an Olga Radetzkaja für ihre Übersetzung von Viktor Schklowskijs „Sentimentale Reise“ aus dem Russischen. Olga Radetzkajas übersetzerisches Werk umfasst Klassiker wie „Die Kreutzersonate“ von Tolstoi ebenso wie Neuerscheinungen, etwa von Maria Stepanova, Michail Schischkin oder Evgenij Vodolazkin. Und sie übersetzt nicht nur Belletristik, sondern auch theoretische Texte, hier wären etwa Pawel Florenskij, Ilya Kabakov oder Jurij Lotman zu nennen.
Das Wichtigste beim Übersetzen sei die gedankliche Klarheit, sagt Olga Radetzkaja, und diese Klarheit prägt denn auch den Stil ihrer Übersetzungen: In ihrer Sprache fühle ich mich immer aufgehoben. Das ist umso wichtiger, als die Werke, die sie übersetzt, meist nicht einfach zu lesen sind. Das gilt in besonderem Maß für Viktor Schklowskijs „Sentimentale Reise“. Dieses Buch sei eine Zumutung, sagt der Lektor Ron Mieczkowski in seinem Empfehlungsschreiben für den Straelener Übersetzerpreis. In der Tat: Wer bei der „Sentimentalen Reise“ einfach so mit Lesen beginnt, schlägt sich an den schroffen Sätzen buchstäblich die Stirn blutig. Wir platzen mitten in das Reservepanzerbattaillon hinein, in dem Schklowskij als Ausbilder dient, ohne auch nur den Namen der Stadt zu erfahren, die hier zum Feldlager umfunktioniert wurde. Und so geht es weiter: In diesem Text nimmt uns niemand an die Hand.
Wie gut, dass es Nachworte gibt. Es ist die Übersetzerin, die uns auf diese Weise Beistand leistet, zusammen mit ihrem Kollegen Anselm Bühling, der auch die überaus hilfreichen Anmerkungen überarbeitet hat und der heute ebenfalls anwesend ist. Ihre Nachworte sind Teil von Olga Radetzjakas übersetzerischem Werk, ebenso wie ihre Essays zur Theorie des Übersetzens. Im Nachwort gibt sie uns Einblick in die Voraussetzungen eines Texts, sie skizziert seinen historischen Hallraum und erkundet seine inneren Prinzipien.
Wenn ich Olga Radetzkajas Nachworte lese, denke ich oft an einen Satz von Thomas Harlan: „Welcher Leser wüßte nicht, daß ein Werk allein aus sich selbst die Gesetze ableitet, nach denen es hergestellt, aus nichts anderem als sich selbst gemacht und also autonom ist.“ Diese Gesetze, nach denen sich ein Werk aus sich selbst heraus erschafft, entstehen oft unbewusst. Der Autor muss sie nicht kennen – die Übersetzerin dagegen schon. Olga Radetzkajas Arbeit beginnt mit der Erkundung dieser inneren Gesetze des Erfindens.
„Erfinden, was es schon gibt“ – den Titel meiner Laudatio habe ich einer der „Kindergeschichten“ von Peter Bichsel entnommen. Der Erfinder in dieser Geschichte hat sich in den Wald zurückgezogen und erfindet ausnahmslos Dinge, die es schon gibt: Rolltreppen, Fernseher und so weiter. Als die „Kindergeschichten“ 1969 erschienen, bemerkte keiner der Rezensenten, dass mit diesem Erfinder eigentlich der Schriftsteller gemeint ist. Oder die Übersetzerin.
Denn: Erfinden, was es schon gibt, das gilt nicht nur für die Arbeit des Schreibens, sondern erst recht für die Arbeit des Übersetzens. „Auch im Original sind die Sätze dieses Buchs von viel Raum, viel Leere umgeben“, lesen wir in Olga Radetzkajas Nachwort zur „Sentimentalen Reise“. „Aber woraus entsteht diese Wirkung? Woraus besteht dieser Text, und wie fängt man an, ihn zu übersetzen?“ Im Nachwort bereitet Olga Radetzkaja uns vor auf das Prinzip der Lakonie, auf die schroffen Abbrüche. Es gehe darum, die Offenheit des Originals zu bewahren und der Versuchung zu widerstehen, für den Leser Brücken zu bauen.
