Wieland-Preis an Karl-Ludwig Wetzig

(Hier folgen die ungekürzte Laudatio und die Dankesrede, die in Übersetzen Heft 1/2024 in gekürzter Version abgedruckt sind)

Anmutung zu Abenteuern

Laudatio auf Lutz Wetzig zum Wieland-Übersetzerpreis, Biberach 2023

„Ich habe“, so erinnert sich der Dichter und polyglotte Übersetzer Christoph Martin Wieland aus Biberach, „von Jugend an eine Anmutung zu schweren literarischen Abenteuern gehabt.“ Vielleicht verbindet nichts den Namensgeber dieses Preises so unmittelbar mit seinem neuen Träger wie die Anmutung zu Abenteuern. Karl-Ludwig, oder sagen wir einfach: Lutz Wetzig ist Übersetzer, dafür ehren wir ihn heute. Aber er ist, wie Wieland, auch Schriftsteller eigenen Rechts; das sollte heute nicht vergessen werden, denn es trägt zur Sprachsensibilität seiner Übersetzungen wesentlich bei. Er ist Verfasser von Romanen und Erzählungen, unter anderem einer so kunstvollen wie abenteuerlichen Geschichte über Georg Forsters und Captain Cooks Aufenthalt bei den angeblichen Menschenfressern in der Südsee – größer konnte der Abstand wohl nicht sein, den er zwischen seine skandinavistische Übersetzungsarbeit und sein eigenes literarisches Schreiben legte.

Denn, Sie wissen es, Lutz Wetzig hat sehr unterschiedliche Werke aus den nordischen Literaturen übersetzt, auch dies in einer Vielfalt der Sprachen und Stimmen, die man abenteuerlich nennen darf: das isländisch gefärbte Dänisch des Gunnar Gunnarsson und das Dänische der Annette Lindegaard, das Finnlandschwedisch von Ulla-Lena Lundberg, Johan Bargum oder Henrik Tikkanen und das Schwedische der Lena Andersson, das Norwegische des Lars Amund Vaage. Neben diesen Autorinnen und Autoren des 20. Jahrhunderts hat er auch zwei der bedeutendsten Werke der mittelalterlichen Sagaliteratur ins Deutsche gebracht – die Njálssaga und die Laxdæla saga, immerhin zwei der umfangreichsten und komplexesten Texte dieser weltli[1]terarischen Überlieferung; mit einem lässlichen Anachronismus könnte man sie am ehesten als realistische Romane des nordischen Mittelalters bezeichnen.

Vor allem aber kennen Liebhaber der nordischen Literaturen Lutz Wetzig als den wichtigsten, den im Wortsinne maßgebenden deutschen Übersetzer aus dem modernen Isländisch und überhaupt als einen der besten Kenner dieser reichen und vielstimmigen Literatur. Er hat Lie[1]besgedichte von Gerður Kristný übertragen und Prosa von Elín Ebba Gunnarsdóttir, Biographisches über Roald Amundsen und Autobiographisches vom vor wenigen Wochen gestorbenen Guðbergur Bergsson und anderen. Und er ist, Band für Band, der deutsche Übersetzer der Ge[1]samtwerke von Hallgrímur Helgason und Jón Kalman Stefánsson.

Nun hat es ein Übersetzer, der sich mit Island beschäftigt, keineswegs – wie man vielleicht meinen könnte – mit extravaganten und vielleicht etwas exotischen Randzonen der europäi[1]schen Literaturen zu tun. Die Einwohnerzahl Islands in den Jahrzehnten, in denen die hier in

Rede stehenden Werke entstanden, entspricht etwa derjenigen von James Joyces Dublin. Und nicht nur die Einwohnerzahl. „Die Isländer sind ein Volk von Erzählern.“ Das hat jemand er[1]klärt, der es wirklich wissen musste, der Nobelpreisträger und literarische Übervater des Landes Halldór Laxness. Wie sonst vielleicht nur noch in Irland oder Slowenien, dem Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse, ist in Island die Wahrscheinlichkeit, auf Reisen einer Dichterin, einem Dichter zu begegnen, ebenso hoch wie die, in einen ergiebigen Regenschauer zu geraten. Und was diese Dichter zu erzählen haben, geht uns, gleich wo unsere Lebenswelt liegen mag, nicht weniger an als der Ulysses. Island ist ein Land der Weltliteratur. Dieser eigenwillige und weltläufige, weltliterarische Erzählkosmos, in dem die Aneignung eines uralten Sagastoffes zu einem Versuch über die Jukebox werden kann und zwischen Gletschern und Vulkanen die Diskotheken von Reykjavík und eine amerikanische Atomstation zu finden sind – dieser Erzählkosmos ist das Zentrum von Lutz Wetzigs Übersetzungen.

