Helmut-M.- Braem-Preis an Stefan Moster

(Hier folgen die ungekürzte Fassung der Laudatio, die in Übersetzen Heft  02/2022 in gekürzter Fassung abgedruckt ist, sowie die ebenfalls ungekürzte Dankesrede des Preisträgers)

Manuela Reichart

Laudatio auf Stefan Moster    Wolfenbüttel 25.6.2022

Bevor ich Stefan Moster lobe und preise, wofür ich hier ja heute stehe, möchte ich eine Vor­bemerkung machen:

Ich war in der Jury für den Helmut-M.-Braem-Preis – und ich bin da – was eine sehr gute Er­fahrung war – ziemlich demütig geworden. Ich lese natürlich andauernd Übersetzungen auch jenseits dieser Jurylektüre, aber all zu oft nehme ich sie als etwas Selbstverständliches wahr, mir fällt natürlich auf, wenn deutsche Sätze oder Begriffe nicht richtig stimmen, aber viel zu selten schaue ich aus einem Buch auf und sage mir, was für eine großartige Übertragungsar­beit lese ich hier gerade. Stattdessen lese ich die Übersetzung als wäre es ein literarischer Ori­ginaltext. Nun kann man sagen, wenn das so ist, dann ist das gut, denn dann hat die Überset­zerin, der Übersetzer wirklich gute Arbeit geleistet. Ja, das ist sicher so, aber: nein, das ist ganz und gar keine gute Haltung beim Lesen fremdsprachiger Literatur, denn wir vergessen eben die gute Arbeit, Ihre gute Arbeit, die da geleistet wurde. Und: Dass und wie viel Arbeit und Recherche und Zeit und Genauigkeit Sie, die Sie Ihr Geld mit Übersetzungen verdienen, die Sie all Ihre Leidenschaft in diese Arbeit stecken – täglich aufbringen und manchmal Jahre mit einem Buch verbringen, das hat mich – wie gesagt – wirklich demütig gemacht.

Ich schreibe häufig Rezensionen und dabei kommen mir Bücher natürlich auch nah, begleiten mich, ich lasse mich von ihnen verzaubern oder werde abgestoßen, denke darüber nach, was und warum da so geschrieben und erzählt wurde, aber im Vergleich zu Ihrem Leben mit den Büchern, mit den Originaltexten, sind das eher periphere Begegnungen.

Wir sind ein wirklich literaturreiches Land – auch und besonders dank all dieser Übersetzun­gen. Das ist mir in dieser Jury und in dem Gespräch mit Ihren Kolleginnen und dem Kollegen noch einmal und besonders heftig klar geworden.

Wir haben es uns nicht leicht gemacht, wir hatten es nicht leicht, denn unter all den Einrei­chungen gab es viele auszeichnungswürdige Übersetzungen.

In dem von Stefan Moster aus dem Finnischen übersetzten Gegenwartsroman

DER SCHILDKRÖTENPANZER von Mooses Mentula (der gerade im Bonner Weidle Verlag erschie­nen ist) gibt es ein Motto des britischen Musikers Peter Perrett –

Manche Menschen sind Schriftsteller/ Some people are writers

andere sind begeisterte Leser/ Others avid readers

manche saugen wie Vampire/ Some absorb like vampires

und manche sind Bluter/ And some are bleeders

Ich glaube, dass Sie alle, und dass vor allem Stefan Moster zu all diesen vier Kategorien ge­hört.

Er ist Schriftsteller, er ist ein begeisterter Leser, er saugt die Texte, die literarischen Vorlagen auf, absorbiert sie und manchmal blutet er – sinnbildlich – angesichts von Begriffen oder Satzkonstruktionen, die sich nicht einfach oder auch überhaupt nicht ins Deutsche übertragen lassen wollen.

