Johann-Heinrich Voß-Preis an Andreas Tretner

Johann-Heinrich-Voß-Preis 2023 an Andreas Tretner

(Hier folgen die ungekürzte Fassung der Laudatio, die in Übersetzen Heft 2/2023 in gekürzter Fassung abgedruckt ist, sowie die ebenfalls ungekürzte Dankesrede des Preisträgers)

Laudatio von Anselm Bühling

Ljubljana, 04.05.2023

Auf dem Fluss

Hinter Ihnen die tödlichen Verfolger […] und vor Ihnen auf einmal ein Fluss, randvoll gefüllt mit Zeit, mit vielen Spiegelbildern obenauf. […] Sie werfen sich ins Wasser. Doch das Ufer, das zunächst nur ein paar Schwimmzüge entfernt scheint, will offenbar Fangen mit Ihnen spielen, Sie schwimmen und schwimmen, und es bleiben immer dieselben paar Züge bis zum Ufer. […] Strampelnd schlucken Sie Wasser, und über Ihrem Kopf schlagen die Wellen zusammen. Sie öffnen die Augen: gelbe Wand mit Algenzweiglein und Sonnenkreis in funkelnder Trübnis. Sie kämpfen noch ein Weilchen weiter, bis schlagartig eine unerhörte Leichtigkeit von Ihnen Besitz nimmt. Alle Sorgen fallen ab, es ist fantastisch. Wieso habe ich mich eigentlich so abgestrampelt, schießt es Ihnen durch den Kopf, wenn alles so leicht und wunderbar ist!

Verehrte Anwesende,

diese dramatische Flussüberquerungs-Szene stammt aus Andreas Tretners Übersetzung von Michail Schischkins Roman Venushaar. Ich musste der Kürze halber viel aus dem Weg räumen – unter anderem einen Tischtennisball, einen Wolf, eine Ziege, Kohlköpfe und einen Diplomatenkoffer. Trotzdem haben Sie vielleicht eine Ahnung davon bekommen, was Tretners Sprache auszeichnet: Hier sitzt jedes Wort. Die Sätze sind aufgeladen, aber frei von Ballast. Dieses Deutsch lebt; es hat Farben und Schattierungen, Klang und Rhythmus, man kann es sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen.

Das Queren des Flusses hat Andreas Tretner selbst als Bild für das Übersetzen verwendet, als er im Wintersemester 2020/21 seine Antrittsvorlesung zur August-Wilhelm-von-Schlegel-Gastprofessur an der FU Berlin hielt. Wer übersetzt, muss nicht nur sich selbst über den Fluss retten, sondern etwas hinüberbringen. Und das nicht nur in eine Richtung. ‚Entweder den Leser ins Fremde bringen oder die Autorin ins Eigene‘ – so einfach ist das nicht und war es in Wirklichkeit nie. Und hier kommen Wolf, Ziege und Kohlkopf wieder ins Spiel: Wenn nicht mehr als nötig verloren gehen soll, muss man immer wieder hin und her. „Übersetzt wird irgendwo auf dem Fluss“, so sagt es Andreas Tretner.

Andreas Tretner wird im thüringischen Gera geboren und wächst dort auf. Im Jahr seiner Geburt, 1959, wird in der DDR der Bitterfelder Weg zur Entwicklung der sozialistischen Kulturpolitik ausgerufen. Das Motto lautet „Greif zur Feder, Kumpel“. Der kleine Andreas weiß davon nichts, aber er setzt Walter Ulbrichts Forderung, die Arbeiterklasse müsse „die Höhen der Kultur stürmen und von ihnen Besitz ergreifen“ für sich ganz persönlich um. In einer Umgebung, die nicht viel Abwechslung bietet, entdeckt er Bücher als Zugang zur Welt. Hier findet er Ablenkung und Anregung, hier kann er neue Perspektiven erkunden, sich in andere Menschen und Zeiten versetzen, und an Orte, die sonst nicht einfach zu erreichen sind. Die Sprache wird zum rettenden Ufer.