Sie lesend, entdecken wir darum nicht nur eine fremde Literatur. Sondern wir lernen neue Welten kennen, wahrhaftig ein „Anmutung zu Abenteuern“. Der Hauslehrer Wilhelm und Ale[1]xander von Humboldts, der Aufklärungs-Schriftsteller und (notabene) Übersetzer Christian Wilhelm Dohm, hat im Zeitalter Wielands „Toleranz“ als die Fähigkeit bestimmt, „aus dem eigenen Standpunkte herauszugehen, ohne das für wahr Erkannte aufzugeben“. Die Welt von einem Ort aus zu sehen, an dem man selber gar nicht steht: diese Fähigkeit ist nirgends so wichtig wie dort, wo man sie trügerischerweise schon zu besitzen meinte.

An nur zwei Beispielen aus Lutz Wetzigs Übersetzungsarbeit will ich das in der knappen mir zugemessenen Zeit andeuten. Beide stammen aus dem Island der letzten Jahrzehnte. Oder vielmehr: Sie stammen aus zwei einander diametral gegenüberstehenden isländischen Sprach[1]welten. Auf der einen Seite steht da Hallgrímur Helgason, der Punk-affine Satiriker aus der kleinen, wilden Metropole Reykjavík, auf der anderen der Epiker des poetischen Pathos, Jón Kalman Stefánsson.

Das erste Beispiel also stammt aus dem Jahr 2002; es war meine erste, ganz unverhoffte Begegnung mit den Übersetzungen meines Studienfreundes Lutz Wetzig. In 101 Reykjavík, dem bekanntesten, 1998 mit dem Literaturpreis des Nordischen Rates ausgezeichneten Roman von Helgason, erzählt ein drogen-, fernseh- und pornosüchtiger Nerd von seinen nächtlichen Exzessen in der isländischen Hauptstadt und von seinen Ansichten über Gott und die Welt, komisch und depressiv zugleich. Aber was heißt „erzählt“? Dieser Held tanzt mit der Sprache wie ein postmoderner Fred Astaire auf Speed. Und der deutsche Übersetzer muss es ihm nachtun, ohne zu stolpern. Dass Helgason fortwährend alle Register zieht, dieser literarische Overkill stellt den Übersetzer vor Herausforderungen, die ihn eigentlich überfordern müssten. Nicht so Lutz Wetzig. Seine Übersetzung, erschienen 2002 in Hans Magnus Enzensbergers Anderer Bibliothek, setzt neue Grenzsteine für das, was als unübersetzbar zu gelten hat. Das gilt für den Swing, mit dem er Alliterationen zum Tanzen bringt, Sounds und Stilebenen mixt, sich durch die Diskurse rappt und zappt, und für die artistische Sicherheit, mit der er isländische Kalauer in deutsche verwandelt. Wie sagt man am knappsten, dass man die Songs von Police nicht mehr hören mag? Man sagt: „mirs stingt’s.“ Dass man trotz Präservativ schwanger werden kann, das – so kalauert Helgason in Lutz Wetzigs Deutsch – ist immerhin „eine Mögleckheit“. Was immer man von Helgasons Scherzen hält, die Übersetzung ist gewitzt, sie ist brillant. (Manchmal fragt man sich, ob sie nicht noch etwas schlauer ist als das Original.)

Doch so viel Sprachkunst es verlangt, Helgasons Monologe ins Deutsche zu bringen, so viel komplexer ist bei näherem Hinsehen die Aufgabe, einen Schriftsteller wie Jón Kalman Stefánsson zu übersetzen – zum Beispiel den Roman, der im Mittelpunkt unserer heutigen Preisverleihung steht. Nicht auf den ersten, aber auf den zweiten Blick. Zwar prunkt Jón Kalman nicht mit Wortwitz und Sprachspielereien. Aber dafür wechselt er die Stilregister schneller als Helgasons Antiheld seine Drogen. In Dein Fortsein ist Finsternis zeigt sich das nicht zum ersten Mal in seinem umfangreichen Werk, aber besonders drastisch. Hier wechseln sich Pathos und Ironie in rascher Folge ab, epische Breite und pointierte Short-Story-Wendungen, Panoramaeinstel[1]lungen im Breitleinwand-Format, Nahaufnahmen und schnelle Schnitte. Vor allem dort, wo Jón Kalman die Nuancen mit zartem Pinsel aufträgt, verlangt und belohnt ein Text eine aufmerksame, geduldige und empathische Lektüre. Hier muss der Übersetzer selbst die Aufmerksamkeit mitbringen, die ihm etwa Helgasons Prosa lautstark  abverlangt.

