Das Große Weiße Canceln

Das Große Weiße Canceln

Anton Hur, Dejla Jassim

Ungekürzte Fassung des im Heft 2/2023 abgedruckten Essays „Das Große Weiße Canceln“ von Anton Hur, aus dem Englischen übersetzt von Dejla Jassim

Du bist ein weißer Übersetzer. Ich komme in dein Arbeitszimmer und zerschmettere deinen Computer. Ich lasse ein Bad ein und ertränke all deine Bücher, vor allem die von dir übersetzten. Ich öffne deinen Schrank und zerschneide deine Perücken. Und nachdem ich dich im Garten auf dem Scheiterhaufen verbrannt habe, Hexenprozesse-von-Salem-Style, vergebe ich deinen Auftrag an ein*e Schwarze*n Übersetzer*in.

In Jahr Zwei des Großen Weißen Cancelns schafft es die Booker International-Jury immer noch, genug von „deiner Sorte“ zu nominieren, und löst damit eine weltweite Jagd nach den letzten weißen Übersetzer*innen aus, die in Terroristenzellen untergetaucht sind, um noch mehr englische Übersetzungen von Yukio Mishima zu fabrizieren. Meine Auftragslage sieht gerade mau aus, also melde ich mich freiwillig als Vernehmungsbeamter auf der Jahrestagung der American Literary Translators Association, die endlich umbenannt werden sollte, denn „Amerika“ existiert nicht mehr – nur noch die jüngst befreite autonome Region Turtle Island. „Bitte“, fleht der gefesselte weiße Übersetzer, den wir in einem Keller in den zurückeroberten Territorien der Lenni Lenape eingesperrt haben, „Bitte nicht die Guillotine. Ich wollte doch nur, dass die englische Leserschaft genau wie ich in den rein ästhetischen und vollkommen apolitischen Genuss von japanischem Faschismus kommt.“

– „Lass stecken“, sage ich unter einer baumelnden Hängelampe und feile mir die Nägel, die Stiefel auf dem Schreibtisch. „Du bist weiß und hast es gewagt, zu übersetzen. Littérature zu übersetzen – was bei einem weißen Menschen schwerer wiegt als Mord. Du wusstest doch, dass dich die bunten Menschen danach drankriegen würden. Hättest du auch nur einen Funken Anstand, wärst du doch lieber verhungert, aber jetzt haben wir den Salat. Viel Spaß mit deinem abgetrennten Kopf.“ Ich puste auf meine Nägel und zeige sie ihm. „Schick, oder?“ Bevor er antworten kann, schleifen sie ihn weg.

Als ich mein Bändchen an der Security vorzeige und Feierabend mache, fällt mir ein Gespräch ein, das wir während der ganzen Scheiterhaufen-Debatte geführt haben, oder noch früher – das eine Mal, als 2021 ein*e weiße*r Übersetzer*in den Auftrag an eine Schwarze Übersetzerin abgegeben hat. Du meintest, Hautfarbe hätte nichts damit zu tun, wer übersetzen darf, und dass du sowieso nicht zwischen Menschen unterscheidest, dass man wenauchimmer wieauchimmer übersetzen können sollte, dass nichts, was du sagst, Konsequenzen hat, weil du bloß eine seelenlose Übersetzungsmaschine bist, und dass weiße Übersetzer sowieso bald verboten werden. Du hattest ja keine Ahnung, wie sehr mich deine Worte damals trafen. Denn du bist uns auf die Schliche gekommen! Im zweimonatlichen Zoom-Meeting aller Übersetzer*innen of Color der Welt war ich so: „OK, Leute – tschuldigung, Leute, hallo – kann ich mal kurz was sagen, bitte? Ein weißer Übersetzer ist uns auf der Spur. Wir müssen schnell etwas tun, sonst ist unser Machtergreifungsplan – ihr wisst schon, der, bei dem wir alle weißen Übersetzer*innen verbieten und die Weltherrschaft an uns reißen – völlig im Eimer. Und es wird ewig dauern, bis wir einen neuen Termin finden.“ Doch die Übersetzer*innen of Color rieten mir zur Geduld. „Keine Sorge“, sagten sie. „Dieser weiße Übersetzer sieht laut eigener (lautstarker) Angeb ‚keine Farben‘. Wir sind unsichtbar für ihn, auch wenn ihm offenbar irgendetwas zuflüstert, dass wir die weiße Vorherrschaft in der Literaturübersetzung abschaffen und alle Weißen in Handschellen die Hauptstraße runterschleifen wollen.“ („Vergesst nicht die Hexenverbrennungen!“, erinnere ich sie.) „Ja“, sagten sie, „es wird auch Hexenverbrennungen geben.“ – „Na gut“, antwortete ich beruhigt. „Super. Sagt Bescheid, wann’s los geht, nicht, dass es sich mit einem Friseurtermin überschneidet oder so.“