Mit neun oder zehn Jahren bekommt er erstmals ein Buch in die Hand, in dem diese Sprache nicht Deutsch ist. Der Sohn der Nachbarin hat es aus Moskau mitgebracht. Mit zwei Jahren Schulrussisch und einem Wörterbuch fängt er zu lesen an, Wort für Wort, Satz für Satz. Was er verstanden hat, schreibt er auf, und irgendwann hat er Tschechows Erzählung Kaschtanka übersetzt.

So lässt sich die Welt entdecken, so kann man sie sich verständlich machen. Vielleicht sogar anderen, und womöglich sogar als Beruf. Andreas Tretner bewirbt sich für ein Sprachmittler-Studium mit den Sprachen Englisch und Spanisch an der Universität Leipzig und wird angenommen. In der ersten Studienwoche erfährt er dann, dass er stattdessen Russisch und Bulgarisch studieren wird. „Wir haben dort monatelang Parteitagsreden gedolmetscht“, erzählt er in einem Interview, das er vor zwei Jahren dem Onlinemagazin novinki gab. Er erträgt das Studium, wie er selbst sagt, „als geborener Stoiker und dank gewisser Nischen“.Eine solche Nische ist das Bulgarische. Es ist nicht so ideologisch besetzt wie das Russische, die Sprache des Großen Bruders. Hier werden keine Phrasen gestanzt, es geht um Verständigung statt Verlautbarung, es gibt den Austausch im kleinen Kreis. Er schreibt seine Diplomarbeit über den bulgarischen Schriftsteller Jordan Raditschkow, und mit diesem Autor beginnt seine Laufbahn als literarischer Übersetzer. Der Kurzgeschichtenband Dem Herrgott vom Wagen gefallen erscheint 1987 bei Reclam Leipzig. Dort arbeitet Tretner dann auch als Lektor für slawische Literaturen. Übersetzungen genau zu lesen und abzugleichen, zu sehen, wie man es macht und wie vielleicht besser nicht, am Text zu arbeiten und zu feilen, das ist eine gute Schule.

Bald nach der Wende wird Reclam Leipzig von Reclam Stuttgart übernommen und Andreas Tretner beschließt, von nun an sein eigener Vorgesetzter zu sein. In einer Zeit des Umbruchs lässt er sich in jeder Hinsicht auf Neues und Ungewisses ein. Dazu gehört auch sein Interesse an der russischsprachigen Literatur, die zu dieser Zeit entsteht. Dass Namen wie Viktor Pelewin, Wladimir Sorokin, Michail Schischkin und Alexander Ilitschewski heute hier ein Begriff sind, ist nicht zuletzt ihm zu verdanken. Er hat diese Autoren sehr früh wahrgenommen und sich aktiv dafür eingesetzt, sie dem deutschen oder überhaupt dem internationalen Publikum zugänglich zu machen.

Sie gehören Tretners eigener und der nachfolgenden Generation an, und ihre Texte sind von einer Zeit geprägt, die in der ehemaligen Sowjetunion noch grundstürzendere Veränderungen mit sich brachte als im Osten Deutschlands.

In Russland hat das eine katastrophale Entwicklung genommen: Die Gesellschaft ist mit dem Verlust der Gewissheiten und Existenzgrundlagen, mit dem Aufbrechen der traumatischen Vergangenheit, nicht zurechtgekommen. Sie ist daran gescheitert, sich selbst in die Verantwortung zu nehmen. So konnten aus dem alten Machtapparat Strukturen erwachsen, die sich des Staates bemächtigt und ihn zu einer kriminellen Organisation umgebaut haben, die heute die Ukraine und die ganze Welt bedroht.

Von den acht lebenden Autoren, die Andreas Tretner aus dem Russischen übersetzt und hier bekannt gemacht hat, lebt heute keiner in der Russischen Föderation, und alle haben ihre ablehnende Haltung zum Überfall auf die Ukraine öffentlich deutlich gemacht – wie auch zahlreiche weitere Autorinnen und Autoren. Das ist nur eine Fußnote. Aber sie gehört hierher, denn sie zeigt: Die russischsprachige Literatur von Gewicht wird auf absehbare Zeit eine Literatur der Diaspora und des Exils sein.