Von W. G. Sebald stammt die Wendung der „Bannung des Schreckens durch den Satzbau“. Das gilt gerade auch dort, wo der Satzbau sich auf die elementarsten Mittel beschränkt. Viktor Schklowskij und Olga Radetzkaja sind beide Meister der Lücke. Es ist eine Virtuosität, die man nicht sehen kann, denn die Kunst des Weglassens geschieht naturgemäß im Verborgenen.
Ich habe in der „Sentimentalen Reise“ einen Satz gefunden, der diese Poetik der Lücke in ein Bild fasst. Man sehe den Fußspuren eines Menschen nicht an, wie viel Gewicht er trägt, schreibt Schklowskij: „Seine Spuren sind nur manchmal tiefer, manchmal flacher.“
Schklowskij wollte in seiner Erzählung des Unzumutbaren die Spuren vertiefen. Die Worte seines Texts graben sich in unser Bewusstsein ein, wie Stiefel in die Erde. Die Stiefel sehen wir dabei oft nicht. Eine der Herausforderungen für das Übersetzen besteht demnach im Vertiefen der Spuren, auch in der deutschen Sprache.
Woraus entsteht die Wirkung?, fragt Olga Radetzjaka. Um die Leistung ihrer Übersetzung zu würdigen, muss ich daher mit der Wirkung beginnen, die der Text auf mich als Leserin hat.
Beginnen wir mit dem harmlosesten Fall von Lakonie: der wohlgesetzten Lücke als Technik des Witzes.
Über seinen Großvater mütterlicherseits schreibt Schklowskij:
„Karl Bundels Russisch war schlecht. Was er gut konnte, war Latein, aber am liebsten ging er auf die Jagd.“
Ein bisschen weniger harmlos sind jene Passagen, die zum politischen Witz tendieren:
„Das Sowjetregime hatte mittlerweile alle zu maximalem Zynismus im Umgang mit Papieren erzogen. Hätte man sich an die Regeln gehalten, wäre das auf Sabotage hinausgelaufen.“
Schklowskij mutet uns eine seitenlange Beschreibung der Leiden eines Mannes namens Gorban zu, darunter die Schilderung der Amputation von Gorbans Bein. Die Lektüre ist eine Zumutung.
„Wem diese Beschreibung nicht gefällt, der soll gefälligst keine Kriege führen.“
Kein moralischer Appell, kein „Nie wieder Krieg!“, sondern ein äußerst beredtes Schulterzucken. Und doch kann man es eindringlicher nicht sagen.
Mit anderen Worten: Schklowskij geht es darum, mit minimalen Mitteln maximale Wirkung zu erzeugen. Olga Radetzkaja hatte Sätze zu übersetzen wie diesen:
„Der zweite Gefangene war fast noch ein kleiner Junge, und wenn er nicht am nächsten Tag erschossen wurde, haben sie ihn am übernächsten wahrscheinlich laufenlassen.“
Oder:
„Unsere verhafteten Kameraden wurden erschossen. Erschossen wurde auch mein Bruder.“
Solche Lakonie trifft uns wie ein Faustschlag in die Magengrube, ohne jede Warnung.
Viktor Schklowskijs „Sentimentale Reise“ besteht aus lauter einfachen Sätze und schlichten Worten, doch diese sind von enormer Sprengkraft. Dass auf den 411 Seiten auch im Deutschen jedes dieser Worte sitzt, verdankt der Autor seiner Übersetzerin. Ich möchte Olga Radetzkaja eine unerschrockene Übersetzerin nennen. Sie sie ist es, die dafür sorgt, dass der Schmerz dieser ausgesprochen unsentimentalen „Sentimentalen Reise“ zu unser aller Schmerz wird.
Diese Unerschrockenheit übrigens hat sie auch in anderen Übersetzungen bewiesen, etwa Julius Margolins „Reise ins Land der Lager“ über den Gulag, gegenwärtig ist sie mit der Fertigstellung von David Roussets „L’univers concentrationnaire“ beschäftigt, ihre erste Übersetzung aus dem Französischen.