Und so ist es ihm wohl mit der Übersetzung des großen Romans gegangen, für den wir ihn heute auszeichnen. In seinen Anmerkungen zur Übersetzung schreibt er

Nachdem ich die erste Fassung von IM SAAL VON ALASTALO abgeschlossen hatte und mir die Liste der offenen Stellen ansah, musste ich feststellen, dass noch circa 1500 Fragen offen waren: Sie bezogen sich auf Wörter, über deren genaue Bedeutung ich mir nicht im Klaren war und die ich in keinem Wörterbuch finden konnte, auf idiomatische Wendungen, die ich nicht kannte und bei denen ich mich daher nicht sicher fühlte, auf Gegenstände und Sachver­halte, die ich auch bei gründlicher Recherche nicht eindeutig identifizieren konnte, auf Satz­konstruktionen, die zwei- oder mehrdeutig waren. Hinzu kamen die Fälle, in denen ich die Bedeutung der Begriffe und Wendungen zwar verstand, aber weit davon entfernt war, eine angemessene deutsche Entsprechung für sie zu finden.

1500 offene Fragen: Angesichts dieses unglaublichen mehr als 1000seitigen Romans, der – wie Stefan Moster schreibt – von einem außerordentlichen Gestaltungs- und Stilwillen des Verfassers geprägt ist, handelt es sich bei dieser Zahl bestimmt nicht um eine Übertreibung. Zumal es offenbar viele Wörter gab, die nicht nur nicht mehr gesprochen werden im heutigen Finnischen, sondern die auch Fachleuten unbekannt waren. Was viele, viele Stunden in vielen Archiven, vor allem dem Dialektarchiv in Helsinki für den Übersetzer zur Folge hatte, der im Übrigen hier nicht nur als Übersetzer firmiert, sondern auch als Herausgeber, als kluger und kenntnisreicher Nachwortverfasser. Ohne ihn läge dieser große Roman der Moderne nicht in einer deutschen Übersetzung vor, kein Verlag hätte sich vermutlich ohne ihn an dieses Mam­mutwerk herangetraut. Und wir würden das Buch in all seiner Bedeutung, in all seinen Facet­ten nicht einordnen können, weil die wenigsten von uns mit der finnischen Literatur vertraut sind, vom Leben und der Leidenschaft, dem Rang und den Misserfolgen des Autors Volter Kilpi also keine eine Ahnung haben. Der ging bei Erscheinen des Romans 1933 auf die sech­zig zu und hatte seit 30 Jahren nichts veröffentlicht. Dass Stefan Moster unsere Unkenntnis leichthändig ändert, in dem er von der Entstehungsgeschichte des Romans, seiner Rezeption und den Enttäuschungen des 1939 – im Alter von 65 Jahren – gestorbenen Oberbibliothekars und Schriftstellers schreibt, ist ihm gar nicht hoch genug anzurechnen.

IM SAAL VON ALASTALO: Das ist ein bedeutender Roman der Moderne, er reiht sich ein in große Ein-Tages-Romane wie die von James Joyce oder Virginia Woolf. Er spielt an einem Herbsttag des Jahres 1864. Ein Roman, der literarische Formen der Moderne benutzt – wie innere Monologe und Bewusstseinsstrom -, der jedoch und auch das macht ihn so faszinie­rend, nicht die Zersplitterung, die Auflösung einer hergebrachten Gesellschaft beschreibt, sondern mit dieser Art des Erzählens zurück geht in eine Zeit, die gerade noch intakt ist, die sozusagen angesiedelt ist kurz bevor die Moderne ausbricht. Sinnbildlich kann man das wohl an der Erfindung des Eisbrechers festmachen, der das Leben auf den Schären grundlegend änderte, der die Langsamkeit des winterlichen Alltags beschleunigte (der älteste erhaltene Eisbrecher wurde 1907 gebaut). Keiner der Protagonisten hat natürlich eine Ahnung von der Zeitenwende, die bevor steht. Die Männer der finnischen Schärengemeinde Kustavi, die sich da aus wichtigem Anlass treffen, es sind Bauernkapitäne – ein Begriff, den ich noch nie ge­hört hatte, aber es waren eben nicht nur Seefahrer, sondern auch Bauern – sind sich in ihrer Zeit und ihrer Lebensform gewiss. Sie treffen sich bei einem von ihnen, um Anteilsscheine zu zeichnen an einem neuen Schiff, einem Dreimaster, einer Barke. Oder – wie Stefan Moster – den Roman zusammenfasst: Mitte der 1860er-Jahre sitzen 28 Männer aus einer südwest-fin­nischen Inselgemeinde sechs Stunden lang in einem großen Saal, trinken Grog und beraten über den Bau einer Bark.