In den Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist die Aufbruchsstimmung mindestens ebenso groß wie die Verheerungen. Die Literatur eignet sich in kürzester Zeit die Verfahren der Moderne und Postmoderne an. Sie saugt Einflüsse aus dem Westen auf und arbeitet sich an den Haupt- und Nebenströmungen der eigenen Tradition ab. Sie versucht, mit der Vergangenheit zurande zu kommen und all das Neue, Unerhörte, Faszinierende und Erschreckende ringsum aufzunehmen. Alles ist noch da, aber nichts ist an seinem Platz. Die Zeichen haben nicht mehr die erlernte Bedeutung.

Quasi in Echtzeit aus einer Literatursprache übersetzen, die nach langem Stillstand Hals über Kopf voran will: Dazu reicht es nicht, sich an dem zu orientieren, was in der Übersetzungstradition schon vorbereitet ist. Man muss auf den Fluss, ohne zu wissen, wo man sich genau befindet und wo man auf der anderen Seite ankommen wird. Andreas Tretner hat das gewagt und für das Übersetzen aus dem Russischen neue Wege erschlossen. Das Deutsche kommt bei ihm von dorther zu sich selbst. Es tut plötzlich Dinge, von denen es nicht mehr – oder noch gar nicht – wusste, dass es sie kann; und das spielend, wie nebenbei. Es verdichtet sich aufs Äußerste, spart sich das Subjekt oder Verb, schwelgt in Partizipien. Es teilt das Wichtigste zwischen den Wörtern mit. Es entlädt sich in weitschweifige Passagen voller herrlicher Redundanzen. Es wechselt vom skaz, dem mündlichen Erzählton, in das steife Kanzleiidiom und aus diesem in die Vulgärsprache. Sätze, die sich über mehrere Seiten hinziehen, gelingen ebenso überzeugend wie das rudimentäre Gestammel eines vereinsamten Erdgrubenbewohners in Wladimir Sorokins Roman 23000. Der Marketing-Jargon der frühen Neunziger in Viktor Pelewins Generation P wird genauso stilsicher getroffen wie frühneuzeitliche Sprachpassagen in Michail Schischkins Die Eroberung von Ismail. Anything goes, wenn man es kann.

Andreas Tretner ist Sprachkünstler und besessener Rechercheur. Und vor allem hat er die Fähigkeit, sich auf einen Text ganz und gar einzulassen – ihm an die Substanz zu gehen und das zum Vorschein zu bringen, was ihn auszeichnet. Ich kann Ihnen das an den Übersetzungen aus dem Russischen am besten nahebringen, weil ich selbst mit dieser Sprache arbeite. Aber es gilt genau so für die Übersetzungen aus anderen Sprachen, – etwa die wunderbare Novelle Das Basssaxofon des tschechischen Autors Josef Škvoreckýoder Angel Igovs Roman Die Sanftmütigen, der die Karriere eines jungen bulgarischen Funktionärs in den Jahren der Stalinisierung nachzeichnet und einen kollektiven Erzähler hat.

Beim Wechsel zwischen den Sprachen, so erzählt Tretner in dem schon zitierten Interview, habe er „manchmal das Gefühl, auch die Techniken wechselnzu müssen, wie ein Künstler, der Holzschnitte und Kupferstiche macht“. Er spricht dort auch über die Krise, die jedes Mal eintritt, wenn er sich nach der Abgabe einer Übersetzung in ein neues Buch hineinfinden muss, das jemand anders geschrieben hat. Diese Krise, sagt er, sei „sinnvoll und unerlässlich […], weil man sich von Mal zu Mal neu erfinden muss in seiner Sprache“.

Sich von Mal zu Mal neu erfinden in seiner Sprache – diese Wendung bringt Tretners Kunst auf den Punkt. Sie drückt aus, worin für ihn der Reiz des Übersetzens liegt. Und sie erklärt, was seine Übersetzungen immer wieder zu einem sprachlichen Erlebnis werden lässt.

Noch vibriert der Satz
vor lauter Möglichkeiten
Lachend
tauschen die Wörter ihre Plätze.

Ich warte aufmerksam ab,

bis das Spiel sein Ende hat
Und jedes Wort Habtacht steht,
mit gespanntem Bogen.

So beschreibt die Dichterin Fedia Filkova, die selbst Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann und Friederike Mayröcker ins Bulgarische übersetzt hat, den künstlerischen Umgang mit der Sprache, und so hat Andreas Tretner ihre Zeilen ins Deutsche übertragen.

