Europäischer Übersetzerpreis an Michael Walter

V.l.n.r. OB Edith Schreiner, Michael Walter, Thomas Mohr, Foto (c) Braxart

Europäischer Übersetzerpreis an Michael Walter

(Dies ist die ungekürzte Fassung der Laudatio, die in Übersetzen Heft 2/2018 in Auszügen abgedruckt ist.)

Laudatio auf Michael Walter zum Europäischen Übersetzerpreis, Offenburg 2018

In a few minutes, we shall arrive Offenburg. Es ist die hartnäckige Überzeugung nicht nur der Deutschen Bahn, sondern erstaunlich vieler deutscher Literatur-Liebhaber, das Englische beherrsche doch jeder. Vor einiger warb eine internationale Parfürmerie-Kette auch in Deutschland mit dem witzigen Slogan Come in and find out – jedenfalls so lange, bis eine Verbraucherumfrage ergab, dass die meisten Bundesbürger diesen Slogan verstanden als „Kommen Sie rein, und finden Sie wieder raus.“ Die Werbestrategie wurde schleunigst überarbeitet. Gerade weil wir vom Englischen in unserer Alltagswelt umgeben sind, weil es als lingua franca ja auch wirklich allenthalben segensreiche Dienste tut, werden so viele Zugänge zu den Texten dieser Sprache so jämmerlich verstolpert; aus lauter vermeintlicher Vertrautheit hatten die Sprecher gar nicht mehr damit gerechnet, dass dort überhaupt eine Schwelle sei.

Die übersetzerische Leistung Michael Walters liegt in der unendlich geschmeidigen, immer wieder variierten Kunst, die Nuancen der stilistischen Welten auszukosten, die schon mit den Namen der von ihm übersetzten Autoren angedeutet sind: Henry James’ The Ambassadors und Melvilles Bartleby the Scrivener, Julian Barnes’ Flaubert’s Parrot und Orwells Animal Farm, die wortwitzigen Salonkomödien Neil Simons und das expressionistische Pathos der Dramen von Eugene O’Neill, Lawrence Sternes Tristram Shandy (diesen unergründlichen Vater aller selbstreflexiv-ironischen Romankunst, dem erst Michael Walter das wie angegossen passende deutsche Sprachgewand maßgeschneidert hat) und Lewis Carrolls philosophische Kindergeschichten von – nein, nicht Alice, sondern Sylvie and Bruno, Virginia Woolf und Robert Louis Stevenson, Gibbons’ Geschichte von Decline and Fall of the Roman Empire in ihrer monumentalen, vielbändigen Vollständigkeit; und ich bin mit der Liste noch nicht am Ende. Jede dieser Übersetzungen ist ein Kunstwerk eigenen Rechts und Ranges, weil jede ein Kunstwerk in der deutschen Sprache neu erschafft – ein Kunstwerk, das jedes Mal seine eigene soziale und kulturelle Welt mit sich trägt.

Für literarische Übersetzer, scheint es, können die Einsichten der Sprachphilosophie entmutigend wirken. Wenn Humboldt recht hat mit dem Satz, jede Sprache enthalte ihre eigentümliche Weltansicht, und wenn Wittgenstein bemerkt, die Grenzen meiner Sprache seien die Grenzen meiner Welt – dann sind Übersetzer Leute, die sich zutrauen, das Unmögliche zu tun. Wer sprachliche Kunstwerke übersetzt, glaubt daran, dass nicht nur die Wörter und Sätze, sondern mit ihnen auch die in ihnen enthaltene Ansicht der Welt so verwandelt werden können, dass Fremde sie zu verstehen vermögen wie ihre eigene.

Humboldts Hauslehrer, der Diplomat, Aufklärungs-Schriftsteller und (notabene) Übersetzer Christian Wilhelm Dohm, hat in einem lange vergessenen Aufsatz „Toleranz“ als die Fähigkeit bestimmt, „aus dem eigenen Standpunkte herauszugehen, ohne das für wahr Erkannte aufzugeben“. Die Welt von einem Ort aus zu sehen, an dem man gar nicht steht: diese Fähigkeit ist nirgends so wichtig wie dort, wo man sie trügerischerweise schon zu besitzen meinte. Wo sich also die Gewissheit breitgemacht hat, man verstehe das Englische doch schon seit der Schulzeit, da muss ein Übersetzer die doppelte Kunst beherrschen, die Texte erst in ihrer Ferne und Fremdheit erkennbar zu machen, um sie danach in der deutschen Sprache heimisch werden zu lassen. Wer Michael Walters Arbeiten liest, lernt darum nicht nur die übersetzten Werke neu kennen, sondern findet sich wieder in neuen Welten.