Darum – fußend auf den Erzählungen des Autors in seiner Kindheit – dreht sich dieser Ro­man, der – noch einmal Stefan Moster – mit den längsten Sätzen aufwartet, die jemals ein Mensch in Finnland verfasst hat, und das sich auch sonst in jeder Hinsicht von dem unter­scheidet, was an Prosa in der finnischen Literaturlandschaft je existiert hat.

Und sich dafür alle literarische Zeit der Welt nimmt. Der Roman ist ein einziges Plädoyer für die Langsamkeit, für langsame und genaue Beobachtungen: Für die Wahl der richtigen Pfeife zum Beispiel werden hier etwa 200 Seiten veranschlagt. Und wenn Sie jetzt befürchten, das sei langweilig, dann muss die Antwort lauten: ja, das ist lang-weilig, im wahren Sinn des Wortes und zugleich höchst unterhaltsam und faszinierend, weil hier alle Spannung aus der Sprache, aus dem Rhythmus, der klanglichen Intensität kommt.

Und das zu übertragen, dafür deutsche Entsprechungen, einen Ton, eben eine klangliche In­tensität zu finden, das ist die große, die besondere Leistung des Übersetzers Stefan Moster. Jenseits aller großartigen einzelnen Wortschöpfungen und Wortneubelebungen, – andauernd muss man sich bei der Lektüre Begriffe vergegenwärtigen, muss man nachschlagen: Wissen Sie was eine Darre ist zum Beispiel oder ein Stangerich. Er hat dieser – wie Volter Kilpi das genannt hat –kosmischen Dichte des Lebens, die diesem finnischen Welt-Roman zugrunde liegt einen rundum gelungenen, spannenden und faszinierenden deutschen Ton verliehen. Oder – wie wir das in unserer Begründung für den Preisträger formuliert haben:

Seine einfühlsame Übertragung lässt die singuläre Ästhetik des Romans auf Deutsch neu ent­stehen.

Ich möchte Ihnen ein Beispiel vorlesen, eine meiner (es gibt davon hier viele)  Lieblingspas­sagen: Der Vertrag wurde ausführlich beraten, Abschweifungen und Erinnerungen, das ge­mächliche Durchschreiten des Saals ausführlich beschrieben, jetzt geht es ans Unterschreiben der Anteilscheine, wir befinden uns auf Seite 744 – Kapitel 15: Das Schreiben der Namen beginnt, und es werden Schiffsanteile gezeichnet. Alastalo, einer der wohlhabendsten unter den Männern, der Initiator und die Runde in seinen imposanten Saal Einladende, über den es knapp 500 Seiten später heißt, er sei ein Mann so munter wie ein kreisendes Mühlrad, wenn ein guter Nordwind draußen die Flügel dreht, was die Blätter halten und die Gestellgräten hergeben, Alastalo macht sich ans Unterschreiben:

Lesung S. 744-746

Ich gratuliere, die Jury des Helmut M. Braem-Preises gratuliert herzlich Stefan Moster, der ohne Frage hier und überhaupt so viele Eisen auf dem Denkamboss hatte, dass ihm die Über­tragung dieses literarischen Wunderwerks auf großartige und alle Leserinnen und Leser ban­nende Weise gelungen ist.