Als wir uns neulich getroffen haben, ließ Andreas im Gespräch das Wort „Alleinstellungsnot“ fallen. Ich habe es mir aus zwei Gründen gemerkt: Erstens wegen der Leichtigkeit, mit der er spontan den Ausdruck fand, der die Sache auf den Begriff bringt. Und zweitens, weil er selbst ganz frei von dem ist, was dieser Ausdruck beschreibt. Er bringt das, was er zu geben hat, in den produktiven Austausch ein und sucht die Zusammenarbeit. 2014 hat er sieben profilierte Kolleginnen und Kollegen davon überzeugt, Wladimir Sorokins vielstimmigen Roman Telluria als „Kollektiv Hammer und Nagel“ mit verteilten Rollen zu übersetzen. So wird die Polyphonie in der deutschen Fassung durch unterschiedliche Übersetzerstimmen getragen. Es gehört viel dazu, diesen Einfall nicht nur zu haben, sondern ihn zu einem glücklichen Ende zu bringen, am geeigneten Werk und mit der passenden Orchestrierung.

Andreas Tretner hat entscheidend dazu beigetragen, den Dialog zwischen den unterschiedlichen Übersetzungskulturen in Ost- und Westdeutschland in Gang zu halten. Er befasst sich immer wieder mit dem Leben und Werk anderer Übersetzer – etwa in seinen Beiträgen zum Germersheimer Übersetzerlexikon UeLEX, als Mitautor des Films Spurwechsel. Ein Film vom Übersetzen und als Mitkurator der Peter Urban gewidmeten Ausstellung Urbans Orbit. Einblicke in den Nachlass eines Übersetzers.

Zum Blick zurück gehört auch der Blick nach vorn. In Übersetzerwerkstätten, Seminaren und Mentorenprogrammen gibt Andreas Tretner das Handwerk an andere weiter. Und er ist dabei ein Glücksfall für die, die bei ihm lernen. Denn er speist sie nicht mit vorgefertigtem Wissen ab, sondern interessiert sich ernsthaft für ihre Arbeit, geht in den Dialog und ermutigt sie, ihr Bestes zu geben.

Andreas Tretner ist ein Mittler im besten Sinn. Er kann mit eigenen Worten fremde Stimmen zum Klingen bringen. Er sorgt dafür, dass Menschen etwas übereinander erfahren, einander verstehen und zusammen etwas bewirken. Und er hat ein genaues Gespür dafür, dass Vermitteln dort sinnlos wird, wo eine Seite nicht mehr verstehen, sondern angreifen und auslöschen will.

„Was im Protokoll über uns steht, das werden wir sein. Aus Worten geboren. Verstehen Sie doch: Gottes Idee eines Flusses ist der Fluss“, heißt es in Michail Schischkins Roman Venushaar.

Lieber Andreas, ich kann Dir und uns allen nur wünschen, dass Du in diesen schwierigen Zeiten weiter mit Freude über den Fluss setzen kannst und das hinüberbringst, was uns etwas zu sagen hat. Herzlichen Glückwunsch zum Johann-Heinrich-Voß-Preis!

 

***

Dankrede von Andreas Tretner

Ljubljana, 04.05.2023

Ansichten vom dritten Ort

Beginnen wir beim Einfachen – und sind gleich bei der Crux, dem, was mich, den Übersetzer, von Ihnen, den Schreibenden, womöglich am nachhaltigsten unterscheidet:

dass ich meine Sprache immerzu, für beinahe jedes Buch eines jeden neuen Autors, neu entwerfen und der zuletzt gebrauchten, erst recht der eigenen, entfremden muss. Daraus ergibt sich, dass der „Vorrat an Worten“, den Luther in dem berühmten, uns betreffenden Sendbrief anmahnte, tendenziell unermesslich zu sein hat, am besten ganz ungesiebt und außerhalb jeder Kontrolle, ein Fundus für jeden Fall. Konzept hin, Begabung her, ich meine, er ist die schlichte Grundvoraussetzung für eine adäquate Ausübung des Berufs. Der Wald, in den ich, mit Walter Benjamin, hineinrufe, damit es als Übersetzung herausschallt.