„Die Kunst ist kein Genuss, kein Trost und kein Spaß: Die Kunst ist eine große Sache.“ Diese Worte von Tolstoi zitiert Olga Radetzkaja in ihrem Nachwort zu ihrer Neu-Übersetzung der „Kreutzersonate“. Ein Spaß ist Viktor Schklowskijs „Sentimentale Reise“ keinesfalls. Ein Trost? Vielleicht. Ein Genuss? Darüber habe ich lange nachgedacht. Dieses Buch handelt vom Schrecken, und doch ist es schön. Und wäre es nicht schön, hätte ich die Lektüre nicht ausgehalten. Schön wird dieser Text durch die Wahl der jeweils einzig richtigen Worte und durch den unerbittlichen Rhythmus. In der schnörkellosen, klaren und, ja, poetischen Handschrift der Übersetzerin liest sich das so:
„Die Straße stieg an. Die Erde war gesprenkelt mit kleinen, kantigen Steinen, schwarzweiße Felsstürze im Mondlicht.“
„Mein Herz ist schwer, die Sonne ist rot. Es wird Abend.“
***
Ich habe viel von Brüchen geredet. Nun muss ich Ihnen auch selbst einen Bruch zumuten. Wir verlassen die felsige Landschaft von Viktor Schkloswkij und betreten die üppig wuchernde Sphäre von Francis Spufford. Spufford hantiert nicht mit Sprengstoff, bei ihm kommt die Energie des Texts aus der Freude des Fabulierens. Olga Radetzkaja hat Viktor Schklowskijs Lakonie im Deutschen neu erfunden, Jan Schönherr wiederum ist die kongeniale Übertragung von Francis Spuffords Überschwang gelungen. Dafür erhält er den Förderpreis des Straelener Übersetzerpreises.
„Alles schwappt ständig über“, so sagte mir Jan Schönherr im Vorgespräch über den Roman „Neu York“. Statt lange zu erklären, worin die gemeinsame Spielfreude von Spufford und seinem Übersetzer besteht, lese ich Ihnen den ersten, alles andere als lakonischen Satz aus „Neu York“ vor. Wir befinden uns im Jahr 1746.
Da die Brigg Henrietta, die Sandy Hook kurz vor dem Mittagsmahl erreicht und die Narrows gegen drei passiert hatte, um dann in so unendlich kleinem Zickzack über die graue Hafenbucht Neu-Yorks zu kreuzen, als wollte sie die Infinitesimalrechnung herausfordern, so lange, dass es dem an Deck von einem Bein aufs andere springenden Mr Smith wohl schien, als werde das Hügelchen mit der Stadt auf ewig vor ihm in der novemberlichen Düsternis schweben und zu Zenos Schadenfreude niemals näher kommen – da diese Henrietta also erst, als sich der Tag bereits gen Abend neigte, bei Tietjes Slip vor Anker ging, wo immerhin noch hundert Fußbreit Wasser Smith von den wahrhaftigen Giebeln der wahrhaftigen Häuser der Stadt trennten, und da die Dämmerung zudem so klamm und trübe war, wie sie es im November nur sein kann, grade so, als wäre die ganze Welt ein Quart graues Papier, durchnässt vom Nieselregen und in dringender Gefahr, gänzlich in Brei sich aufzulösen – da also all dies sich so verhielt, legte der Kapitän der Brigg Smith dringlich nahe, doch lieber eine letzte Nacht an Bord zu bleiben und seinen Landgeschäften erst am nächsten Morgen nachzugehen.
Er sei auf die Leichtfüßigkeit des Originals auch ein wenig hereingefallen, sagte mir Jan Schönherr. Diese langen, eleganten und vielfach in sich selbst verschlungenen Sätze im Deutschen so nachzubilden, dass sie nicht schwerfällig werden, war schwieriger, als erwartet. Wie bei Schklowskij drängt sich auch hier die Virtuosität nicht in den Vordergrund: Allerdings steckt sie bei Spufford nicht in der vermeintlichen Einfachheit, sondern in der vermeintlichen Leichtigkeit. Dass Jan Schönherr diese Wirkung der Leichtigkeit erzielt, liegt daran, dass er als Übersetzer zum Spielgefährten des Autors wird. Er verleiht Spuffords Sätzen nicht nur einen unwiderstehlichen Rhythmus, er versteht es überdies meisterhaft, durch den Satzbau das Tempo zu verändern.