Ein Beispiel. Da erinnert sich eine dieser Figuren, von denen wir nicht genau wissen, ob sie noch zu en Lebenden gehört oder schon zur Schattenwelt, an eine Szene, in der ein Mann und eine Frau in eine einsame Badeanstalt reisen, um sich dort am Ende der isländischen Welt, an der Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis zu lieben. Nicht lediglich auf dem so exzentrischen wie romantischen Liebesakt selbst also liegt das literarische Gewicht, sondern mehr noch auf der Evokation dieser Grenzsituation. In Lutz Wetzig Übersetzung klingt das so: „Jóhannes zieht den Ersatzreifen auf, verstaut den geplatzten Reifen im Kofferraum, das Pärchen verabschiedet sich vom Bauern und setzt seine Fahrt fort. Reichlich zwei Stunden Fahrt nach Norden

zu jenem Schwimmbad. Über Hochheiden und durch einen Fjord, in dem die Straße manchmal wie ein Eindringling an einem Steilhang hängt. Sie lieben sich in dem Schwimmbecken gleich neben dem schweren, saugenden Eismeer.“ Gerade in ihrer Kürze geben diese Sätze eine Ahnung von Lutz  Wetzigs Kunst. Der telegrammstilhaft knappen, unmerklich in einen Blankvers übergehendenWegbestimmung – „Réichlich zwéi Stunden Fáhrt nach Nórden zu jénem Schwímmbad“ – folgt mit der Schilderung der Fahrt selbst der Übergang in die Wildnis. Er folgt nicht nur in den Bildern, die wir sehen, sondern auch im Soundtrack dieses Romans (der ja buchstäblich von einer angehängten Playlist aller in ihm gehörten Songs begleitet wird): also im Sprachklang der Rhythmisierung, der Alliterationen und Assonanzen. Da verbinden sich die Straße und der Steilhang ebenso wie der Hang und das Hängen, das Schwimmen und die Schwere; und eh wir es uns versehen, sind wir aus der hellen Welt der Autowerkstätten und Kofferräume versunken im daktylischen Dunkel des „schweren, saugenden Eismeers“. Ich will keineswegs behaupten, dass solche Effekte immer bewusst planendem Kalkül entspringen; ich bin aber davon überzeugt, dass gerade in der intuitiven Selbstverständlichkeit, mit der sie sich ergeben, die geheime Stärke des Übersetzers liegt.

In Lutz Wetzigs Anverwandlung findet Jón Kalmans Vorliebe für sexuelle Drastik ebenso ihren  Ausdruck wie die zartesten Nuancen romantischer Sehnsucht oder die Neigung zu gedan[1]kenschweren philosophischen Metaphern. Hier wird das „Ablammen“ der trächtigen Schafe so sprachgenau verfolgt wie „das Weben der Götter“, dieser „Blindschuss zufälliger Ereignisse“. Und immer gehört zur Meisterschaft seiner Arbeit ihre vollständige Unaufdringlichkeit. Nir[1]gends führt dieser Übersetzer seine Instrumente vor, überall gebraucht er sie mit der Sicherheit und Diskretion eines alten Meisters.

Die Kunst der Übersetzungen von Karl Ludwig Wetzig besteht darin, in ihren Gegenständen zu verschwinden, sich so in ihnen aufzulösen, als hätten die Dichter der Edda und die Schriftstellerinnen der Moderne, als hätten Hallgrímur Helgason und Jón Kalman auf Deutsch geschrieben. Die Fremdheit, die er uns wahrnehmen lässt, ist die Fremdheit einer wirklichen Welt, aber sprachlich vermittelt: gesehen aus den Augen, gehört mit den Ohren fremder, eigenwilliger, schöpferischer Menschen. Lutz Wetzigs Übersetzungen sind, unter anderem, auch eine Schule des Respekts und der Empathie.

