Zuger Stipendium an Vera Bischitzky

(Hier folgt die ungekürzte Fassung der Dankesrede, die in Übersetzen Heft  2/2022 in gekürzter Fassung abgedruckt ist)

12.06.2022

Sehr geehrter Herr Uster, sehr geehrter Herr Gerber, sehr geehrte Mitglieder des Vorstands Zuger Übersetzer, liebe Jury-Mitglieder, liebe Franziska, sehr geehrte Damen und Herren!

Als mir im vergangenen Jahr so überraschend das großartige Zuger Übersetzerstipendium für den Abschluss meines dreiteiligen Gontscharow-Projekts[1] zugesprochen wurde, musste die offizielle Preisübergabe pandemiebedingt um ein Jahr verschoben werden. Wir alle sind davon ausgegangen, dass sich die Situation im Juni 2022 entspannt haben würde und wir fröhlich und unbeschwert feiern könnten. Ja, die Pandemie hat sich tatsächlich abgeschwächt, aber niemand wäre auf den Gedanken gekommen, dass uns eine weitere schreckliche Seuche überrollen und Europa an den Rand einer neuen, unkalkulierbaren Katastrophe führen würde: die Seuche eines kaltblütigen, skrupellosen, alle Gewissheiten außer Kraft setzenden brutalen Angriffskrieges vor unserer Haustür. Eines Krieges voller Gräueltaten, Verwüstung und Leid, Lüge, Zynismus und Geschichtsverfälschung, der von jenem Land ausgeht, dem mein lebenslanges Engagement gilt, und auch, das muss ich leider sagen, von großen Teilen der russischen Bevölkerung unterstützt wird. Solange ich denken kann (das ist nicht übertrieben), habe ich mich dafür eingesetzt, der „heiligen russischen Literatur“ Gehör zu verschaffen, wie Thomas Mann im „Tonio Kröger“ so begeistert formulierte, und für Verständigung mit der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten, insbesondere für Russland, zu werben und dazu beizutragen, manches rätselhaft Erscheinende im heutigen Russland zu beleuchten. Iwan Turgenjew schrieb schon 1868: „Russland ist doch ein Mitglied der europäischen Familie und werth, besser bekannt zu werden“.[2] Dies war die Triebfeder meiner Arbeit. Heute aber stehe ich, stehen wir vor einem Scherbenhaufen. Michail Gorbatschows Vorstellung vom „gemeinsamen Haus Europa“ ist in weite Ferne gerückt …

Es gibt ein sehr bekanntes Gedicht von Jewgeni Jewtuschenko, das vor allem als Lied populär geworden ist, «Хотят ли русские войны» – „Meinst du die Russen wollen Krieg“. In meiner Kindheit und Jugend galt mir die Botschaft dieses Gedichts als unumstößliche Wahrheit. Oft habe ich damals mit meinem Vater das Sowjetische Ehrenmal im Berliner Treptower Park besucht. Es ist zugleich ein großer Soldatenfriedhof, über siebentausend sowjetische Soldaten sind dort begraben, Russen, Ukrainer, Belarussen, Kasachen, Usbeken und Angehörige vieler anderer Nationalitäten, die gemeinsam in der Roten Armee kämpften und auch meine Eltern aus Lagerhaft und Zwangsarbeit befreiten. Sie starben, damit meine Mutter, mein Vater und dadurch auch ich leben können … Dies habe ich nie vergessen. Und heute? Heute setzt der Präsident Russlands die Invasion seiner Truppen in die Ukraine, die erbarmungslose Zerstörung von Städten und Dörfern und die Ermordung der Zivilbevölkerung mit dem Kampf der Sowjetunion gegen Nazi-Deutschland gleich und missbraucht dergestalt gewissenlos die Toten der Roten Armee zur Rechtfertigung seines brutalen Angriffskrieges. Mit Desinformation, Propaganda und Lügen wird ihr Andenken beschmutzt und auch Jewtuschenkos Antikriegsgedicht von 1961 besudelt. Nur wenige Zeilen möchte ich daraus zitieren:[3]

 