 

***

 

Stefan Moster

DANKESREDE ZUR VERLEIHUNG DES HELMUT-M.-BRAEM-PREISES 2022

Wolfenbüttel, 25.6.2022

Im Sommer 2008 saß ich mit zweihundert anderen Menschen in einer finnischen Schulturnhalle und blickte von meinem Platz in der ersten Reihe auf eine Sprossenwand, an der ein Tau befestigt war. Die Vorstellung begann damit, dass ein Schauspieler hereinkam, das Tau ergriff, es sich über die Schulter legte und sich dann so hineinstemmte, dass es aussah, als ziehe er etwas von großem Gewicht.  Er blickte in die Ferne, weit aus der Schulturnhalle hinaus, und fing an zu sprechen. Was er sagte, fing so an:

Die Spur eines Schrittes im Schnee. Eine zweite Spur, Fußspur um Fußspur, zurückgelassen in langer Reihe, in fadengerader Linie weit auf die offene Fläche hinaus ins endlose Dunkel. Schritt für Schritt die Spur des schweren Menschenfußes im Schnee, ein Schritt links und ein Schritt rechts, beiderseits daneben der Schnitt der Schlittenkufe, scharf gezogen in den werstweit unberührten Schnee auf der Eisdecke.

Das alte bebende Bein setzt einen neuen Schritt und fügt den alten Spuren im Schnee eine neue hinzu, setzt zitternd noch einen zweiten Schritt, einen dritten und vierten sogar, auch den fünften noch, gebeugt schleppt die verschlissene Schulter den Schlitten am Seil, und die Last des Schlittens rückt in gleicher Trägheit voran auf den Kufen im tiefen Schnee.

Das Tau und Körperhaltung hätten genügt, um die Vorstellung eines Menschen, der eine Last zieht, zu wecken. In Verbindung mit der Sprache aber wurde das Bild spürbare Wirklichkeit. Der alte Mann, der einen mit Wacholderzweigen beladenen Schlitten über das zugefrorene Schärenmeer zog, um später daraus Zapfen zu schnitzen, die beim Bau von Schiffen und Booten die Spanten zusammenhalten, war mehr als der Protagonist einer einzelnen Erzählung, sonst hätte der Verfasser seinen Duktus nicht vom ersten Satz an mit einer solchen Intensität aufgeladen. Hier ging es um den Menschen an sich. Ecce homo. Diese Sprache meinte es ernst. Sie setzte alle Mittel ein, um ihrem Gegenstand gerecht zu werden, war sich der Bedeutung von Rhythmus und Klang bewusst und wagte sich dabei auch an das Pathos heran, das man nicht scheuen darf, wenn man Existenzielles zu sagen hat.

Zugleich besaß diese Sprache einen Ton, der aufmerken und dahinter einen eigenwilligen Geist vermuten ließ.

Was ich damals in der Schulturnhalle aus dem Mund des Schauspielers hörte, war Volter Kilpis Erzählung „Der Wanderer auf dem Eis“. Sie stammt aus dem zweiten Teil einer Trilogie, die Kilpi über seine Heimatregion in den finnischen Schären geschrieben hat, und dessen ersten Teil der Roman Alastalon salissa (Im Saal von Alastalo) bildet.