Als vor einigen Jahren Lutz Wetzigs große Kollegin Verena Reichel mit dem Übersetzer[1]preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ausgezeichnet wurde, vor allem für ihre Arbeiten mit dem Werk des schwedischen Dichters Lars Gustafsson, da war ich kurz vor Beginn der Zeremonie Zeuge einer kleinen Szene. Der schon sehr alte Gustafsson blickte versonnen auf die Hände seiner neben ihm sitzenden Übersetzerin und sagte, mehr zu sich selbst als zu den Umsitzenden: „Zu denken, dass diese Hände mein Lebenswerk geschrieben ha[1]ben…“ Meine Damen und Herren: Die Hände des diesjährigen Preisträgers haben polyphone Meisterwerke der isländischen Literatur geschrieben, auf Deutsch und im souveränen Surfen zwischen Poesie und Pop, zwischen Punk und Pathos. Wirklich, er folgt wie Wieland einer „Anmutung zu literarischen Abenteuern.“ Dafür, lieber Lutz, hjartans þakkir!

 

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Weltläufigkeit schadet kaum.

Dankrede anlässlich der Verleihung des Christoph-Martin-Wieland-Übersetzerpreises 2023
Karl-Ludwig Wetzig

Meine Damen und Herrn, niemand konnte überraschter sein, für die Übersetzung eines Liebesromans ausgezeichnet zu werden, als ich. Noch dazu für diesen Roman, in dem eine „Liebeserklärung” z.B. lautet: „Ich habe dich ausgesucht, weil du von hier fortgehen wirst.” Ich muss mich also an erster Stelle bei meiner Lektorin bedanken, ohne die ich heute nicht hier stünde, denn sie hat offenbar eine überzeugende Bewerbung für den Liebesroman des Jahres geschrieben. Vielen Dank dafür, liebe Frau Zintzsch!

Selbstverständlich danke ich der Christoph-Martin-Wieland-Stiftung, dem Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Baden-Württemberg, dem Freundeskreis zur
Förderung literarischer und wissenschaftlicher Übersetzungen und insbesondere seiner Jury dafür, dass sie unter allen Bewerbungen auch eine Übersetzung aus einer so kleinen und unzugänglichen Sprache wie der isländischen genau und ernsthaft geprüft
hat.

Dir, lieber Heinrich, danke ich dafür, dass ich hier jetzt mit einem Paar hochroter Ohren stehe.

Und bei Ihnen allen, meine Damen und Herrn, bedanke ich mich für Ihr Interesse an einer so entlegenen Literatur und für Ihr wohlwollendes Erscheinen.

Ich könnte die Gelegenheit, vor einem interessierten Publikum sprechen zu dürfen, dazu nutzen, einmal einen Vortrag über die Herausforderung zu halten, die es bedeutet, Modalverben ins Deutsche zu übersetzen; doch ein anderes Thema brennt mir gerade mehr auf den Nägeln: In letzter Zeit wird nach meinem Dafürhalten in beunruhigend zunehmendem Ausmaß mehr und mehr vom „Eigenen” gesprochen, wird die eigene Identität als vermeintliches Argument gegen alles, was außerhalb der persönlichen Komfortzone liegt, ins Feld geführt.

In Reaktion darauf halte ich es für angezeigt, einmal den bereichernden Wert des Fremden und der Fremderfahrung herauszustellen, die ich mit dem Schlagwort „Weltläufigkeit” bezeichne.

Weltläufigkeit geht notwendig etwas wie Weltoffenheit voraus, eine Bereitschaft also, sich auf Fremdes einzulassen, sich ihm über die eigenen Begrenzungen hinweg zu öffnen und auszusetzen; eine gegenläufige Bewegung mithin zum Rückzug in die eng umgrenzte eigene Identität. Wo aber ließe sich Weltläufigkeit besser erwerben als auf Reisen in fremde Kulturen, und wo ist sie sinnfälliger und hilfreicher als in den vielfältigen Vorgängen des Übersetzens?

Meine hier sitzenden Kolleginnen und Kollegen sind sicher ebenso wie ich von Lesungen, die sie mit ihren Autorinnen und Autoren bestreiten, daran gewöhnt, dass stets die betreffenden Verfassder Originale im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. Sie aber sind heute Abend hierher gekommen, weil – oder obwohl – es diesmal mehr um einen Übersetzer gehen soll. Ich leite davon die Befugnis ab, Ihnen in 8 mehr oder weniger ausführlichen Sätzen etwas zu meiner Arbeit als Übersetzer aus meinem persönlichen Nähkästchen zu erzählen. Ich habe die 8 immer gemocht, weil sie das Zeichen für Unendliches auf die Füße stellt, und ich habe die Sätze durchnummeriert, damit Sie in etwa abschätzen können, wie lange Sie bis zum Ende
noch ausharren müssen.