Wie überrascht du warst, als ich bei dir auf der Matte stand! Das ist natürlich bloß eine Redewendung – ich habe mit einem Rammbock deine Tür eingerissen. So oder so, wir haben es dir echt gezeigt! Und du hast lichterloh gebrannt.

Während ich mir zuhause einen Scotch on the Rocks einschenke und deinen gelackten Schädel als Glas benutze, schaue ich in den Nachthimmel und denke an all die Male, als ich unsere Pläne zum Großen Weißen Canceln beinahe ausgeplaudert hätte. Wie das eine Mal, als zwei weiße Lektor*innen versucht haben, mich per Privatnachricht einzuschüchtern, damit ich aufhöre, ihre miesen Arbeitsbedingungen und „Co-Übersetzungs“-Praktiken öffentlich zu machen – Da hätte ich mich fast verplappert. Oder das Jahr – naja, die Jahre –, in dem sich Förderkommissionen wieder für weiße Durchschnittlichkeit entschieden, statt für eine*n Kolleg*in, der*die es besser gemacht hätte, aber rein zufällig nicht-weiß war. Oder als dieser eine weiße Übersetzer jahrzehntelang koreanische Fördergelder bekam und gleichzeitig die von ihm übersetzten koreanischen Autor*innen öffentlich schlechtredete. Aber ich konnte meine Wut im Zaum halten. Sie auf die höfliche Art zeigen: Dich auf Twitter kritisieren, ohne jemals preiszugeben, dass wir uns schon lange keinen Platz am Tisch mehr erhofften, indem wir „höflich“, „kollegial“ und „gut genug“ waren, besser gesagt die Köder der Fake-Leistungsgesellschaft fraßen. Dass wir längst planten, die Macht gewaltsam an uns zu reißen, so wie es deine Vorfahren bei meinen getan hatten. Ich hebe deinen Schädel auf meine Vorfahren. Die Eiswürfel – herzförmig, denn ich bin sentimental – klackern und ich spreche leise einen Toast auf sie aus. Sie gaben nie auf, denn tief im Inneren wussten sie, dass wir früher oder später Rache üben würden. Und irgendwie wusstest du es ja auch. Du warst so überzeugt, es stünde unmittelbar bevor. Es war eher deine Fantasie als meine. Du hast ständig davon geredet, weißt du noch? Wir haben dir immer gesagt, dass du Strohmann-Argumente benutzt und mit deinen Mikroaggressionen (und Makroaggressionen) deinen Kolleg*innen of Color schadest. Aber du hast es bestimmt geahnt, nicht wahr? Dass dich all das Leid, das du uns zugefügt hast, am Ende heimsuchen würde. Zu schade, dass du dein schlechtes Gewissen verdrängt hast und deine Macht nie abgeben wolltest. Stattdessen musstest du uns zum Sündenbock machen und bist, tja, in meiner Spülmaschine gelandet.

Wie auch immer! So viel zu alten Geschichten. Ich muss wieder an die Arbeit, anscheinend hat jemand einen Kartoffel-Auflauf gekocht, und du weißt ja, das geht gar nicht. Aber wenigstens habe ich heute Nacht perfekt gefeilte Krallen.