Meinst du, die Russen wollen Krieg?
Befrag die Stille, die da schwieg
im weiten Feld, im Pappelhain,
Befrag die Birken an dem Rain.
Dort, wo er liegt in seinem Grab,
den russischen Soldaten frag!
Sein Sohn dir drauf die Antwort gibt:

Meinst du, die Russen wollen Krieg?
[…]
Der Kampf hat uns nicht schwach gesehn,
doch nie mehr möge es geschehn,
daß Menschenblut, so rot und heiß,
der bitt’ren Erde werd’ zum Preis.
Frag Mütter, die seit damals grau,
befrag doch bitte meine Frau.
Die Antwort in der Frage liegt:
Meinst du, die Russen wollen Krieg?

 

„Nie mehr möge es geschehn“ … Heute fühle ich mich, als sei mir der Boden unter den Füßen weggezogen und mein Lebenswerk zertrümmert.

Alle meine Gewissheiten sind zu Staub zerfallen.

Die Brücken, über die Russland und Deutschland „Hand in Hand in die Zukunft gehen“ sollten, wie es Thomas Mann 1921 formulierte,[4] sind zerstört. Es bedarf vieler „Trümmerfrauen“, künftiger Willy Brandts und Egon Bahrs, um irgendwann einmal einen neuen Weg zu bahnen.

Dieser Krieg hat meinen gewöhnlich überbordenden Enthusiasmus und unerschütterlichen (wie ich dachte) Optimismus zum Stillstand gebracht. Wie gern ich Ihnen heute von Gontscharow vorgeschwärmt hätte, auch von meinen Sternstunden auf Podien der Russischen Akademie der Wissenschaften, bei Vorträgen in russischen Universitäten und Bibliotheken, vom Austausch mit russischen Kollegen, meiner Arbeit in Archiven, von Besuchen in Gontscharows Heimatstadt … Ich hoffe, dass ich das bei nächster Gelegenheit nachholen kann. Augenblicklich fühle ich mich hilflos, wenngleich zu meiner großen Erleichterung und Freude „mein“ Iwan Alexandrowitsch zu jenen russischen Klassikern zählt, die ohne Wenn und Aber frei waren von jedem chauvinistischen, imperialen Denken und zum guten, dem „anderen“, dem menschlichen Russland gehören.

„Ich muss jetzt einen Eimer und einen Lappen nehmen und damit beginnen, den blutigen Fleck von der russischen Kultur abzuwaschen“, sagte kürzlich der seit langem im Ausland lebende russische Schriftsteller Oleg Radsinski.[5]

Gehen wir also ans Werk!! Und vergessen wir nie dieses „andere Russland“, jene aufrechten Menschen, die sich das selbständige Denken nicht abgewöhnen lassen, sich so weit es ihnen möglich ist dem Unrecht entgegenstellen oder das Land verlassen und ebenso verzweifelt sind und leiden wie wir …

Bitte verzeihen Sie diese wenig festlichen Worte. Angesichts der Ereignisse aber konnte ich nicht anders.

***

Doch nun endlich zum heutigen Anlass: Ich bin überglücklich, dass ich mein Vorhaben abschließen und den dritten, sehr umfangreichen Roman meines verehrten Autors neu übersetzen kann.

Mein allerherzlichster Dank gilt deshalb dem Verein Zuger Übersetzer, der dieses Stipendium ins Leben gerufen hat und seit Jahren ausschreibt und es uns Übersetzern ermöglicht, das Fenster zur Welt weit offen zu halten. Vielen, vielen Dank. Der Jury möchte ich von Herzen danken für das Vertrauen in meine Arbeit und auch für das Vertrauen in Iwan Gontscharow und sein Werk, das uns allen klug, weise, geistreich und keineswegs verstaubt den Spiegel vorhält, ganz egal in welchem Land oder welcher Zeit wir leben, denn es gilt noch immer: „Was geschehen ist, eben das wird hernach sein. Was man getan hat, eben das tut man hernach wieder, und es geschieht nichts Neues unter der Sonne.“[6]

