(Hier folgt die ungekürzte Fassung der Laudatio von Christian Hansen anlässlich der Verleihung des Cotta-Preises an Claudia Steinitz, die in Übersetzen Heft 01/2021 in Auszügen abgedruckt ist.)
Ich grüße ganz herzlich die Stadtmütter und -väter der preisverleihenden Landeshauptstadt Stuttgart, namentlich ihren ersten Bürgermeister, Herrn Florian Meyer, außerdem die Jury des Johann-Friedrich-von-Cotta-Literatur- und Übersetzerpreises, für die ich stellvertretend spreche, dann natürlich die Preisträgerin und den Preisträger, Claudia Steinitz und Thomas Stangl, und nicht zuletzt Sie, liebe Leserinnen und Leser an den Bildschirmen.
Bücher haben ihre Schicksale – diesen vielbeliehenen Satz des lateinischen Grammatikers Terentianus Maurus aus dem späten zweiten Jahrhundert haben Sie vermutlich schon so oft gehört, dass er Ihnen aus den Ohren wieder herauskommt, denen er immer wieder eingetrichtert wird. Er ist so beliebt, das liegt auf der Hand, weil er für so ziemlich alles herhalten kann, was man über Leben und Nachleben eines Buches nur immer sagen möchte. Das klappt aber vor allem deswegen so gut, weil mit dem Satz nur die halbe Wahrheit gesagt ist bzw. die Hälfte des Hexameters zitiert wird, aus dem er stammt. Vollständig lautet er nämlich: Pro captu lectoris habent sua fata libelli, Bücher haben ihre Schicksale je nach Auffassungsgabe, Verständnis, Interpretation ihrer Leser. Das zur Ausrede vorab, warum ich Ihnen mit einem abgedroschenen Zitat komme, beginne ich also noch einmal von vorn:
Bücher haben ihre Schicksale, vor allem aber eines, das in dem Moment beginnt, wo sie, die Bücher, unter die Übersetzer fallen, unter jene privilegierten Leserinnen und Leser, von deren Auffassungsgabe es maßgeblich abhängt, was wir zu lesen bekommen, wenn wir meinen, wir läsen Autor X oder Autorin Y. Wenn ich mit meiner Formulierung bei Ihnen gerade den Eindruck erweckt habe, Bücher würden bei Übersetzern wie unter die Räuber fallen, dann haben Sie sich nicht verhört; ja: In der Schicksalsstunde seines Übersetztwerdens – eine, die sich oft über Monate, nicht selten Jahre hinziehen kann, manchmal länger, als zur Abfassung des Originals erforderlich war – wird einem Buch genau das genommen, woraus es gemacht ist: seine Sprache. Und solchermaßen seines originalen Webfadens beraubt, verliert es zugleich auch seinen besonderen Klang und das, was in seiner Sprache mitklingt, synchrone und diachrone Kontexte des Sagens, Denkens und Fühlens. Kurz: Ein Buch durchschreitet im Zuge seiner Übersetzung virtuell den Nullpunkt seiner Existenz, verharrt in einem Limbus der Sprachlosigkeit, bis der Übersetzer oder die Übersetzerin den Faden wieder aufgreift, nun aber den einer anderen Sprache, um in dieser das ganze komplexe Gewebe von Anfang bis Ende neu auszuspinnen.
Die Auffassungsgabe, die wie in meinem Eingangszitat angesprochen über das Schicksal eines Buches bestimmt, ist im Fall der Übersetzer:innen aber eine ganz eigenartige. Sie ist nicht nur empathisch in dem Sinne, wie es jedes tiefere Hinhören sein muss. Sie muss sich nicht nur in andere, in anderes hineinversetzen, wie wir alle, wenn wir etwas wirklich verstehen wollen; die übersetzerische Auffassungsgabe muss – wenn Sie mir erlauben, die Schraube noch eine letzte Windung weiterzudrehen – anderes und andere vielmehr in ihr Inneres aufnehmen und wie ein Klangkörper in sich zur Aufführung bringen. „Wann verstehst du ein Musikstück?, lässt Robert Musil seine Heldin Clarisse in einem Brief an den Mann ohne Eigenschaften fragen und gleich selbst die Antwort geben: „Wenn du es selbst innerlich machst.“… „Wann verstehst du einen Menschen?“„Du musst ihn mitmachen! Das ist ein großes Geheimnis, Ulrich! Du musst sein wie er: aber nicht du in ihn hinein, sondern er in dich hinaus! Wir erlösen hinaus: das ist die starke Form! Wir lassen uns auf die Handlungen der Menschen ein, aber wir füllen sie aus und steigen darüber hinaus.“ Eine solche Auffassungsgabe als übersetzerische Grundhaltung hat kein demütiges Nachmachen im Sinn, sie besteht vielmehr im aktiven Mitmachen des anderen, das ein Neumachen erfordert, oder, mit einem berühmten Novaliswort, in „Selbstfremdmachung“. Ich ist ein anderer: Das ist die „starke Form“.