Wir haben es eben in diesem ersten Satz erlebt: Die Syntax lässt uns die gebremste Ankunft der Brigg Henrietta geradezu körperlich erleben, wir spüren die Verzögerung des in der Hafenbucht kreuzenden Schiffs, und ebenso spüren wir die Ungeduld des Mr Smith. Der Vorschlag, noch eine Nacht an Bord zu bleiben, ist für ihn eine Zumutung.
Smith aber wollte davon nichts wissen. Er lächelte und verbeugte sich und wünschte nichts, als dass man ihn sogleich zum Hafen rudere.
Auf einmal sind die Sätze kurz, sie spiegeln das Ende von Mr Smiths Geduld. Als er endlich an Land ist, beschleunigt sich mit der Handlung dann auch gleich die Sprache. Das ist ein syntaktisches „show don’t tell“: Die Sätze sind, was sie sagen.
Es ist nicht das einzige Stilprinzip von Francis Spufford, das Jan Schönherr beim Übersetzen neu erfindet. Auch im Hinblick auf die Historizität respektiert er die Prinzipien des Autors und verleiht vor allem den Dialogen und Briefen eine dezente Patina. Und wie der Autor streut auch Jan Schönherr bisweilen Anachronismen in seinen Text.
Viktor Schklowskij hat mit seiner Lakonie erfunden, was er selbst erlebt hat. Francis Spufford dagegen hat mit seinem Sprachrausch eine Welt erfunden, die es ohne seine Vorstellungskraft nicht gäbe. Olga Radetzkaja und Jan Schönherr haben diese beiden so unterschiedlichen Werke mit ihrer eigenen Energie aufgeladen und damit kongenial erneuert. Dass wir die „Sentimentale Reise“ und „Neu York“ in ihrer übersetzerischen Handschrift kennenlernen können, ist unser Gewinn.
Danksagung von Olga Radetzkaja
VIELEN DANK —
und seien Sie alle ganz herzlich begrüßt, liebe Dagmar Fretter, lieber Claus Sprick und liebe Frau Peeters, liebe Vertreter von Land, Landkreis und Stadt, lieber Mitpreisträger Jan Schönherr, lieber Mit-Schklowskianer Anselm Bühling, ohne den ich bei diesem Projekt wahrscheinlich irgendwann verzweifelt wäre, liebe Kollegen, Freunde, Familie, liebe Gäste.
„Eine Zeit lang machten alle Schokolade.“
„In der Hauptsache aber hatte man Angst.“
„Und nirgends eine Spur von Alltag, nur Trümmer.“
Sie können nichts übersetzen, was Sie nicht zuerst einmal verstanden haben, lautet ein wiederkehrender Satz, den ich meinen Studenten im Masterstudium „Literarisches Übersetzen“ an der Münchner Universität sage.
Aber können wir, hier und heute, Sätze wie die zitierten wirklich verstehen? Können wir aus rund hundert Jahren und rund 2000 Kilometern Abstand ermessen, was sie bedeuten, es uns vorstellen, es nachempfinden?
Als ich diesen Sätzen zum ersten Mal begegnet bin, konnte ich es kaum. Damals war ich neunzehn, und die russische Kultur hatte mich – vermittelt über eine Freundin, deren Mutter Russin war, vermittelt übers Theater (Tschechow) und über Filme (Tarkowski) – schon an der Angel. Wäre das nicht so gewesen, hätte ich bei Schklowskij angebissen?
