Bayern-Stipendium an Andrea O'Brien

Kristina Kallert

(Hier folgen die ungekürzte Fassung der Laudatio, die in Übersetzen Heft 2/2023 in gekürzter Fassung abgedruckt ist, sowie die ebenfalls ungekürzte Dankesrede der Preisträgerin)

Liebe Andrea O´Brien, sehr geehrter Herr Staatsminister Blume, liebes Publikum,

es gibt ein sehr kurzes tschechisches Gedicht, von dem jungen Lyriker František Hruška, der zugleich Musiker ist mit besonderem Interesse für die Klänge des Windes. Er hat es einem Kollegen gewidmet.

STEAK
für Petr Král

Und dann hab ich´s kapiert
Gedichte – da geht’s nicht um Wörter

Ein Gedicht ist, wie Günter Eich sagt, ein Roman in Kurzform, und somit geht es also auch in einem Roman nicht einfach um viele, sehr sehr viele Wörter. Worum dann?

Aus Zeitgründen greife ich nochmals zum Gedicht: es sind drei  Varianten einer vierzeiligen Strophe, die lexikalisch absolut identisch sind. Es geht also nicht um die Wörter selbst, sondern um ihr Verhältnis.

Die letzten Bäume gingen aus dem Park davon
Nur ein alter Herr blieb zurück und er zeichnet

mit einem messingbeschlagenem Stock
Vierecke und Kreise in die Luft

Die letzten Bäume gingen aus dem Park davon
Zurück blieb nur ein alter Herr und er zeichnet
in die Luft mit messingbeschlagenem Stock
Vierecke und geschlossene Kreise.

Die letzten Bäume gingen davon aus dem Park
Zurück blieb nur ein alter Herr und er zeichnet
mit messingbeschlagenem Stock
Vierecke in die Luft und geschlossene Kreise

Die beiden ersten Varianten sind eigentlich ganz schön. Einmal haben wir deutsche Normalfolge in der Syntax, hier mit dem Effekt einer fast etwas zu unentschlossenen Lakonie;  dann folgt ein sehr genaues Abbild der tschechischen Wortstellung im Deutschen, vielleicht etwas zu bedeutungsheischend in den entstehenden Spannungsverhältnissen.

Und schließlich: Leichtigkeit, mit ein paar überraschenden Synkopen, und diese sparsam gesetzten präzis inszenierten Überraschungen sind wie Wegweiser ins Gedicht hinein. Die Übersetzung dieser vier Zeilen von Jan Skácel stammt von Reiner Kunze.

Die Grundregeln der Zielsprache kennen, dem Original folgen, nicht aber unter seiner Knute allzu schematisch an den Grenzen des Möglichen entlangwandern, sondern aus der Spannung zwischen beiden Polen zu einer neuen und überraschenden Freiheit gelangen – das ist die individuelle übersetzerische Leistung. Es ist ein Tanz der Grammatik, der die Lexik ins Leben zieht, und das entstehen lässt, was wir, verlegen um Besseres, sehr unbestimmt den Ton nennen. Der Ton ist getroffen. Als würden wir, wenn wir so urteilen, etwas wiedererkennen, und es ist doch gerade das Neue, was uns da berührt.  Aber in diesem scheinbaren Widerspruch haben wir das Ereignis der Kunst.  Deswegen wünscht man sich Übersetzungen.

Das vielzitierte Bild vom Übersetzen als Fährdienst hinüber zum anderen Ufer habe ich gecancelt. Ich finde es nicht treffend. Denn Autor und Übersetzer laufen auf etwas versetzter Höhe  jeder an seinem Ufer zu auf die Mündung.  Es geht um den Fluss, der derselbe bleibt, auch wenn sich links ein Prallhang zeigt und damit rechts ein Gleithang, und auch wenn öfters gemeldet wird: südlich der Donau vereinzelt Gewitter.