Liebe Franziska, über Deine so liebevollen, poetischen Worte freue ich mich ganz besonders. Ich finde gar nicht die rechten Worte, Dir für dieses kostbare Geschenk zu danken. Und ich möchte Dir auch für die Freundschaft danken, die uns seit Jahren verbindet. Gontscharow spricht im „Oblomow“ unter anderem davon, „dass die Liebe kraft des archimedischen Hebels die Welt bewegt“. Dies gilt ganz genau so für die Freundschaft … Und wir teilen nicht nur die Liebe zur russischen Kultur, sondern auch die Lebensfreude und sind beide eine Art Agafja Matwejewna – Oblomow-Kenner werden wissen, was ich damit meine … Wie schade, dass Iwan Gontscharow heute nicht unter uns ist. Er, der doch von großen Selbstzweifeln geplagt war, wäre überwältigt …

Sehr herzlich danken möchte ich Jewgeni Resnitschenko, dem Direktor des Instituts für Übersetzung in Moskau, für seine Video-Grußbotschaft, deren bitteres Fazit zum Glück nicht auf die deutschsprachige Kulturlandschaft zutrifft. Ich hoffe sehr, dass dies so bleibt. Auch für die jahrelange Förderung meiner Übersetzungsprojekte danke ich dem Institut für Übersetzung. Die Kollegen in Moskau werden es jetzt sehr schwer haben, ihre so wichtige Arbeit fortzusetzen …

Großer Dank gebührt dem Carl Hanser Verlag und meinem langjährigen Lektor Wolfgang Matz, die Iwan Gontscharow und seinem Werk seit Jahren ein gastfreundliches Dach und viel Zuwendung geboten haben. Auch den neuen Lektor, Georg Oswald, konnte ich als Fürsprecher für den von mir geliebten und verehrten Autor gewinnen. Ganz herzlichen Dank dafür.

Und natürlich danke ich meiner Familie, die seit Jahren, ja Jahrzehnten, meine Begeisterungsstürme über sich ergehen lassen muss und bei jeder denkbaren Gelegenheit von mir mit Zitaten aus Gontscharows Werken überschwemmt wird … In manchen Arbeitsphasen allerdings bin ich überhaupt nicht mehr zu bremsen, davon kann Javad Zoul, mein Lebensgefährte seit mehr als zwei Jahrzehnten, ein Lied singen: dann sprudeln die neu gewonnenen Erkenntnisse und Gontscharowschen Sentenzen ungebremst aus mir heraus. Seine Geduld und immerwährende Unterstützung geben mir auch die Kraft, die gar nicht seltenen Phasen des Zweifels und bisweilen der Verzweiflung zu überwinden und während des schwierigen Drahtseilaktes des Transports meiner kostbaren Fracht über Zeit und Raum hinweg vom fernen Ufer an unsere Gestade nicht abzustürzen. Auch ganz praktisch kann ich immer mit Javads Unterstützung rechnen: ob als Tintenlieferant für meinen Füllfederhalter, mit dem ich meine Manuskripte redigiere, oder als Druckerpatronen- und Schreibpapierbesorger, Beauftragter für lästige Gänge zu Post oder als Teezubereiter, wenn ich des Nachts wegen ungelöster Arbeitsprobleme nicht schlafen kann … Er tröstet mich, muntert mich auf, ermutigt mich, motiviert mich auch, wenn ich beispielsweise wieder einmal vor einer anstrengenden Auslandsreise zurückschrecke, kurz: bei ihm bin ich in Liebe aufgehoben und dies ist wohl die allerwichtigste Voraussetzung für ein gelungenes Arbeitsleben.

Großer Dank gilt allen Kolleginnen und Kollegen, die Vertrauen in mich gesetzt, mich in meinen Plänen bestärkt und mir im Laufe der Jahre Türen in neue Arbeitsgebiete geöffnet haben. Stellvertretend seien hier Arnulf Conradi und Elisabeth Ruge genannt, die mich unbeschriebenes Blatt nach meinem Wechsel in den 1980-er Jahren von Ost nach West mit gewichtigen Arbeiten für den S. Fischer Verlag betrauten, ebenso, wie später Ingke Brodersen vom Rowohlt-Berlin Verlag und viele, viele andere.

