Helmut-M.-Braem-Preis an Olaf Kühl

V.l.n.r. Olaf Kühl, Helga Pfetsch, Svenja Becker, Foto (c) Ebba D. Drolshagen

Helmut-M.-Braem-Preis an Olaf Kühl

(Im Folgenden lesen Sie die ungekürzte Fassung der Dankrede von Olaf Kühl anlässlich der Verleihung des Helmut-M.-Braem-Preises, die in Übersetzen Heft 2/2018 in Auszügen abgedruckt ist. Vorangestellt ist die dazugehörige Preisrede von Hauke Hückstädt.)

Verleihung des Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreises an Olaf Kühl

23.06.2018

Laudatio (unlektoriert)

Stellen wir uns vor, die gewählten obersten Repräsentanten Moskaus und Berlins treffen sich.

Der Erstere sei Gast in der Hauptstadt an der Spree.

Es ist ein Tag nach Protokoll.

Hier ein nützliches Mittagessen bei Tafel e.V., da und dort Fototermine, und dann Stippvisiten bei Neubauprojekten, einer russischen Off-Theater-Gruppe, einem Sportverein usf.

Als erstes aber, früh am Morgen, steht Geschichte an. Besucht wird das Gelände einer ehemaligen Kaserne der großen Sowjetskaja Armija, das nun umgepflügt wird zu einem Wohnpark. Fragend, die getönte Brille abnehmend, deutet der Bürgermeister Moskaus, nicht gerade ein Garant der Offenen Gesellschaft, auf das aufgewühlte Areal. Und sein Gastgeber hebt daraufhin an:

„Die Sonne sitzt noch tief, sie durchbohrt eine andere Welt, doch in einer Stunde wird sie sich zeigen, wird an die Oberfläche kommen wie ein Holzwurm aus dem Gebälk.“

Der Gast räuspert sich.

Berlins Oberhaupt aber fährt fort:

„Um diese Zeit löst sich der Himmel noch kaum von der Erde, die Grenze ist noch nicht fest; es sind nur unterschiedliche Arten von Finsternis, in der die Phantasie sich austoben kann. Aber was kann ein Mensch sich schon vorstellen, außer all den Dingen, die andere an diesem Ort schon gesehen haben, Banalitäten, zusammengeschustert aus den verwischten und farblosen Figuren der Wirklichkeit; nur eine Variante der Nachtblindheit, Parodie des toten Telefons. Im Grunde streift der Blick nur die dunklen, feuchten Farben wie die Hand den glatten Samt, das warme Mantelfutter, wenn es draußen kalt ist, genauso gedankenlos und mit demselben Behagen. Eine Stunde noch wird man sich das Leben anderer Menschen vorstellen können. Die tote Zeit, da die Welt langsam sichtbar wird, aber noch unbevölkert ist. Das Licht hat die Farbe geschmolzenen Silbers. Es ist schwer. Es zerläuft am Horizont, aber beleuchtet die Welt nicht. Hier herrscht noch immer Halbdunkel und Mutmaßung, die Dinge sind kaum ihr eigener Schatten.“

Können wir uns vorstellen, so spräche Berlins Oberhaupt? Wie könnte das sein?

Welch Wendungen nähme das Geschick der Welt, wenn wir unsere Potentaten nicht nach dem Mischmasch ihrer politischen Programme, sondern nach der anzutreffenden Regaldichte und nach den darin vertretenen Lieblingsautoren auswählten?

Diese Begegnung, undiplomatisch und dissonant, sie ist unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Denn Literatur ist eine Möglichkeitskunst. Und Olaf Kühl ist der Russlandreferent des Regierenden Oberbürgermeisters von Berlin. Ein Künstler im Kittel der Diplomatie, ein Referent des Understatements. Und stellen wir uns vor, er, Olaf Kühl, hätte unseren Gastgeber für diesen morgendlichen Wachmacher, für diesen vornehmen Affront genau diese Zeilen des polnischen Autors Andrzej Stasiuk ins Protokoll geschrieben.

Es sind Zeilen aus den ersten Seiten von „Dukla“. Es sind (urheberrechtlich gesehen) Sätze von Andrzej Stasiuk. Aber, was wir hören, ist Poesie von Olaf Kühl. „Dukla“ (und ich spreche für die deutsche Übersetzung) ist bewusstseinserweiternd und doch legal und nicht verschreibungspflichtig. Was Olaf Kühl hier vor 18 Jahren auf Deutsch vorgelegt hat, gehört mit zum Besten, was wir an deutschsprachiger Prosa jemals zu lesen bekommen haben.