1| „Dein Fortsein ist Finsternis” – sagte der Autor zu seinem Übersetzer, und dachte dabei an seine Verkaufserlöse im Ausland. Wenn auf einer Insel, die so groß ist wie Bayern und Baden-Württemberg zusammen, nur rund 350.000 Menschen leben, können sie sich ausmalen, wie gering in Island die Auflagenzahlen selbst von Bestsellern sind und was für ein erkleckliches Zubrot Schriftsteller dort mit den Übersetzungen ihrer Werke im Ausland verdienen.

„Dein dänischer Kollege und du, ihr seid die wichtigsten Milchkühe in meinem Stall”, vertraute mir ein isländischer Autor neulich nach unserem dritten Glas Aquavit in einer Reykjavíker Bar
an.

Milchkuh? Sollte ich mich geschmeichelt fühlen?

2| Im Juni dieses Jahres veröffentlichte die New York Times unter dem Titel „Building something together” ein Gespräch mit fünf Literaturübersetzern und -übersetzerinnen in den USA. Darin formulierte die Kollegin Samantha Schnee ein schönes Bild für unsere Tätigkeit. Sie sagte: „If you think of publishing as an ecosystem, the translators are like the seed spreaders. We are diversifying that ecosystem.”

Sie wollte damit zur Sprache bringen, dass Übersetzer in vielen Fällen weitaus mehr für ein Buch tun, als nur (!) seinen Text von einer Sprache in eine andere zu übertragen.

Schnees aus Thailand stammende Kollegin Mui Poopoksakul zählte kurz auf: „I read the books, I pick the books, I pitch the books, I translate the samples” – usually unpaid.

Als ich vor einem Vierteljahrhundert ins Metier des Literaturübersetzens einstieg, existierte im deutschsprachigen Raum nicht eine Agentur, die isländische Literatur vermittelt hätte. Und in
den hiesigen Verlagen saß natürlich niemand, der des Isländischen mächtig gewesen wäre. So, I read the books, I picked the books, I pitched the books, I translated the samples.

Paradiesische Zustände. Denn in jenen Jahren übersetzte ich folglich nur, was ich für vertretbar gute, wichtige Literatur hielt. Das ändert sich zunehmend, weil inzwischen Verlage und Agenturen untereinander ausmachen, was für Bücher sie bei uns auf den Markt werfen wollen. Überraschenderweise hat das zur Folge, dass mir zunehmend nur noch die „Wahl” bleibt, auch Werke zur Übersetzung anzunehmen, von deren literarischer Qualität ich
nicht unbedingt überzeugt bin, oder das Angebot dankend abzulehnen.

3| Im Kontrast zu unseren vielfältigen Tätigkeiten haftet meiner Wahrnehmung nach dem Bild des Literaturübersetzers beim Publikum noch immer etwas Spitzwegisches an: Da hocken eine
sprachbegabte und -kundige Frau oder ein akademisch gebildeter Stubengelehrter tagein, tagaus in ihrem – da notorisch schlecht bezahlt – winzigen Dachkämmerlein im Elfenbeinturm der Literatur und tüfteln und knobeln weitab vom lebendigen Leben draußen, wie sie einen anspruchsvoll komplexen Text vielleicht sogar aus einer schwierigen Sprache wie dem Isländischen in ein angemessenes Deutsch übertragen können. –

Diese Vorstellung ist richtig. Oft genug. Sie läßt aber, wie eben angedeutet, vieles außer Acht. Meine Antwort auf die Frage, wie ich und dieses Buch, dessen Übersetzung hier heute mit einem Preis belohnt wird, zu einander gekommen sind, fügt diesem Bild eine andere Facette hinzu: die der menschlichen Begegnungen.

Folgen Sie mir dazu kurz in ein isländisches Freibad an einem winterlichen Sonntagmorgen. Aus den Becken steigen dichte Dampfschwaden in die frostige Luft und hüllen die schemenhaften Gestalten ein, die aus den Umkleiden durch Eiseskälte zu den Schwimmbecken tappen. Die Wassertemperatur reicht dagegen von warm bis sehr warm; denn das Wasser kommt direkt aus dem vulkanischen Untergrund der Insel. Schwimmen ist Volkssport in Island, und wenn man nach seinen Bahnen im Schwimmbad seines Viertels in einen der über 40° heißen Hot Pots steigt, trifft man dort mit ziemlicher Regelmäßigkeit auf seine Nachbarn und Arbeitskollegen. Die „heißen Töpfe” in Island haben die gleiche soziale Funktion wie in Deutschland ein Frühschoppen. In ihnen plauscht und tratscht man munter mit- und übereinander. Wer als Erster eine solche Runde verlässt, wird natürlich Gegenstand der nächsten Unterhaltung. Also harrt man möglichst lange aus und sucht, während das Fleisch langsam krebsrot gesotten wird, nach weiteren Konversationsthemen. Und so fragte mich an jenem Sonntagmorgen eine Kollegin aus der Universität, mit der ich im selben „Topf” gelandet war, ob ich schon das Debüt eines talentierten Jungautors kennte, den sie mir sehr empfehlen könne und wolle (Modalverben!).