Man schafft sich diesen Vorrat ja zu wesentlichen Teilen an, noch ehe ans Übersetzen zu denken wäre, im Schwamm-Alter.

Ein genuiner, mündlich tradierter Anteil ist gewiss. An der Hand der Großmutter über den Ronneburger Marktplatz gehen, die hundert Meter vom Rand bis zur Haustür in einer guten halben Stunde, weil aus einem Kleinstadtgespräch ins nächste gezogen, ein Ohrentheater. So fallen mir noch heute für manche Erzählerphrase, manchen Dialogfetzen immer zuerst die Ostthüringer Mundartlösungen ein, die – natürlich völlig zu Recht – allenfalls feinst filettiert die Filter süddeutscher Lektorinnen passieren.

Doch das Allermeiste hing vom Lesen ab.

Es geschah nicht von allein. Zu Hause gab es wenig Bücher; was in den Schullehrplänen stand, war präpariert und kaum verdaulich; was nicht, hat nie ein Lehrer uns ans Herz gelegt. Zu Anfang sehe ich mich in meiner Lesegier die Litfassäulen des Viertels umkreisen, und so war es eine glückliche Fügung, das im selben Jahr bei mir um die Ecke und einmal schräg über die Geraer Straße der Republik, dem Park gegenüber, der meine zweite Kinderstube war und den ich als frühen Weltmittelpunkt mit Lutz Seiler teile – Das war der Knochenpark, sagt A. – dass just dort die städtische Kinderbibliothek ins Notquartier eines Ladengeschäfts einzog. Der Laden war überschaubar groß, die Regale endeten in Kinderkopfhöhe, ich hatte die Bibliothek zügig durchgelesen, erwartete fortan die Neueingänge: Ich wuchs mit ihr.

Wildes Lesen füllte die Speicher, von denen ich glaube, dass sie bis heute das Maßgebliche hergeben, den Überfluß generieren, der das Unmögliche ermöglichen soll. Ergab sich aber nicht doch eine Prägung, aus den Grenzen einer nicht sehr großen Bibliothek, an diesem Ort zu jener bestimmten Zeit, war sie von Nutzen? Die Frage scheint nicht müßig, erlauben Sie mir, etwas genauer hinzusehen.

Das Spektrum war beachtlich, es muss sich in den Umständen eher erweitert als verengt haben. Zu den Altbeständen, die überlebt und sich nicht überlebt hatten, kamen die Kinder- und Jugendbücher der neuen Zeit, zu nicht geringen Teilen verfasst von Autorinnen und Autoren alter Schule, mit bürgerlich-humanistischen Wurzeln, viele aus dem antifaschistischen Exil und von ihm gezeichnet, mit hergebrachten Sehnsüchten und dezidierten Vorstellungen von einer neuen, besseren Welt. Das hatte nicht zuletzt den Effekt, dass viele klassische Typen der Kinderliteratur in neuer Varietät vertreten waren, interessante Wiedergänger ihrer Originale, und der Vergleich war möglich.

Dem verruchten Sachsen Karl May liefen in meinem Indianer-Lesezelt Anna Müller- Tannewitz und Lieselotte Welskopf-Henrich, aus Baden und aus Bayern gebürtig, den Rang ab. Meine Dschungelbücher waren von Ludwig Renn und Götz R. Richter. Wolf Durian gesellte sich zu Jack London, Alex Wedding zu Selma Lagerlöf, Franz Fühmann zu James Krüss, der Tscheche Václav Řezáč ersetzte mir Erich Kästner. Sowjetische Bücher und deren Übersetzer waren, wenngleich längst nicht mehr so dominant wie wohl in den Nachkriegsjahren, präsent. Vor Tschechow las ich seinen gemütvollen sowjetischen Epigonen Boris Wassilenko aus demselben Taganrog am Asowschen Meer, das Waisenzirkuskind Artjomka konkurrierte mit Tom Sawyer.