Verstanden habe ich ihn jedenfalls nicht – aber zu Ende gelesen (in der 1964 erschienenen Übersetzung von Ruth-Elisabeth Riedt und Gisela Drohla) und in rätselhafter, spröder Erinnerung behalten. Es war keineswegs so, dass ich mir damals sofort vorgenommen hätte: diesen Autor will ich auch übersetzen, schon gar nicht: dieses Buch will ich neu übersetzen. Aber als die Sentimentale Reise mir viele Jahre später wiederbegegnete und ich gefragt wurde, ob ich eine Neuübersetzung übernehmen würde, wusste ich sofort, das will ich machen. Dass das so war, hat viel mit dem Reiz des Unverstandenen, des Noch-nicht-Verstandenen, des Erst-noch-zu-Verstehenden zu tun, und auf dieses Moment möchte ich gern näher eingehen, denn mir scheint, es ist von zentraler Bedeutung sowohl für das Buch, für dessen Übersetzung der wunderbare Straelener Preis mir verliehen wird, als auch für das, was ich persönlich vom Übersetzen weiß und will.
Viktor Schklowskijs Sentimentale Reise handelt, ein wenig überspitzt gesagt, gut zur Hälfte von Unverstandenem und vom Umgang mit diesem Nichtverstehen.
„Ich stapfte lange querfeldein (…); in einiger Entfernung pflügten Leute ein Feld, ihr Anblick wunderte mich.“ „Ich lag in der Hängematte, schlief den ganzen Tag, aß. Ich begriff nichts.“ „Ich verstand ihn nicht, so wie ich ganz Russland nicht verstand.“
Schklowskij ist, dieser demonstrativen Begriffstutzigkeit ungeachtet, kein koketter und schon gar kein naiver Autor. Sein Nichtverstehen ist zum einen eine Haltung – er WILL sich keinen Überblick verschaffen, sondern aus nächster Nähe auf die Ereignisse schauen, so nah, dass übergeordnete Zusammenhänge nicht zu sehen sind. Es ist eine Entscheidung – die Entscheidung, nicht nachträglich klüger zu sein, sondern sich selbst „zum Präparat für die Nachwelt“ zu machen.
Und es hat Methode. „Wenn man als Stein in die Tiefe fällt, soll man nicht denken, und wenn man denkt, soll man nicht fallen“, schreibt Schklowskij im Frühjahr 1922, nach seiner Flucht nach Finnland. Der Satz steht am Beginn des zweiten Teils der Sentimentalen Reise und hat zweifellos entlastende Funktion: ein Bild von Baruch Spinoza aufgreifend, schildert der Autor sich hier als von äußeren Kräften bewegten Körper, dessen vermeintliche Willensfreiheit pure Illusion ist. „Die Ursachen, die mich antrieben, lagen außerhalb von mir. Die Ursachen, die die anderen antrieben, lagen außerhalb von ihnen. Ich bin nur ein fallender Stein.“ Aber: „Ein Stein, der im Fallen eine Lampe anzünden kann, um seinen Weg zu verfolgen.“
Schklowskij ist 28, als er das notiert, und sein bisheriger Weg als fallender Stein umfasst, nach einer Kindheit in bescheidenen Verhältnissen und einem unabgeschlossenen Literaturstudium: den Einsatz im Ersten Weltkrieg, erst als Ausbilder in einem Panzerwagenbataillon und ab 1917 dann als Kommissar der Revolutionsregierung in Galizien und Nordpersien; er umfasst die Februarrevolution, an der er begeistert teilnimmt, die Oktoberrevolution, die ihn tief enttäuscht, den Kampf gegen die bolschewistische Parteidiktatur, Verfolgung und Untergrund. Währenddessen arbeitet er weiter an seiner Literaturtheorie, heiratet, verliert drei seiner vier Geschwister durch verschiedene Formen von Gewalt, hält Vorlesungen, hungert, friert, kämpft im Bürgerkrieg auf Seiten der Roten, wird mehrfach verwundet, arbeitet immer noch weiter an seiner Literaturtheorie, und verlässt schließlich das Land, um sich einer drohenden Verhaftung durch die Bolschewiki zu entziehen.
Das alles und mehr im Zeitraum von fünf Jahren.
Wie soll man in einem solchen Ereigniswirbel etwas verstehen, erklären, begründen?
Schklowskij versucht gar nicht erst, einen einheitlichen Rahmen zu finden: „Das Leben verläuft in unzusammenhängenden Fragmenten, die verschiedenen Systemen angehören“, schreibt er, und: „Ich bin außerstande, all die Merkwürdigkeiten, die ich in Russland gesehen habe, zu verbinden und zu verschmelzen.“
Schklowskijs Nichtverstehen ist also mehr als lässiges Understatement. Es ist aber auch nicht nur Notwehr gegen den Sturm der Geschichte. Dieses Nichtverstehen ist eine Erkenntnismethode. (Ich weiß, das klingt paradox, aber Übersetzer haben ein Faible für paradoxe Konstruktionen.)