Olaf Kühl hat mit „Die Welt hinter Dukla“ womöglich nicht, jedenfalls nicht nachweisbar, unser aller Leben verändert, aber was er hier übersetzt hat, was er da geschaffen hat, konnte uns im Jahr 2000 derart in die Pupillen schießen, dass es doch augenöffnend wirkte für das, was wir über Originale und ihre vollschlanken deutschen Übersetzungsgeschwister, was wir über Provinz und Erhabenheit , über Florfliegen und Regen wissen konnten.

Damals lernte ich den Autor kennen und mit ihm den Übersetzer Kühl. Und noch ein paar Jahre später durfte ich auf Ersteren eine Laudatio halten. Grund für die Auszeichnung Stasiuks mit dem deutsch-polnischen Bogumil-Linde-Preis war natürlich auch die hervorragende Übersetzungslage. „Die Welt hinter Dukla“, die autobiografische, nahezu popliteratenhafte Autorenbiografie „Wie ich Schriftsteller wurde“ und die düsteren Häftlingserzählungen in die „Mauern von Hebron“ lagen da bereits auf Deutsch vor. Letzteres ist ein Banditen-Fresko, mehr geätzt als gemalt.

Ich sagte also damals und ich wiederhole mich gerne noch einmal:

„Eine Laudatio auf einen Autor ist keine Liebeserklärung, sondern immer eine kleine Rede an die Welt. Denn im Gegensatz zur Gurke, die zu über 90 Prozent aus Wasser besteht, setzt sich ein Autor zu hundert Prozent aus dem zusammen, was er, was insbesondere seine Bücher erfassen.“

Und das ist es. Das Erfassungsvolumen von Olaf Kühl, von Olaf Kühls Schreiben ist umwerfend.

Wir können ja einmal dem Ich-Erzähler aus Kühls erstem Roman zuhören:

„Wenn ich als Kind von einem Spaziergang nach Hause kam, setzte ich mich immer gleich an den Tisch und zeichnete. Es war mein Wunsch und mein Ehrgeiz, die ganze Welt da draußen, sie wie ich sie eben erlebt hatte, festzuhalten. Nichts davon zu vergessen, noch die letzte Einzelheit auf Papier zu bannen. Dieser Wunsch war besonders stark im Winter, wenn draußen alles schwarzweiß war und man glauben konnte, dort könnte man gar nichts übersehen. Die Welt zu lieben hieß für mich schon damals, sie zu erkennen.“

Olaf Kühl hat eben keine „Schreibe“ wie viele Gute, ich würde auch nicht sagen, dass es einen Stil gäbe. Es ist da etwas, das man gar nicht heraushören kann, weil es überall ist, etwas, das ich mit Casals vergleichen müsste, mit Glenn Gould, mit Güttler. Eine lässige Selbstverständlichkeit. Eine Kreuzung aus street-credibility und Musensöhnchen. Kühl ist zweifelsohne ein Autor von Rang, selbst dann, wenn er später nicht noch, wie eben auch zitiert, zwei starke Romane geschrieben hätte. Und die Nominierung für den Deutschen Buchpreis 2013 mit dem Roman „Der wahre Sohn“ oder auch die jüngste Auszeichnung von Esther Kinskys „Geländeroman – Hain“ beweist das Offensichtliche. Sie alle hier (wie Olaf Kühl!), die Übersetzer, zählen zu unseren besten Autoren. Autoren, die von sich absehen können, Autoren, die den Reichtum in deutschsprachigen Verlagsprogrammen sichern.

Na jedenfalls,

was immer wir von Olaf Kühl lesen, es hat all das nicht, was ich Klimbim nennen würde. Also bei ihm finden wir eine erholsame Abwesenheit von Raffinesse, Virtuosität, Spritzigkeit, Larmoyanz, Musikalität. Nichts bei ihm, was wir erlesen nennen würden, keine Spitzfindigkeiten, keine Manierismen, keine Finten, kein Clinch, keine Doubletten, immer die pfeilschnelle Gerade. Der geballten Faust sieht man die Klavierhand nicht an!