Natürlich sprach der Schauspieler den Text auf Finnisch. Was ich gerade der Verständlichkeit halber vorlas, stammt aus meiner deutschen Fassung, die man in dem Büchlein Der Wanderer auf dem Eis nachlesen kann. Aber ich erwähne das Ganze nicht  deshalb, weil ich Reklame für dieses wunderbare kleine Buch machen möchte, sondern weil  damit die Geschichte meiner Übersetzung von Volter Kilpis großem Roman Im Saal von Alastalo beginnt, ohne die ich den Helmut-M.-Braem-Preis nie bekommen hätte. Sie beginnt damit, dass ich Volter Kilpis Sprache in ihrer Klangfülle höre und merke, wie sie mich anspricht. Zwar verstehe ich nicht jedes Wort aus dem Mund des Schauspielers am Tau, aber mir wird klar, dass ich Kilpis Ausdrucksweise in einem umfassenden, vielleicht könnte man sogar sagen: tiefen Sinne verstehe. Und da ich als Übersetzer aus dem Finnischen in der Schulturnhalle von Kustavi sitze und weiß, dass Kilpis Werke nicht ins Deutsche übersetzt worden sind, entwächst der Erfahrung, eine individuelle literarische Ausdrucksform besonders wertzuschätzen und zu verstehen, wie von selbst die Inspiration, mich als Übersetzer in den Dienst dieser Ausdrucksform zu stellen.

Das Außergewöhnliche an diesesr Inspiration: Sie kam mir wie eine moralische Verpflichtung vor.

Ich wusste von keiner Kollegin, die Anstalten machte, sich Volter Kilpis Werken zu widmen. Kilpi schrieb Weltliteratur, die außerhalb Finnlands kein Mensch kannte. Wollte man also im Sinne von Goethes Begriff der Weltliteratur handeln, hieß das: Kilpi übersetzen.

„Du musst das machen!“, sagte jemand zu mir. Und dieser Jemand war Kilpi selbst.

Ich sagte nicht nein, aber mir war klar, dass ich der Aufgabe noch nicht gerecht werden konnte. Zum damaligen Zeitpunkt hatte ich 15 Jahre Erfahrung als Übersetzer aus dem Finnischen. Ich wusste, das war zu wenig. Und wenn man weiß, dass man etwas nicht kann, darf man es nicht tun. Es brauchte noch zehn Jahre und circa vierzig Bücher, bis ich dass Gefühl hatte, mit dem nötigen Rüstzeug ausgestattet zu sein.

Dies sage ich nicht in der Absicht, an einer Heldenlegende zu stricken, sondern weil ich es für ein zentrales Thema für Menschen halte, die Literatur übersetzen, dass sie das Bewusstsein für sich selbst, für die eigenen Stärken und Defizite nicht verlieren. Dass sie sich im Klaren darüber sind, wie sie handeln, vor welchem Hintergrund und unter welchen Voraussetzungen.

Volter Kilpi, der selbst Goethes Werther und ein paar Sachen mehr ins Finnische übersetzt hatte, wünschte sich zeit seines Lebens sehr, übersetzt zu werden, wenn auch zunächst einmal ins Schwedische. Er hoffte, ein Erfolg in Schweden würde seinem Roman, der sich leider nicht besonders gut verkauft hatte, auch in der Heimat zu einem Aufschwung verhelfen. In dem finnlandschwedischen Lyriker und Prosaisten Elmer Diktionius fand er rasch einen Mann mit literarischen Fähigkeiten, der sich bereit erklärte, das Mammutwerk in Angriff zu nehmen – allerdings unter der Bedingung, vorab und in monatlichen Tranchen bezahlt zu werden. Kilpi zahlte, und zwar aus eigener Tasche, denn er machte sich Hoffnungen. Leider erwies sich Diktionius als einer, der mehr Schriftsteller und Bohemien als Übersetzer war. Er strich den Vorschuss ein, lieferte aber nicht mehr als zehn von tausend Seiten, mit denen Kilpi dann nicht einmal zufrieden war.

Man wird verstehen, dass die Kenntnis dieser Geschichte meine moralische Verpflichtung nicht gerade schwächte.