Die diesjährige Jury fand, liebe Andrea O´Brien, dass Sie wissen, was es heißt, den Ton zu treffen, dass Ihnen bewusst ist, wie sehr es auf jede Nuance ankommt, weil jede Nuance in ein größeres Umfeld strahlt und dass sie sich in der Reflexion dieser Strahlung einen singulären Auftritt verschafft, kurz: dass Sie, liebe Andrea O´Brien, wie ein Jongleur, sehr viele Bälle im Spiel des  Ganzen in Bewegung zu halten verstehen. Verzeihen Sie mir, wenn ich meine Verneigung vor Ihrem übersetzerischen Können von meinem Terrain aus zu Ihnen hinübergwunken habe, von meiner kleinen tschechischen Insel  zu Ihrem großen englischen Kontinent.

Aber – ich habe Claire Fullers Unsettled Ground gelesen, neugierig geworden durch Ihre Übersetzungsprobe. Und ich habe dabei an Sie gedacht. Mit einem Ton wird es nicht getan sein. Sie haben da etwas sehr Vielstimmiges zu orchestrieren, entstehen doch die Charaktere und Atmosphären hauptsächlich aus der Figurensprache und den inneren Perspektiven, bei der Hauptfigur Jeanie auch aus ihrer Art, die Welt zu hören: die Bäume, den Hund, die Musik und den Wind. Der Text hält sich in einer eigenartigen Schwebe; manchmal war ich mir nicht mehr sicher, in welcher Zeit das Geschehen spielt. Diese Unbestimmtheit hat etwas mit Jeanie zu tun, sie lebt in den anderen Zeiten des Gartens und der Musik. Ich will den Schluss nicht verraten, aber ich würde sagen: Es ist ein Entwicklungsroman in die Sprache und ein aktives, ein handelndes  Verhältnis zur Welt hinein. Alles vertauscht dabei seine Position, wird wie das Klavier von Julius nach draußen und auf den Kopf gestellt. Eine behutsame, fast widerwillige, auch gewalttätig sich ereignende Entwicklung ins Freie. Eine Explosion an Stimmen, eingebettet in eine höchst zurückgenommene auktoriale Erzählweise. Schwierig, verlockend und sehr viel genaue Arbeit, bei der es wahrlich nicht nur um Wörter geht, sondern ums Steak.

Dass Sie das können, liebe Andrea O´Brien, beweist Ihre Übersetzungsprobe. Damit Sie es aber auch aus- und durchhalten, bekommen Sie heute ein Stipendium. Wir freuen uns auf Ihre Übersetzung und gratulieren Ihnen alle sehr herzlich.

***

Dankesrede

Sehr geehrter Herr Staatsminister Blume, liebe Frau Donoughue, lieber Lars, liebe Kristina, liebe Tanja, liebe Freund*innen, Kolleg*innen und Gäste,

ich stehe heute vor Ihnen und bin von Dankbarkeit erfüllt. Mit großer Freude und Stolz möchte ich mich bei Ihnen für das Stipendium bedanken, welches mir für meine literarische Übersetzung gewährt wurde. Ohne Ihre großartige Unterstützung wäre mein Traum, ein Werk zu übersetzen, in eine ferne Welt zu transportieren und mit anderen Menschen zu teilen, nicht Wirklichkeit geworden.

Mit meinen Bemühungen werde ich dazu beitragen, dass mehr Menschen von der Schönheit der Literatur und den vielen Brücken, die sie zwischen uns baut, erfahren werden.