Um zu erklären, worauf ich hinauswill, muss ich kurz auf Viktor Schklowskij als Literaturtheoretiker eingehen – nicht umsonst schleppt er schließlich seinen Aufsatz über „Verfahren des Sujetaufbaus und ihre Verbindung zu stilistischen Verfahren allgemein“ ( dieser Titel, ausgerechnet!) über viele Stationen seiner Reise mit und schreibt in den absurdesten Situationen daran weiter.
Schklowskij gilt als Begründer der später sehr einflussreichen „formalen Schule“ in der Literaturtheorie, und als „Erfinder“ oder Entdecker eines ihrer Kernstücke, der sogenannten „Verfremdung“. Vereinfacht gesagt, besteht dieses „Verfahren“ darin, Dinge nicht „mit ihren bekannten Namen zu bezeichnen, sondern sie ‚wie zum ersten Mal gesehen‘ zu beschreiben“.[1] Als Beispiel zitiert Schklowskij eine Szene in der Oper aus Tolstois Krieg und Frieden, in der die Musiktheaterkonvention in den Augen der Besucherin mit einem Mal aufgehoben scheint und das nackte Kulissen- und Kostümmaterial darunter zum Vorschein kommt: Bretterboden, Pappwände, und statt einer Primadonna „ein sehr dickes Mädchen in einem weißseidenen Kleid“.[2]
Eben dieses Verfahren der Aufhebung von Konventionen – man könnte auch sagen: des Staunens – das laut Schklowskij ein wesentliches Merkmal jeder Kunst darstellt, wendet er in der Sentimentalen Reise selbst ausgiebig an. Im Unterschied zu Natascha Rostowa in der Oper ist Viktor Schklowskij zwischen 1917 und 1922 allerdings mit sehr vielen Dingen konfrontiert, für die er noch gar keine „bekannten Namen“ hat. Das Verfremden ist hier also eher ein Fremd-Lassen, ein Verzicht aufs Domestizieren. Der Erzähler bleibt außen, er überlässt die Dinge und Ereignisse sich selbst. Überscharf zeichnet er die Konturen dessen, was er sieht – Panzerwagen, Parlament, Pferdefleisch, Poetik. Dazwischen sind Lücken, Leere, Luft. Die Leere ist der Raum, in dem die Fremdheit – oder Seltsamkeit – des Lebens Platz hat.
Ist es vermessen, sich so viel Fremdheit lesend und übersetzend aneignen, sie unserem heutig-hiesigen Repertoire eingemeinden zu wollen? Es hat zumindest etwas Verwegenes.
Zugleich liegt es, wenn man die Grundhaltung des Buchs ernst nimmt, durchaus nahe. Denn Schklowskijs Zugang zu Welt und Literatur ist ein prinzipiell nicht-identifikatorischer. Was er praktiziert, ist nicht Einfühlen, sondern Wahrnehmen. Sehen, Hören, zur Kenntnis nehmen. So ein Aneignen ist kein Einebnen von Unterschieden, im Gegenteil.
„Der Übersetzer“, so schrieb der russische Literaturwissenschaftler, Soziologe und Übersetzer Boris Dubin einmal, „[kultiviert] inmitten seines eigenen Idioms […] eine andere Sprache, die sich das Fremde aneignen und es weitergeben kann. Damit schafft er eine neue Dimension von Sprache, die nicht mehr natürlich, sondern symbolisch ist, und ohne die seine eigene kindliche Sprache [also die Muttersprache, OR] nicht erwachsen werden, eine Sprache der Kultur für ihn werden könnte: ein Weg zum Anderen.“[3]
Ich will damit nicht behaupten, dass die Sentimentale Reise vom Übersetzen handelt.