Zwar hatte Thomas Wharburton den Ruf unserer Zunft gerettet, indem er das Werk in den 90er Jahren ins Schwedische übersetzte, aber es war danach keine andere Fassung in irgendeine Sprache gefolgt. Ein Engländer namens David Barrett wollte sich heranwagen, gab aber ebenfalls nach etwa zehn Seiten auf und begründete dies wie folgt:

Reluctantly (I really have tried) I have been driven to conclude that Alastalon salissa is untranslatable, except perhaps by a fanatical Volter Kilpi enthusiast who is prepared to devote a lifetime to it. To mention only one of the difficulties, there is no English equivalent to the style of the Finnish ‘proverbs’ (real or imaginary) with which the main character Alastalo’s thoughts are so thickly larded. Add to this the richness and, yes, eccentricity, of Kilpi’s vocabulary, and the unfamiliarity of much of the subject-matter, centred as it is on the interests of a sea going community that hardly exists any longer, even on the islands, and you have a text that is full of pitfalls for the translator. As for the humour, I’m sorry to say that it depends so much on the idiom and presentation that it doesn’t come over at all. If I did any more, I’m afraid it would just have to be a laborious paraphrase, and I don’t think I’m capable of making it effective, or even readable, in English.

Mir sind diese Aussagen erst begegnet, als ich die Arbeit bereits aufgenommen hatte. Sie machten mich nicht nervös, obwohl ich bereits enorm mit Kilpis Text kämpfte. Barretts Sätze hielten mir vor Augen, wie anders ich den Prozess des Übersetzens verstand. Ehrlich gesagt begriff ich nicht, wie ein literarischer Übersetzer sich so äußern konnte. Allein die Überhöhung, die in der Behauptung bestand, man müsse dem Werk sein ganzes Leben widmen, um ihm gerecht zu werden, ist mir fremd.

Wer übersetzt, muss sich, wie gesagt, im Klaren darüber sein, wozu er fähig ist und wozu nicht. Insofern ist es eine gute Sache, dass Barrett das Buch nicht übersetzt hat, aber seine Argumente halte ich für zweifelhaft. Zwar glaube ich sofort, dass sich die Idiomatik des Englischen von der des Finnischen unterscheidet, aber mit Sicherheit lässt sich in beiden Sprachen gleichermaßen farbenreich formulieren. Kilpis Sprache mag etwas Exzentrisches an sich haben und verfügt mit Sicherheit über einen großen Reichtum, aber die englische Sprache ist voller Synonyme und die Geschichte der englischsprachigen Literatur voller exzentrischer Schrifsteller:innen, die schreiben und geschrieben haben, wie es ihnen passt und passte. Und die Tatsache, dass ein Motivkreis unbekannt ist und ein Roman von einer Gemeinschaft erzählt, die es als solche nicht mehr gibt, stellt keinen Grund dar, ein Buch nicht zu übersetzen, sondern spricht – im Gegenteil – unbedingt für dessen Übersetzung. Schließlich geht es beim Übersetzen auch darum, das Unbekannte zu vermitteln und den Menschen die Gelegenheit zu geben, andere Kulturen kennenzulernen. Und was den Humor betrifft: Den findet man in allen Ländern. Überall auf der Welt wird geweint und gelacht.

Ich glaube schon, dass es unübersetzbare Texte gibt, aber das sind sehr, sehr wenige mit ganz spezifischen Eigenschaften, beispielsweise einzelne Werke der konkreten Poesie.

Ansonsten finde ich das Faszinierende am Übersetzen ja gerade, dass es funktioniert.

Ich möchte noch einen letzten Aspekt ansprechen, weil er mich ebenso fasziniert und weil er

bei der Übersetzung eines Klassikers besonders zu Buche schlägt.

Bei aller Objektivierbarkeit der Eigenschaften eines literarischen Werkes, bei allem Wissen darum, wie ich als Übersetzer auf diese Eigenschaften reagieren muss, um ihnen gerecht zu werden, nähere ich mich dem Werk doch zwangsläufig mit einem individuellen Ansatz, denn Ich, mit meinem Hintergrund, mit meiner Erfahrung, meiner Sprache, meinem Herzen und meinem Kopf übersetze dieses Werk. Ich und niemand sonst.