Nicht vergessen möchte ich meine russischen Kolleginnen und Kollegen, befreundete Literaturwissenschaftler in St. Petersburg, Moskau, Uljanowsk und anderen Orten der Welt, deren Namen aufzuzählen vermutlich den Rahmen meiner Redezeit sprengen würde … Jederzeit stehen sie mir mit Rat und Tat zur Seite, getreu der Wolf Biermannschen Devise: „Du darfst alle sprachbegabten und hochgebildeten Freunde als Zuarbeiter ausbeuten“.[7] Eine besonders oft von mir strapazierte „Zuarbeiterin“ aber möchte ich dennoch nennen, meine Berliner Kollegin und Freundin Ganna-Maria Braungardt, der ich unendlich dankbar bin für ihren Rat, ihren Beistand in Momenten der Mutlosigkeit und vor allem für ihre immerwährende Hilfsbereitschaft.

Diese Danksagung wäre unvollständig, würde ich nicht auch meinem wichtigsten Autor danken. Ich empfinde den „unverbesserlichen Romantiker und Idealisten“, wie sich Gontscharow in einem Brief selbst charakterisierte, als meinen Seelenverwandten und Bruder im Geiste und bin glücklich, dass mir die Ehre zuteil wurde, sein Werk in mein Deutsch zu übertragen und seine Botschaft auch ins 21. Jahrhundert zu transportieren. Denn, um noch einmal Wolf Biermann zu zitieren: „Du sollst nur Meisterwerke übersetzen, die du liebst und bewunderst.“[8] Wie recht er hat: Liebe versetzt bekanntlich Berge und lässt uns die Mühen der Ebene immer wieder mit Freude überstehen!

Deshalb auch soll Iwan Gontscharow das letzte Wort haben, ich zitiere eine Passage aus einem seiner Briefe, die anmutet, als sei sie heute geschrieben:

„Ich glaube daran, glaube, dass die zivilisierte Welt unter der drückenden Last der elenden, krankhaften, wahnhaften Phantastereien oder der dreisten und verbrecherischen Versuche, die harmonische Entwicklung und den Lauf der menschlichen Existenz zu stören oder zu zerstören usw., nicht untergehen wird. Dieser Brand kann das eine wie das andere für eine gewisse Zeit in Asche legen, doch aus der Asche werden neue Phönixe aufsteigen.“[9]

[1] „Eine gewöhnliche Geschichte“-„Oblomow“-„Das Steilufer“
[2] Iwan Turgenjew, Brief an Ludwig Friedlaender vom 26.10.1868.
[3] Übersetzt von Sigrid Siemund. Nebenbei bemerkt, dieses Gedicht/Lied wird im heutigen kriegsführenden Russland ebenso grausam, zynisch missbraucht und als Propagandainstrument eingesetzt – im März 2022 gesungen von einem Kinderchor, auf den Halstüchern der Chorsänger prangt der Buchstabe „Z“ und der Schriftzug „für den Sieg“ – за победу.

[4] „Gehe hin, mein Heft, ich habe dich eingeleitet. Und habe ich meine Sache nicht gut gemacht, die Sache war gut. Denn Russland und Deutschland müssen einander besser und besser kennen. Sie sollen Hand in Hand in die Zukunft gehen.“ Thomas Mann, Russische Anthologie, 1921.
[5] Oleg Radsinski, in einem Interview, ntv, 30.04,2022.
[6] Altes Testament. Kohelet 1.9
[7] Wolf Biermann, Wie man Verse macht und Lieder, Zehn Gebote zum gediegenen Dolmetzschen, 1997.
[8] Ebenda.
[9] Aus einem Brief vom 19. August 1880 seinen Freund Anatoli Koni, einen der bedeutendsten russischen Juristen seiner Zeit. Bezieht sich auf einen Aufsatz Konis „O pričinach razvitija volnenij meždu molodež’ju“, in dem Koni anhand konkreter Beispiele nachwies, dass eine Vielzahl Beschuldigter im „Prozess der 193“ (ihr Durchschnittsalter betrug 19 Jahre) ohne jede Grundlage Repressalien von Seiten der Regierung ausgesetzt war). I. G. Briefe an A. Koni, Böhlau 2016.