Im Rückblick am signifikantesten die Paarung von Anna Maria Jokls Perlmutterfarbe und Arkadi Gaidars Schicksal des Trommlers, die mich beide lange nicht losließen, ohne dass ich verstand, was sie miteinander zu tun hatten – heute weiß ich: im selben Jahr ’38 geschrieben, chiffrierte Abbilder zweier totalitärer Systeme, das eine geradezu tiefenpsychologisch, das andere ex negativo, im Mantel von Propaganda, dem die Verstörung aus den Falten troff …

Übersetzers Grundstock, so weit waren wir. Angelegt, darauf wollte ich hinaus, schon im Modus der Korrelation. Der Expansion folgte die Vertiefung. Exemplarisch-exzessiv und sukzessive eingeübt im jugendlichen Alter, so erinnere ich, an Borchert, Brasch (mit Brecht dahinter), Bobrowski, Baldwin (resp. Wollschläger), Beckett (alias Tophoven) – ich könnte es die B-Phase nennen; daneben, für sich stehend, Christa Wolf. Vertiefung hieß eine Zeitlang auch Verkörperung. Anprobe fremden Textes. Thomas Braschs frühe Hahnenkopf-Suite zum Beispiel haben wir, Dolmetschstudenten im dritten Semester an der Karl-Marx-Universität Leipzig, im März 1978 mit listig camouflierter Titelei, auf die Bühne des Hörsaals 19 gebracht, vielleicht die einzige Brasch-Aufführung in der DDR nach seinem Weggang hinter die Mauer bis zum Fall derselben. Die Flügel dazu – auch den nötigen Mut – hatte mir Frank Wolf Matthies verliehen, als er in der Höhle des Löwen, nämlich im Souterrain des Museums für Deutsche Geschichte, seinen unerschrockenen poetischen Klartext vortrug. Matthies zog wiederum Rolf Dieter Brinkmann nach sich, nebeneinander ausliegend am Leipziger Rowohlt-Messestand im selben Magenta-Rahmen, dem die Ohren sich fiebernd anglichen, während wir lasen und lasen – usw. usf.

Genug davon. Eine Schriftstellerakademie muss ich mit Lesebiografie, ihren zielstrebigen Zufällen, symptomatischen Reihen nicht gar zu lange aufhalten. Die Rede war vom Ur-Wald. Ich will noch einmal zurück zu Benjamins kurioser Metapher (von dem, seinem Aufsatz über Die Aufgabe des Übersetzers, wir uns augenscheinlich, mehr oder weniger gern, vergattern lassen) und zitiere die Stelle im Ganzen:

Die Übersetzung aber sieht sich nicht wie die Dichtung gleichsam im innern Bergwald der Sprache selbst, sondern außerhalb desselben; ihm gegenüber und ohne ihn zu betreten ruft sie das Original hinein, an demjenigen einzigen Orte hinein, wo jeweils das Echo in der eigenen den Widerhall eines Werkes der fremden Sprache zu geben vermag.

Seltsam: Als wäre das Übersetzen primär eine Frage der Ortsbestimmung und der Rest ein magisches Ritual, eine Seance wie an der akustischen Planchette, vollzogen gegenüber dem, was die Dichter gestiftet haben.

Am meisten irritiert in dem Satz das Betretungsverbot. Kränkend zu erfahren, es sei gar nicht mein Wald, dabei meinte ich ihn angelegt zu haben; ich darf nicht mehr hinein oder wie zu Junkerzeiten nur mit Holzleseschein (sieh an! das Lesen), um einen Festmeter Totholz für den eigenen Herd zu entnehmen.

In eine Metapher hineinrufen und hören, was herausschallt: Benjamins Bild sagt mir zweierlei. Das Eine ist, dass da im Wald zuinnerst offenbar noch ein Zauberhag steht, worin „es“ aus einem spricht; er ist den Übersetzern verwehrt, weil wir als Dichter für das Übersetzen verdorben wären. Geschenkt! Zugleich will Benjamin uns bewahren davor, dass wir den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen, indem er uns hinausexpediert – dahin, wo uns das Magnetfeld des Originals erreicht.

Denn das will ja genauso erlesen und verstanden sein. Meiner Überzeugung nach folgt dieser Prozess durchaus dem im muttersprachlichen Wald erworbenen Orientierungssinn – auch und gerade da, wo Unerhörtes hineinschallt, Anschluss sucht, Korrespondenzen, ohne sich domestizieren zu lassen. Fortan beeinflussen die Felder sich gegenseitig, setzen die Koordinaten für den idealen dritten Ort zusammen. Einer, der uns hellhörig macht, womöglich schizophren, und jedenfalls ein bisschen einsam … Die Distanz muss man aushalten.