Auf diesem nassen Weg wurde ich mit Gräben im Regen von Jón Kalman Stefánsson bekannt. Gemäß seinem schwermütigen Titel ist es bereits eins dieser wehmutsvoll schönen Bücher mit ihrer von ungewöhnlichen Metaphern schillernden Sprache, wie er sie seitdem in nicht nachlassender Schaffenskraft eins nach dem anderen der Welt schenkt und sie so, seinem erklärten literarischen Programm folgend, „ein Stück besser macht”.

Als ich nach einigem Klinkenputzen in Deutschland einen Verlag gefunden hatte, der das Buch auf Deutsch veröffentlichen wollte, suchte ich, zurück in Island, den Autor auf. Der wirkte von der Eröffnung, dass bereits sein Erstling auch in einem anderen Land und in einer anderen Sprache erscheinen sollte, zunächst ziemlich überrascht bis ratlos, verfiel aber dann auf den Gedanken, mit mir in die Gegend zu fahren, in der sein Werk spielt, und mir dort dessen Schauplätze zu zeigen, damit ich mir ein anschauliches Bild von der Welt des Romans machen könne.

Diese Fahrt war der Beginn einer bis heute dauernden Reise, die uns über etliche gemeinsame Lesungen und Buchmessenauftritte von Bastei-Lübbe über Reclam Leipzig und Reclam Stuttgart schließlich zum Piper Verlag geführt hat und die sich zu einer persönlichen Freundschaft mit gegenseitigen Besuchen und vielen SMS besonders bei Fußballänderspielen entwickelte.

4| Ob Übersetzen wirklich abseits von der Welt als Schreibstubenarbeit betrieben wird, hängt auch von Einstellung und Temperament des Übersetzers ab. In meinem Fall darf ich Ihnen
anvertrauen, dass meine deutsche Version von Jón Kalmans vorletztem Roman, Ástas Geschichte, größtenteils in der Bibliothek des Goethe-Instituts von Addis Abeba in Äthiopien entstand, wo meine Frau als Dozentin tätig war.

Einen seiner kühlsten Romane, Etwas von der Größe des Universums: Er spielt im Kühlhaus einer Fischfabrik am Rand des nördlichen Eismeers, habe ich in der Hitze eines Sommers in Südindien übersetzt.

In dem kleinen Apartment, das wir in Bengaluru bewohnten, staute sich die Hitze dermaßen, dass der Überhitzungsschutz meines Laptops das Gerät immer wieder plötzlich ausschaltete,
wobei natürlich alles nicht Gespeicherte jedesmal verloren ging. Um dem abzuhelfen, stellte ich den Computer schließlich in den Kühlschrank und tippte an der geöffneten Kühlschranktür sitzend, was auch mir zusätzlich zur Handlung des Romans etwas Kühlung verschaffte. – Eine Spitzwegidylle der etwas anderen Art.

Sie sehen, Übersetzen kann entgegen landläufiger Meinung unter leicht abenteuerlichen Bedingungen stattfinden, wenn man es als Übersetzer unbedingt darauf anlegt. Für mich besteht jedenfalls ein unschätzbarer Vorteil meines Berufs darin, dass ich ihn an nahezu jedem Ort der Welt ausüben kann. Wir dürfen uns den Übersetzer als einen auf die Welt neugierigen Menschen vorstellen.

Anders herum ist nicht zu bestreiten, dass vieles von der Welt zum Übersetzer durch die Bücher kommt, die durch seine Hände und seinen Kopf gehen. Neben seinen eigenen Erfahrungen vermitteln ihm diese Bücher etwas von der Weltläufigkeit, die ich zum Titel meiner Rede erhoben habe. Ich erkläre sie mithin auch zu einem Resultat meiner Übersetzungsarbeit, indem sie ständig zur Erweiterung meiner sprachlichen Repertoires und meiner Ausdrucksmöglichkeiten beiträgt, die nach meiner Einschätzung auch vonnöten sind, um die Romane von Jón Kalman Stefánsson angemessen zu übersetzen.