Und so weiter und so fort. Keine Sorge, ich werde sie nicht länger mit pathetischen Plattitüden langweilen. Diese sind das Werk eines Chatbots, und ich habe meine Rede nur damit begonnen, um Ihnen zu zeigen, wie die bisweilen so hoch gepriesene künstliche „Intelligenz“ arbeitet, was sie hervorbringt, wenn man sie „kreativ“ werden lässt. Dass es sich bei KI nicht um „Intelligenz“ im deutschen Wortsinn handelt, sei hier nur am Rande erwähnt, das englische Wort „intelligence“ bedeutet in diesem Zusammenhang lediglich „Sammeln von Daten“. Und das ist nicht besonders intelligent, und Kunst ist das erst recht nicht. Nun also ganz in echt:

Ich freue mich sehr, dass wir heute hier gemeinsam feiern können. Es ist ein großes Glück, dass es in Bayern ein Arbeitsstipendium für Literarische Übersetzer und Übersetzerinnen gibt, das unsere Arbeit würdigt, anerkennt, auszeichnet und uns – nicht zuletzt – eine finanzielle Aufwertung beschert. Dafür möchte ich mich an dieser Stelle ganz herzlich bedanken.

Die beiden Protagonisten in Claire Fullers Roman, über den wir im Verlauf des Abends noch genauer sprechen werden, leben in einem von ihrer Mutter errichteten Schutzraum, ein vermeintliches Paradies, aus dem sie nach deren Tod jäh vertrieben werden. Über ein halbes Jahrhundert haben Jeanie und Julius Seeder in der bescheidenen Abgeschiedenheit ihres Cottages am Rande des Existenzminimums gelebt und sich jegliche Nöte und Sorgen durchs Musizieren vertrieben. Musik spielt in ihrem Leben eine zentrale Rolle, sie hält die beiden über Wasser, geistig, seelisch und – zumindest wird dies angedeutet – irgendwann womöglich auch finanziell.

Kunst ist Nahrung, Bücher sind Nahrung, Literatur ist Nahrung für Geist und Seele, spendet Trost und vertreibt die Sorgen, das ist schon lange bekannt.  Umso erfreulicher ist es, dass wir heute mit dieser Verleihung ein Stipendium feiern, das auf wichtige Weise dazu beiträgt, die Umstände der Menschen zu verbessern, die mit der Literaturübersetzung ihr tägliches Brot verdienen, weil sie sie und ihre Arbeit ins Rampenlicht stellt und sie somit sichtbar macht.

Wenn Jeanie singt, ist ihre Stimme der Ruf, dem Julius folgt. Genauso folgt sie seinem Spiel, erkennt die Melodie, sobald er die ersten Klänge angestimmt hat. Jeanie und Julius sind Zwillinge, so eng miteinander verbunden, dass einer die Sätze des anderen beendet, dass eine Frage nicht laut gestellt werden muss, damit der andere sie beantwortet. Dieser Gleichklang des Geistes ist eine wunderschöne Metapher fürs Übersetzen von Literatur. Claire Fuller entwirft ihre Welt, ich folge ihr, ich nehme auf, was bei Fuller anklingt, singe ihr Lied in meinen Worten. Übersetzen ist ein sinnlicher, empathischer Akt, ein Prozess, dessen Beschreibung man sich mithilfe von Metaphern lediglich annähern kann, denn wie das Schreiben von Literatur ist auch das Übersetzen von Literatur immer auch ein bisschen Magie.

Magie ist ein gutes Stichwort. Ich hoffe, dass Sie sich heute Abend ein bisschen von diesem Roman verzaubern lassen, und wir diesen wunderbaren Anlass anschließend gebührend feiern können. In diesem Zusammenhang möchte ich auch denjenigen danken, die mit ihrer Arbeit  im Vorfeld dieser Verleihung dafür gesorgt haben, dass dies möglich ist: Danke an die Jury, Tanja Handels, Kristina Kallert und Claudia Steinitz, danke an all die Menschen im Ministerium, hier vor allem Elisabeth Donoughue, die im Hintergrund alles Nötige veranlasst haben und danke an diejenigen, die diese Veranstaltung hier im Literaturhaus organisiert haben.

Und damit der Geist und Körper nicht zu lange auf Nahrung warten müssen, wünsche ich uns allen jetzt einen unterhaltsamen Abend!