Dieser unumgehbare Umstand führt zu einem Thema, dessen Überschrift lauten könnte: Transhistorische Gültigkeit eines Klassikers versus zeitgebundene Individualität einer Übersetzung.

Volkstümlich und persönlich gesprochen: Mir ist der Gedanke nach wie vor etwas unheimlich, dass Volter Kilpis Roman, den ich für ein Werk von bleibendem Wert halte,

ausgerechnet durch mich hindurchgegangen ist, um im Deutschen seine Bedeutung zu entfalten.

Vorige Woche schickte mir eine Freundin ein Foto der aktuellen Seite des Arche Literaturkalenders. Zu sehen war ein Foto von Volter Kilpi vor einem Bücherregal, versehen mit Informationen zum Autor.  Daneben ein Zitat aus seinem Werk.  Ich las es und dachte: Schöne Stelle. Schon ein guter Autor, dieser Kilpi.

Erst als ich Stunden später meiner Frau das Foto der Kalenderseite zeigte, kapierte ich, dass die betreffende Textstelle ja aus meiner Übersetzung stammte. Daraufhin las ich sie noch einmal und fand sie immer noch gut. Vermutlich war das der Moment, in dem ich mich bereit fühlte, den Helmut-M.-Braem-Preis anzunehmen.

Vor allem aber ist es ein Moment, der ein Licht auf ein erstaunliches Phänomen wirft: Im Zusammenspiel von Werk und Übersetzer:in kann etwas entstehen, was ohne dieses Zusammenspiel nicht entstehen könnte.

Volter Kilpi verfüge über einen Wortschatz shakespeareschen Ausmaßes, hat die Neue Zürcher Zeitung über Im Saal von Alastalo geschrieben. Ich verfüge über diesen gewiss nicht. Für die Dauer der Übersetzung von Kilpis Roman verfügte ich aber offenbar doch darüber. Und für die Dauer der Übersetzung wurde mir Kilpis Stil zu eigen, als wäre das genau so vorgesehen.

Das ist die Magie der Übersetzung.

Wenn etwas Wahres und Schönes gesagt wird, ist das immer ein Grund für gute Stimmung. Das ist in diesem Saal hier nicht anders als im Saal von Alastalo im Roman.

/Zitat aus Im Saal von Alastalo: Anfang Kapitel 9, S. 453-Ende erster Absatz auf S. 454/

Liebe Kolleginnen und Kolleginnen, ich hätte nie gedacht, dass man als Übersetzer aus dem Finnischen einen so bedeutenden Preis bekommen kann. Unwillkürlich fragt man sich, ob dabei alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Ich freue mich trotzdem darüber, wenn auch nicht völlig zügellos, weil ich natürlich weiß, dass es auch andere preiswürdige Übersetzungen gegeben hätte.

Ich bin Volter Kilpi dankbar, dass er mich beauftragt hat, seinen außergewöhnlichen Roman ins Deutsche zu bringen.

Ich bin dem mareverlag dankbar, dass er das verlegerische Wagnis eingegangen ist, den Tausendseiter eines vollkommen unbekannten Autors herauszugeben und dabei auch noch von Anfang bis Ende mit Begeisterung bei der Sache gewesen ist.

Ich danke meiner Lektorin Angela Volknant für ihren Beistand und ihren Einsatz für ein Projekt, das starke Nerven, belastbares Durchhaltevermögen und viel Geduld verlangt hat.

Ich danke Manuela Reichardt für die Schamesröte, die sie mir mit ihrer Laudation ins Gesicht getrieben hat, vor allem aber, weil sie so schön das Besondere an Kilpis Roman hervorgehoben hat.

Ich danke dem Freundeskreis, und ich danke der Jury, dass sie mich als Preisträger ausgewählt hat.

Diesen Preis weiß ich schon deshalb besonders zu schätzen, weil er von Menschen vergeben wird, die sich mit Übersetzungen auskennen.

Herzlichen Dank!