Sie ahnen, warum ich Ihnen diesen, zugegeben, dramatisch überhöhten Exkurs zum Übersetzen gehalten habe: Eine Meisterin dieses innerlichen Mitmachens, der schöpferischen Selbstfremdmachung darf ich Ihnen heute als Trägerin des diesjährigen Johann-Friedrich-von-Cotta-Übersetzerpreises vorstellen, Claudia Steinitz, eine, die mit großer Verantwortung den Schicksalsfaden der ihr anvertrauten Bücher spinnt. Geboren in Berlin, damals noch Hauptstadt der DDR, aufgewachsen ebendort mit Deutsch als Vater- und Muttersprache, aber von Jugend an mit der Großmuttersprache Französisch als leiser Hintergrundmusik vertraut. Ein Studium der Romanistik schien schon früh alternativlos – im Alter von sechzehn Jahren soll sie ihren Eltern erklärt haben, sie habe außer dem Französischen und der Literatur keine Interessen, auf denen sich ein Leben aufbauen lasse – ; sie beendet es als diplomierte Sprachmittlerin für Italienisch und Französisch und beginnt ohne Umschweife im Jahr der Maueröffnung eine Laufbahn als Literaturübersetzerin. In ihrem Arbeitszimmer, das sich zwischenzeitlich viele Jahre in Zürich, dann in Hamburg befand, seit diesem Jahr nun wieder in Berlin, geben sich seither Autorinnen und Autoren unablässig die Klinke in die Hand; und so hat sie in über dreißig Jahren die schier unglaubliche Menge von rund 120 Büchern in unseren Erfahrungshorizont überführt. Waren anfangs noch italienische Bücher darunter, konzentrierte sie sich bald ganz aufs Französische. Aber was heißt schon „Konzentration“ bei einer Sprache, die wie etwa auch das Englische oder Spanische durch weltweite Verbreitung in unzähligen Deklinationen vorliegt? Leicht nachvollziehbar ist das sicher bei den von ihr übersetzten und von kreolischen Sub- und Kontexten durchwirkten Büchern des haitianischen Autors Lyonel Trouillot; aber auch die subtileren Spielarten des Französischen und Deutschen, mit denen sie sich bei ihren innerschweizerischen Übersetzungen von u.a. Olivier Sillig und Cathérine Safonoff zu beschäftigen hatte, fanden ihre Aufmerksamkeit; oder die Texte der kanadischen Schriftstellerin Nancy Huston, die sich, in Frankreich lebend und vorwiegend auf Französisch schreibend, zugleich in den Strukturen ihrer Muttersprache Englisch und der Stiefmuttersprache Deutsch bewegt – in all diesen Fällen beweist Claudia Steinitz die Fähigkeit, in ganz verschiedene Sprachhintergründe hineinzuhören.
Aus der Fülle der von ihr übersetzten Autorinnen und Autoren möchte ich zwei herausgreifen, für die sie neben dem Cottaschen in diesem Jahr auch den Jane-Scatchered-Preis erhalten hat. Da ist zum einen Albertine Sarrazine, eine zu ihrer Zeit verstörende Sternschnuppe der französischen Literatur, die wie ich weiß Claudia Steinitz besonders am Herzen liegt und deren drei Mitte der sechziger Jahre entstandene Romane sie neu übersetzt hat. Hören wir einen Ausschnitt:
„Ich war rein zufällig gerade hinter Gittern [lese ich in dem Roman Querwege] – schlecht ernährt hart gelagert rau gekleidet, das alles aber regelmäßig und kontinuierlich, Knastgeldreserve ergänzt, Justizkosten bezahlt, kurzum mit allen Segnungen beschenkt“ (178),. Und: „Ich steige allein hoch, am Morgen, fröhlich, ohne andere Unterstützung, andere Sprungfedern als meine fast nackten Füße: Im Zug habe ich meine Winterpelze abgeworfen, in der Tiefe eines Koffers meine Espadrilles gefunden. Wir werden nicht mehr miteinander hochsteigen, Lou, wir sind jetzt unerwünscht: Wir werden die Sonnenaufgänge begeistert in der Provinz auspacken, wenn wir noch genug Mut haben, uns nach so langer Enthaltsamkeit für irgendwas zu begeistern.“ (29) Oder: „Anscheinend hat die dicke Henriette, bevor sie Dienstmädchen bei den Nonnen wurde, Trunksucht, Lust und Frust genossen: Sie hat sich einen kräftigen Teint, mächtig gepolsterte Hüften in einer immer reinen Schürze und ein zwischen kugelrunde Wangen gequetschtes Lächeln bewahrt.“ (113).