5| Um das besser nachvollziehen zu können, sollten Sie wissen, dass der Autor nach außen hartnäckig den romantischen Mythos des gänzlich planlos schöpferischen Genies pflegt.

Auch in seinen Büchern. So bricht z.B. der Erzähler in Ástas Geschichte nach vollen drei Kapiteln abrupt mit dem Ausruf ab: „Es ist unmöglich, ein Leben so zu erzählen! – Es war ein Fehler.”

Dann setzt er mit dem vierten Kapitel noch einmal ganz neu an, nicht chronologisch, sondern scheinbar willkürlich irgendwo. Und er lässt der Erzählung ihren Lauf, als würde sie sich selbst schreiben. Genau das erklärt er dem Publikum immer wieder bei Lesungen. Er fange mit dem Schreiben an, weil ihn ein Motiv, ein Gefühl, eine Erinnerung dränge, zu Papier gebracht zu werden, aber er wisse nie, wohin ihn der entstehende Text führen werde.

Ich nehme ihm diesen Mythos bis heute nicht ab. Und inzwischen weiß ich, in wie vielen Arbeitsgängen seine Texte entstehen. Zunächst einmal schreibt er sie mit Bleistift in eine Kladde. Dabei wird vielfach radiert und neu geschrieben. Wenn er diese erste Fassung in den Computer tippt, wird daraus ein gründlicher zweiter Bearbeitungsdurchgang. Das so erstellte Manuskript bekommt ein auserwählter Kreis von Freunden zu lesen. Unter Berücksichtigung von deren Anmerkungen arbeitet er den Text ein weiteres Mal durch und erstellt erst dann die Endfassung.

So viel zu der Behauptung, der Text entstehe spontan und schreibe sich gewissermaßen selbst. Was der Autor aber offenbar anstrebt, ist ein Text, der in seiner Wirkung beim Leser genau diesen Eindruck von etwas fast mündlich leichtfüßig Dahinerzähltem erweckt.

Also sehe ich mich als Übersetzer veranlaßt, besonders diese wirkungsästhetische Textintention umzusetzen, deren Mittel Jón Kalmans Stil einer scheinbar spontan dahinströmenden Leichtigkeit ist.

6| Ich denke, hier zeigt sich, dass mich als Übersetzer ein Text immer wieder vor die Frage stellt, welcher Ebene ich in seinem komplexen Gefüge bei der Suche nach Übersetzungslösungen den Vorrang gebe.

Einfache Verständnisprobleme treten wohl am sinnfälligsten auf der Wortebene in Erscheinung. Doch schon dort muss ich eventuelle Auswirkungen der Lösung, die mir meinetwegen ein Wörterbuch anbietet, mit bedenken.

Nehmen Sie als Beispiel nur einmal die schlichte Ansage in der Bibel: „Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an.” Und dann malen Sie sich die Wirkung aus, wenn ein Missionar diesen Vers
aus der Offenbarung des Johannes wörtlich in eine Sprache Afrikas übersetzt hätte, wo niemand anklopft außer Einbrechern, die testen wollen, ob jemand im Haus ist. – Wörtliche 1:1-Übersetzungen können fatale Folgen nach sich ziehen.

Ich muss also zum Einen Übersetzungslösungen je von Einzelfall zu Einzelfall suchen, dabei jedoch andererseits ihre Konsequenzen für übergeordnete Ebenen beachten und gewissermaßen strategisch überlegen, auf welche Ebene es bei der Übersetzung des jeweiligen Werkes besonders ankommt. Ich bin davon überzeugt, dass Jón Kalmans Bücher, die immer wieder um die Thematik von Vergessen und Erinnern kreisen und deswegen voller Schleifen und Wiederholungen sind, besonders von seinem Stil leben. Bei einem anderen von mir übersetzten Autor ist es vielmehr der Wortwitz der einzelnen Pointe, das Spiel mit den Doppeldeutigkeiten der Wörter.

7| Dein Fortsein ist Finsternis beginnt auf dem winzigen Friedhof eines abgelegenen Fjords auf der äußersten Nordwesthalbinsel Islands, hinter der sich nur noch das Eismeer bis zum Nordpol erstreckt. Ein angehender Jungbauer dort löst in seinem Vater einen tödlichen Herzinfarkt mit der Ankündigung aus, den Hof nicht übernehmen, sondern in die Welt hinausziehen zu wollen, um sich „Bildung”, sprich „Die Erfahrung der Welt” aneignen zu
wollen, um es mit dem trefflichen Titel von Nicolas Bouviers Bericht über seine sechzehnmonatige Reise von Genf nach Kabul in den frühen 1950er Jahren auszudrücken.