Mein entschlossener Eintritt ins Literaturübersetzen fiel in die Hoch-Zeit von Glasnost, am Anfang vom Ende der Sowjetunion. Ein entfesselter Schwall von Literatur (Karl Schlögel sprach von Glossolalie), die aus dem Dampferhitzer einer aufbrechenden Gesellschaft und aus den geöffneten Schubladen quoll. Wir ließen ihn durchgehen durch uns, einströmen in den bereits schwärmenden deutsch-deutschen Bienenstock, wurden selbst ganz besoffen davon. Im Rausch fand ich zu meinen wichtigen Autoren und blieb ihnen im Zuge der Ernüchterung treu.

Zunächst ließ sich annehmen, dass es um einen Akt der ultimativen Befreiung, Entgrenzung, Dekonstruktion, des fröhlichen Abschieds ging, die Texte waren danach. Aber etwas von Verhängnis und Vergeblichkeit stand immer auch schon darinnen.

Unübersehbar die Aufarbeitung einer unseligen Gewaltgeschichte; ebenso dass die Gewalt noch in der Sprache war und gebändigt werden musste, nicht zuletzt darum ging es. Hier stieß, nebenher gesagt, auch das Übersetzen an die härteren Grenzen: Für Mat und Blat, jene rüde-elaboriert-schillernden subkulturellen Sprachsysteme aus den GULags, Kellern und Knästen, die Gewalt widerspiegelten und zugleich reproduzierten und die es – zuvor schon „tabu und in aller Munde“ (Viktor Pelewin) – nun ungehemmt in die Literatur spülte, hatten wir nur fadenscheinige Lösungen, schummelten uns auffällig darum herum.

Die Linie meiner Übersetzungen aus der russischen Literatur ist evident, sie folgte den wegweisenden, strategisch oder handstreichartig betriebenen Vorstößen, die alten ideologischen Zwänge in ästhetische Freiheiten umzumünzen.

Asolskis „Zelle“: Alternativgeschichte der 1930er im Stil eines Escape-Thrillers – die alten Muster des sozialistischen Realismus mit ein bisschen Noir zur Weißglut gebracht. Kononows „Nackte Pionierin“: ein Schelmenroman, heilige Hure und delirierendes Kind, den Mythos des Großen Vaterländischen Krieges untergrabend, unterplappernd. Und erst Pelewins popkulturelle Travestien auf die grotesken Spielarten der Transformation! Schischkin noch einmal im alten, beharrlich-vielstimmig beschworenen Glauben, den geschundenen Menschen durch das Wort wenn schon nicht dem Tod zu entreißen, so daraus wiederzuerwecken. Und schließlich Sorokin, der am tiefsten und radikalsten die sowjetischen Traumata freilegt, zunehmend in dystopischer Form, beängstigend prophetisch.

An diesen Autoren habe ich mich als Übersetzer freigeschwommen. Wobei das Zappeln des Frosches im Milchtopf gegen das Ersaufen, was günstigenfalls zu standfester Butter führt, wohl die gemäßere Vorstellung davon bleibt. Und wie gern ersoff ich in dem, was nicht zu übersetzen schien; wie viel indes ließ sich von anderen Fröschen an meiner Seite, Könige und Königinnen im wahren Leben, lernen! Allein wenn ich an die Attraktionen der Petersburger Gilde von Autorinnen und Autoren denke, Oleg Jurjew, vor dessen intellektueller Verve, ästhetischem Mutwillen ich den Hut am allertiefsten zog – und was Olga Martynova und Elke Erb daraus gemacht haben!

Doch unterdessen, ich muss nun darauf kommen, war längst etwas gekippt. Das lustig kreuzende Spukschiff mit der „russischen Fracht“, den räsonierenden Leichen im Laderaum, hat umgeflaggt und die Kanonen ausgefahren. An Sorokins Büchern, von einem zum anderen, ließ sich die Approximation von Dystopie und Realität schon geraume Zeit wie von der Uhr ablesen – immer näher zur Gegenwart siedelte der Autor seine Visionen an. Die Gegenwart kam ihm entgegen: spürbar seit der Jahrtausendwende, manifest seit den letzten straßenfüllenden Protesten der Zivilgesellschaft 2012: ein Roll-back von Gewalt und Repression, Aufschaukeln in einen imperialen Revanchismus und Protofaschismus, bis zur Entfesselung der Katastrophe. Mit dem russländischen Überfall auf die Ukraine scheinen Sorokins Bücher erstmals von der Realität überholt worden zu sein.