Noch einmal aus meiner Lieblingsfibel:

„Die Sonne stieg höher und höher, damit die Menschen sich die Welt ansehen konnten.“

Die Jury des Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreises hat es in Worte gefasst am Beispiel des „Boxers“ von Szczepan Twardoch:

„Seine Übertragung aus dem Polnischen folgt einer klugen Poetik der ökonomisch knappen Verwendung von Bildern und Metaphern. (…) Ob es die Körperlichkeit eines Boxkampfes ist, die Stimmung eines Stadtteils, der Ton eines Dialogs – immer gelingt es Olaf Kühl, fein austarierend zwischen Hoch- und Umgangssprache, einen spannungsreichen Text zu formulieren.“

Genau, ich kenne gar nicht viele Bücher, die spannender wären als „Dukla“, in dem nahezu nichts passiert, da geschieht gar nichts. Autor und Übersetzer lassen Licht über Oberflächen tropfen, fließen, träufeln.

Und Twardoch – was für ein athletischer Autor! Romane wie Kraftprotze, allerdings allzu empfindsam.

Im „Boxer“ wird ja ständig geredet, ständig Jargon oder Jiddisch und unentwegt Gewalt. Und Lecken und Lutschen, Blasen und Boxen: unser Übersetzer kann das alles – in Worte fassen. Sie wundern sich keinen Augenblick. Man liest das und vergisst nie, dass man einen polnischen Autor liest. Aber man vergisst sofort, wieviel Arbeit es gewesen sein muss, uns vergessen zu machen, dass man es mit einem Behelf, mit einer Übersetzung zu tun hat.

Vielleicht sollten wir uns aber fürchten vor all dem Starkdeutsch, dem Kraftvokabular, das Olaf Kühl im Repertoire hat, aus dem Duden scheint es jedenfalls nicht!

Oder nehmen Sie nur das hier, ein Satz wie summender Draht:

„Ich sah die Teekanne an und wusste, dass diese und andere Teekannen mit der Zeit immer furchtbarer für mich sein würden, so wie alles um mich herum.“

Das ist Witold Gombrowicz, sein berühmtes „Tagebuch“. Ein Superbuch, um ein geleimtes Spielzeug zu reparieren, so schwer wiegt es, so sanft schmiegt es sich um die zersplitterte, scharfkantige Welt. Aber man hat es oft auch als eines der größten Denkgefäße des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Und mir scheint, Olaf Kühl ist der Töpfer.

Oder hören wir uns das an:

„… das Böse ist keine Straße und kein Kiez,

du blöder Tropf, das Böse sitzt in deinem Kopf.

Groß ist die Auswahl an Klingeltönen und Logos gibt´s viel, am Ende musst du löhnen, Alter, und hast nur eine Alternative: im Zentrum den goldenen Schuß oder in Praga den massiven Bluterguss.“

(…)

„Du Arsch, jetzt denkst du bestimmt, das ist das Ende von Pitz ihrem Lied, dem Märchen vom Star, der versauert, von der Weide, die trauert, vom Made-in-China-Püppchen, dem die Kutteln rausquellen, weil keine Sau mit ihm knuddeln will.“

Auf Dorota Maslowska wurde ich aufmerksam durch einen Rezensionsvermerk: aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Ich war damals schon so weit, dass ich mir sagte, das muss ja gut sein, das muss ich lesen. Dieser Rap, entnommen aus dem 180 Seiten Wortrevolver „Die Reiherkönigin“ ist ein hingebungsvoll hingeknietes Fuck You an die polnische Gegenwart, an die Milosz-, an die Chopin-Blindgänger, an den Stillstand, an den Aufstand, den Anstand. Und Olaf Kühl hat diesem gewaltigen Text, man muss es so sagen, eine Barrio-relevante Gestalt gegeben.

Wenn man Olaf Kühl liest (und Sie haben schon eine gute Bibliothek, wenn Sie ausschließlich auf seine Übersetzungen aus dem Russischen, Polnischen und Ukrainischen zurückgreifen), wenn man Olaf Kühl liest (und nicht vollkommen ignorant ist) spürt man, auch ohne in diesen Sprachen gewandt zu sein, dass man an einer Nadel hängt, an dem Klang eines Saphirs in der Rille, in der Gosse, in den Falten der Haut.

Meine Abhängigkeit von Übersetzern ist mir selten klarer geworden, aber eben auch, dass der Rausch immer größer war als der Kater danach, wenn mal ein oder zwei Jahre nichts kam.