Allenfalls, dass sie einen bestimmten Aspekt des Übersetzens vorführt. Und: dass oft gerade die sperrigen, schwer zugänglichen Texte, wenn man sie genau anschaut, einem sehr deutlich zu verstehen geben, wie sie übersetzt werden können oder auch, um mit Gabriele Leupold zu sprechen, wie sie übersetzt werden wollen.[4] Nämlich bei Schklowskij: indem man Form als Inhalt behandelt, und statt das vorgefundene Objekt schnurstracks zu durchdringen und nach seinem tieferen Sinn zu suchen, es erst einmal umrundet und von allen Seiten betrachtet. „Das Geheimnis des geschichtlichen Moments“, schreibt Hans-Magnus Enzensberger 1965 in einer Rezension der Sentimentalen Reise im Spiegel, „lässt sich nur von seiner Oberfläche ablesen“.
Oberfläche heißt in diesem Fall: Gedankenrhythmus (kompakte Aussage, Pause, Beobachtungsblitz, Pause, Schnitt, neue Beobachtung…); es heißt: Proportionen (die Reihenfolge und das Gewicht der Wörter und Informationen in einem Satz oder Absatz); es heißt: Oberflächenspannung – innerhalb dieser kurzen Sätze und dazwischen, im Verhältnis zwischen Hintergrundwissen und den lapidaren, manchmal sphinx-artigen Satzblöcken im Vordergrund. Es heißt, den Autor ernst nehmen, auch wo er einem fremd bleibt. Bei Schklowskij ist ein Auto- oder Flugzeugmotor keine Metapher für die Revolution, sondern ein Motor, der auf eine bestimmte Weise behandelt werden muss, damit er funktioniert.
Verstehen so verstanden, lässt sich die eingangs gestellte Frage vielleicht doch bejahen?
Wir können diese Sätze verstehen, indem wir unsere Sprache und unseren Blick auf die Welt daran wachsen, erwachsener werden lassen.
„Kunst“, schreibt Viktor Schklowskij, „ist ihrem Wesen nach ironisch und zerstörerisch. Sie weckt die Welt zu neuem Leben. Ihre Aufgabe ist es, Ungleichheiten zu schaffen. Das tut sie auf dem Weg des Vergleichs.“
Und auf dem Weg der Übersetzung, füge ich hinzu.
Dieser Weg der Kunst, der Weg der Ungleichheit durch Vergleich, ist, so scheint es mir, heute so wichtig wie lange nicht mehr. Das Lesen (und mit, vor oder nach ihm das Übersetzen) fremder, fremdsprachiger Literatur ist die lustvollste und erkenntnisförderndste Form von kultureller Aneignung, die ich kenne.
Bücher überhaupt, aber besonders übersetzte Bücher hindern uns daran, unter uns zu bleiben.
Umso großartiger, dass es diesen Preis gibt. Ich freue mich riesig, ihn entgegennehmen zu dürfen, und dass es gerade für dieses kluge, verzweifelte, witzige und hellsichtige Buch, für die Sentimentale Reise ist, verdoppelt die Freude.
Ich danke von ganzem Herzen der Kunststiftung NRW, die den Straelener Übersetzerpreis seit bald 20 Jahren vergibt, dem Europäischen Übersetzerkollegium, das ihm seit ebenso vielen Jahren ein Zuhause gibt, der Jury, die ihn mir zugesprochen hat, ich danke Sieglinde Geisel und Christiane Körner für ihre fast schon schwindelerregenden lobenden Worte, und ich danke Ihnen allen fürs Zuhören.
[1] So Viktor Schklowskij in seinem 1917 erschienenen Aufsatz „Kunst als Verfahren“.
[2] Leo Tolstoi: Krieg und Frieden, Band 2, Kapitel IX, Ü: Hermann Röhl. Frankfurt am Main 1982, S. 475.
[3] Boris Dubin: Ein Mensch zweier Kulturen. Theorie und Praxis des Übersetzens bei Vadim Kozovoj, in ders.: Das Unmögliche leben. Studien, Essayy, Erinnerungen. Berlin 2015, S. 237–246, hier S. 240.
[4] „Der Text sagt mir, wie er übersetzt werden will“. Antrittsvorlesung zur Schlegel-Gastprofessur am Peter-Szondi-Institut, Herbst 2018, unveröffentlicht