Texte, das klingt hier schon an, in denen von der ersten bis zur letzten Zeile alles am seidenen Faden einer Stimme hängt, die atemlos ihr himmelhoch jauchzendes zu Tode betrübtes De Profundis lästert, singt und flucht, ein schwindelerregender Rhythmus, bei dem Claudia Steinitz nie aus dem Takt gerät und dafür sorgt, dass man dieses Buch kaum aus der Hand zu legen vermag.
Dann die Romane um den coolen, unversehens in die Obdachlosigkeit gespülten Musikladenguru Vernon Subutex, Romane von Virginie Despentes, die sich mit denen von Albertine Sarrazine zeitgleich ihren Schreibtisch zu teilen hatten; sie sind in gewissem Sinne das genaue Gegenteil; sie entfalten eine extreme Vielstimmigkeit, entwerfen ein Sprach- und Sittenbild der französischen, der Pariser Gegenwartsgesellschaft, das viele Kritiker an Balzac erinnert hat. Und all diesen vielen verschiedenen Stimmen verleiht Claudia Steinitz im Deutschen eine originelle und unverwechselbare Sprachgestalt, lässt sie stets den richtigen Ton treffen. Das ist beeindruckend und hat die Jury bewogen, ihr den heute verliehenen Preis zuzuerkennen. Da sie sicher selbst aus ihrer Despentes-Übersetzung lesen wird, lasse ich Sie hier ohne Hörbeispiel und erwähne zum Abschluss lieber noch einen Aspekt, der mir besonders am Herzen liegt.
Häufig schlüpfen Übersetzerinnen und Übersetzer ja nicht nur in die Rolle ihrer Autorinnen und Autoren, sondern auch in die ihrer Impresarios oder Impresarias; Claudia Steinitz macht hier keine Ausnahme. Sie ist Mitbegründerin und bis heute treibende Kraft der 2009 entstandenen Weltlesebühne, eines mittlerweile über den ganzen deutschsprachigen Raum verzweigten Netzwerks, das Veranstaltungen organisiert und finanziert, bei denen übersetzte, sprich Weltliteratur von denen vorgestellt und gelesen wird, die sie noch einmal geschrieben haben, also von den Übersetzerinnen und Übersetzern selbst. Bücher, die nie ins Licht öffentlicher Veranstaltungen treten, weil ihre Autorinnen und Autoren durch profane oder höhere Gewalt nicht zur Verfügung stehen, bekommen hier ihre Bühne. Was in den Augen der Verlage und des traditionellen Kulturbetriebs wie ein schlechtes Geschäftsmodell schien, da man annahm, Literatur aus zweiter Hand würde niemanden hinterm Ofen hervorlocken, erwies sich als erstaunlich erfolgreich. Übersetzerlesungen, von denen Claudia Steinitz unzählige auf und hinter der Bühne mitgestaltet hat, sind ein vom Publikum dankbar angenommener Gegenentwurf zur sonst üblich gewordenen Unsitte, die aus der öffentlichen Wahrnehmung weitgehend Verbannten bei Veranstaltungen, denen letztlich ihre Übersetzungen zur Grundlage dienen, zusätzlich dadurch mundtot zu machen, dass man sie durch Schauspieler doubeln lässt. Bücher haben ihre Schicksale – auch hier, durch ihre Übersetzerinnen und Übersetzer. Eine von ihnen ehren wir heute:
Liebe Claudia Steinitz, im Namen der Jury gratuliere ich ganz herzlich zum Johann-Friedrich-von-Cotta-Übersetzerpreis 2020 der Landeshauptstadt Stuttgart.