An nur zwei Beispielen will ich das in der knappen mir zugemessenen Zeit andeuten. Beide stammen aus dem amerikanischen Englisch. Oder vielmehr: Sie stammen aus zwei einander diametral gegenüberstehenden englisch-amerikanischen Sprachwelten. Auf der einen Seite steht da Henry James, der Ostküsten-Gentleman, der sich wie seine Romanhelden lieber in London, in Paris und Florenz aufhält als an seinen Herkunftsorten und dessen Kunst einer wahrhaft Proust’schen Durchbildung und Sensibilität lieber zart andeutet als unzart offenlegt, in der alles, das diskret zu Behandelnde und erst recht das ganz Unaussprechliche sich in den leisesten Kräuselungen der sprachlichen Oberfläche abzeichnet – aber in einem weltläufig-charmanten Plauderton, wie ihn der Protagonist der Ambassadors vollendet beherrscht, diese Reflektorfigur, durch deren Sinne wir fast alles in diesem Roman wahrnehmen. Die Stimmung dieses empfindsamen alternden Gentleman wandelt sich in einer Schlüsselszene des Romans, im Gespräch mit einem jungen Freund, „zu einer stillen Flut von Bekundungen, die er, sobald er sich ihr ergeben hatte, als wahre Erleichterung empfand. Zwar hatte sie sich nicht unbemerkt von ihm aufgestaut, aber das Reservoir war rascher randvoll als gedacht, und die Bemerkung seines Gefährten ließ das Wasser über die Ufer treten.“ In diesem unverhofften Überschwang kommt es nun zum zentralen Bekenntnis des Buches: Live all you can. It’s a mistake not to. „Leben Sie, so intensiv Sie können, alles andere ist ein Fehler. Was Sie tun, spielt eigentlich keine große Rolle, solange Sie Ihr eigenes Leben leben. … Es ist [für mich] zu spät. Und es scheint, als hätte mir der Grips gefehlt, um den Zug zu sehen, der im Bahnhof nur auf mich gewartet hat. Jetzt höre ich sein schwaches, schwindendes Pfeifen Meilen und Meilen entfernt auf den Gleisen.“

Ich lese Ihnen diese wenigen Sätze erstens vor, weil sie so bemerkenswert schön sind, reinster Henry James – und zweitens, weil sie als diese deutschen Sätze zeigen, wie Michael Walter sich vorübergehend in Henry James verwandelt: in den gleitenden Übergängen von der exquisiten Wassermetaphorik zum entnervten „Grips“ und in der sanften Rhythmisierung der Syntax. Es ist ein vollkommen schöner Satz, den dieser Übersetzer wunderbarerweise von Henry James auf Deutsch sagen lässt, und noch lange haben wir sein „schwaches, schwindendes Pfeifen“ im Ohr, „Meilen und Meilen entfernt auf den Gleisen“.

Mein zweites Beispiel ist ungleich kürzer, es umfasst nur zwei Wörter, und es stammt vom entgegengesetzten Ende des literarischen Spektrums. Lange hat H. P. Lovecraft, der Meister des monströsen Grauens, sein Dasein weit abseits des Kanons gefristet; erst Dichtern wie H. C. Artmann und Arno Schmidt, nicht zufällig zwei Vorbildern und Anregern auch Michael Walters, haben ihn für die deutsche Sprache entdeckt. Lovecraft zu übersetzen, wie Michael Walter es in zwei stattlichen Bänden getan hat, verlangt ein Gespür für die Verschmelzung des Vulgären mit dem Subtilen; der Großmeister der Pulp Fiction ließ sich nicht von dem Traum abbringen, eine Art Shelley der Comic-Strip-Ära zu werden. Unter den vielen Bombastvokabeln von Lovecrafts exzessiver Sprachwelt findet sich auch der Ausdruck vom ultimate abyss. Nichts wäre einfacher und läge näher, ihn zu übersetzen als „äußersten“ oder einfach „letzten Abgrund“. Nur Michael Walter ist auf die kongeniale Idee verfallen, ihn als „ultimaten Abgrund“ wiederzugeben. Erst mit dieser Wendung wird aus der Übersetzung von Wort in Wort eine Übertragung von Welt in Welt; denn erst das „ultimat“ gibt im Deutschen das preziös Gesuchte, kunstvoll Manierierte von Lovecrafts Stil wieder.

Das, meine Damen und Herren, wollte ich Ihnen zeigen: wie es Michael Walter gelingt, das Fremde nicht etwa als Eigenes einzugemeinden, sondern es in unserer Sprache als Fremdes und eben darum Anziehendes und Fesselndes wahrnehmbar zu machen. Die Kunst seines Übersetzens besteht darin, in derjenigen seiner Gegenstände zu verschwinden, sich so in ihnen aufzulösen, als hätten Lovecraft und Henry James, Melville und Sterne auf Deutsch geschrieben. Die Fremdheit, die er uns wahrnehmen lässt, ist nicht diejenige der fremden Sprache, sondern diejenige der uns umgebenden Welt, gesehen aus den Augen fremder, eigenwilliger, schöpferischer Menschen. Seine Übersetzungen sind, unter anderem, auch eine Schule des Respekts und der Empathie.

Als vor einigen Jahren Verena Reichel mit dem Übersetzerpreis der Deutschen Akademie ausgezeichnet wurde, vor allem für ihre Arbeiten mit dem Werk des schwedischen Dichters Lars Gustafsson, da war ich kurz vor Beginn der Zeremonie Zeuge einer kleinen Szene. Der alte Gustafsson blickte versonnen auf die Hände seiner neben ihm sitzenden Übersetzerin und sagte, mehr zu sich selbst als zu den Umsitzenden: „Zu denken, dass diese Hände mein Lebenswerk geschrieben haben…“ Die Hände des diesjährigen Preisträgers haben Meisterwerke der englischen und amerikanischen Literatur geschrieben, auf Deutsch. Thank you for travelling with Michael Walter.