Der isländische Jungbauer unseres Romans lebt sieben Jahre in Paris, einer seiner Vorläufer studierte im 19. Jahrhundert im fernen Kopenhagen und schrieb viele Briefe an den toten Hölderlin, sein Urenkel dagegen tourt als Rock- und Bluesgitarrist durch die halbe Welt, tritt in Athen, Moskau, Bagdad, Tel Aviv auf und „fühlte den Schmerz, mit dem die Wurzeln abrissen, und die Freiheit, nirgends zuhause zu sein […] Weil das Widersprüchliche schon immer ein Grundpfeiler der menschlichen Existenz gewesen ist”.

Das Widersprüchliche oder Gegensätzliche prägt auch den Roman, in dem solche philosophischen Sätze gleich neben Popschmalz stehen, literarische Erörterungen im gehobenen Stil des 19. Jahrhunderts neben pornographischen Selbstbekenntnissen
eines heutigen Erotomanen. Angesichts dessen – das können Sie sicher nachvollziehen – braucht es schon einige Register und Manuale, um diese Orgel richtig zum Tönen zu bringen.

Das Schöne ist, dass mir dazu im Deutschen mit seinen unzähligen Fremd- und Lehnwörtern, seinen Fachsprachen, Soziolekten und Szenesprachen sogar mehr Mittel zur Verfügung stehen, als sie das Isländische kennt, in dem es keine Dialekte gibt und das bis in unsere Tage eine nahezu fremdwortfreie Sprache war.

Aufgrund der bis vor kurzem vergleichsweise geringen gesellschaftlichen Abstände zwischen Arm und Reich sowie der flachen Hierarchien gibt es in dem Land, das vor Jahrzehnten aus egalitären Gründen das Siezen abgeschafft hat, auch kaum ausgeprägte Soziolekte.

Ich wüsste aber nicht, warum ich Mittel und Modulationsmöglichkeiten unserer Sprache nicht dezent einsetzen sollte, um etwa den Charakter oder die Sprache von handelnden Personen eines Romans in der Übersetzung so nuanciert wie möglich herauszuarbeiten, zumal deutschen Lesern oft genug das lebensweltliche Hintergrundwissen zur Einordnung von Gesagtem fehlt, über welches das isländische Publikum selbstverständlich verfügt.

Die Vielfalt sprachlicher Register im Deutschen einerseits und eine gewisse „Erfahrung der Welt” andererseits kamen mir jedenfalls sehr zu Hilfe, um ein Buch zu übersetzen, das die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Liebe anhand einer Vielzahl von ineinander verflochtenen Lebensläufen handelnder Personen von der napoleonischen bis in die Corona-Zeit, vom abgelegensten Einödhof im isländischen Hochland bis zum Migrantenmilieu in
der Mittelmeermetropole Marseille durchspielt.

8| Dass das Ergebnis meiner Bemühungen nun gerade mit dem Wieland-Preis ausgezeichnet wird, freut mich ganz besonders, wird er doch überwiegend von Kolleginnen verliehen, und die
kennen die Herausforderungen und Schwierigkeiten des Übersetzens schließlich aus eigener Erfahrung von allen am besten und wissen daher übersetzerische Leistungen wohl auch am besten einzuschätzen.

Wenn ich nicht falsch geguckt habe, bin ich genau 30 Jahre nach Birgitta Kicherer der zweite Übersetzer aus einer nordischen Sprache, der mit dem Wieland-Preis ausgezeichnet wird. Darum rufe ich einer nächsten Generation meiner skandinavistischen Kollegen und Kolleginnen zu: Es gibt Hoffnung!

Lassen Sie mich meine Abschweifungen zum Thema „Übersetzen und Weltläufigkeit” mit einer Anmerkung aus dem Altisländischen des Mittelalters schließen.

Dessen Wort für „dumm” lautet heimskr, und das ist direkt vom Substantiv heima abgeleitet: „Zuhause”. Warum „Heim” und „Dummheit” von den Wikingern in engem Zusammenhang gesehen wurden, erklärt eine Halbstrophe aus den Sprüchen des Hohen in der Lieder-Edda:

Vits er þörf / þeim er víða ratar / dælt er heima hvað.

„Klugheit braucht, wer weit umherzieht. Zuhause ist alles leicht.”