Sprache ist vorrangig wieder zum Gift geworden. Nach den aktuellen Befunden wäre die totale Ohnmacht, der Konkurs von Literatur, beschränken wir uns hier auf die übersetzte russische, in ihrer beschworenen Schönheit, Wahrheit und Weisheit unschwer zu konstatieren. Das betrifft, ich erwähne es nur am Rande, genauso die profanen Stereotypen der Rezeption alles Russischen hierzulande, den robusten Kitsch von der russischen Seele, an die man nichts als glauben könne, dem noch die heikelsten Diagnosen nie etwas anhaben konnten.

Vielleicht haben Sie das bizarre Leinwandkarree gesehen, mit dem die Russen die Ruine des von ihnen zerstörten Theaters in Mariupol, Grab für Hunderte ziviler Ukrainer, blickdicht zu umstellen versuchten – bedruckt mit den Konterfeis von Gogol, Puschkin und Tolstoi. Das ist, so fürchte ich und kann mir nicht helfen, die russische Literatur heute – a priori, im Ganzen. So hohl, so ausgebrannt, so plakativ, anmaßend irreführend, so vergeblich fühlt sie sich im Augenblick an.

Wir sind in der Krise, die russische Literatur und ihre Übersetzer. Sind verstummt, senken schamhaft voreinander den Blick, schweigen uns an.

Nie war die Distanz größer. Kein Echo könnte noch gelingen, so scheint es.

Wo die Bücher meiner Autoren noch in russischen Buchhandlungen ausliegen, sind sie wie Pornografieartikel im neutralen Umschlag verpackt; demnächst werden sie ganz verschwunden sein. Wohin? In den Untergrund, Samisdat? Gut möglich, dass die Formen, in denen sie irgendwann wiederkehren, nicht mehr die alten sind. Soll man darin eine Hoffnung sehen?

In so einem Moment von Debakel und Paralyse den großen Preis der Akademie zugesprochen zu bekommen könnte wie bitterer Hohn anmuten oder allzu hochnobler Trost. Sagen wir also: ein Kredit. Da muss es noch etwas einzulösen geben. Weil die Geschichte sich in der Wiederholung als Farce, Re-enactment (ich denke an den Roman der Stunde, Gospodinovs Zeitzuflucht) unmöglich erschöpfen kann.

Wenn der Übersetzer am dritten Ort auszuharren beschließt, dann nicht, um Rufer in der Wüste vor austrocknendem Wald zu sein.

Wem habe ich zu danken? Aufrichtig der Akademie und Ihnen, den Autorinnen und Autoren allen, die mir von ihrer Sprache abgeben. Den geliebten Kolleginnen in der „Russisch-Gruppe“ am Kracauerplatz in Charlottenburg, ohne die die Arbeit nicht nur noch einsamer, auch noch mehr Blindflug wäre. Dem Deutschen Übersetzerfonds am Literarischen Colloquium für den verlässlichen Support, die geistigen und materiellen Freiräume für unsere Arbeit. Und der Gelegenheit danke ich, meine Hochachtung und Verbundenheit öffentlich zu machen vor und mit all jenen, die derzeit mit dem Wort, auch dem übersetzten, der akuten Barbarei aktiv widerstehen. Insbesondere den ukrainischen und belarussischen Autoren und ihren Übersetzern und Übersetzerinnen in der Heimat und im Exil, den Freunden von der großartigen Aufklärungs-Plattform Dekoder, den Helden der Berichterstattung bei Dozhd in Riga und Amsterdam, Barbara Oertel und ihrem weitverzweigten Team von der Berliner tageszeitung und so vielen Anderen, in dieser Reihe ungenannt Bleibenden. Ihr macht mir Mut. Wenn ihr etwas von mir brauchen könnt, sagt es.