Einmal schlug ich der Frankfurter Rundschau, das war damals eine tolle Zeitung, vor, Stasiuk zu interviewen. Natürlich brauchte ich dafür jemanden, der mir übersetzen half. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie wir zusammensaßen. Stasiuk brummelte mir ins Mikrofon und Kühl übersetzte. Er war so mühelos dabei, und ich so bemüht. Und ich war jung und wollte so viel und er hatte diese Jugendlichkeit, so eine Jungenhaftigkeit, die mir heute noch an ihm auffällt.

Wie passt das eigentlich zusammen, diese kurzen blonden Haare, die hellen Augenbrauen, dieses Lönneberger-Lächeln, die sanfte Stimme und dazu diese exzentrischen Autoren: der feinnervige, aristokratische Gombrowicz!

Dann Stasiuk, dieser köhlerhafte Karparten-Schreck, Hände wie Schaufeln, Augen wie Kinder.

Twardoch, mit seiner schnittigen Fitness und dieser fuchshaften Könnerschaft!

Die zierliche Superwoman Dorota Maslowska. Sehe noch, wie Kühl zaghaft Gitarre spielte und sie dazu sang oder rappte, auf dem Podium in Göttingen.

Und dann Arkadi Babtschenko, der ukrainische Recording Angel, der Chronist der Zerschmetterungen, der irisierende Frontläufer und der ermordete Babtschenko, und der wiederauferstandene Babtschenko.

Das sind alles Haudegen,
Schmerzensreiche,
Begnadigte.

„Die Grundlage der Literatur“, übersetzte Olaf Kühl damals eine der Antworten Stasiuks, „die Grundlage der Literatur ist die Unzufriedenheit, das ist schon klar. Wenn man zufrieden ist, braucht man nicht zu schreiben: Man liest oder trinkt Bier.“

Das habe ich so auf dem Band. Ich höre es noch. Astrein und simultan so von ihm übersetzt, ohne mit der blonden Wimper zu zucken.

Mit einem tief in mir nagendem Neid stelle ich mir vor, wie Stasiuk und Kühl im Geländewagen immer weiter nach Osten fuhren. Olaf Kühl hat das, diese Männerbündelei, in seinen Romanen mehr oder weniger deutlich aufgegriffen. Stasiuk schrieb darüber. Gerne wäre ich einmal dabei gewesen, wie sie Raubein spielen, die Mimosen, die heiligen Schlucker, die Hochempfindsamen.

„Die Zukunft des Buches“, sagte Carlos Ruiz Zafon mir einmal, und Michi Strausfeld übersetzte es, „die Zukunft des Buches hängt von den Frauen ab!“

Pessimisten würden entgegenen, aber ich weiß, auch jetzt sind gerade wieder keine anwesend, Pessimisten würden sagen: „Die Zukunft des Buches hängt von der Zukunft ab.“

Aber wer vermag auf die Zukunft zu warten?

Und Männer werden auch weiterhin lesen, und sei es, um ihre klügeren Frauen zu verstehen.

Lieber Olaf Kühl, so lange es Poesie, Verstand, Anmut, Scharfsichtigkeit und Ausdauer gibt, kurzum, solange es einen wie Dich, einen Künstler im Kittel der Diplomatie gibt, werden es Bücher sein, die auf die endlose Zukunft der Bücher weisen.

Wir alle hier gratulieren Dir zu diesem Preis, zu der Reihe derer, die vor dir hier standen und in die Du dich nun einreihst.

Die Zukunft des Buches hängt von den Büchern ab!

 

Dankesrede von Olaf Kühl

Wolfenbüttel, 23.6.2018

Liebe Helga Pfetsch,
verehrter Freundeskreis,
liebe Jury,
liebe Freunde und Kollegen,
lieber Hauke Hückstädt !

Die schönsten Preise sind die, die man überhaupt nicht erwartet hat. Erwarten sollte man Auszeichnungen ohnehin nie, denn Juryentscheidungen sind unwägbar. Ich komme gleich darauf zurück.

Hauke hat mich ein bisschen sentimental gemacht mit dem historischen Bogen, den er geschlagen hat zu seinem Liebling Andrzej Stasiuk.

Mit Stasiuk fing für mich das Reisen an, in jeder Hinsicht. Vorher hatte ich nur tote Autoren übersetzt oder solche, die sich öffentlich wenig produzierten. Mit Gombrowiczs Tagebüchern bin ich in den 80er Jahren durch die Lande gezogen, durfte erleben, was Schauspieler wie Otto Sander oder Udo Samel aus diesem Text machten. Mit polnischen Klassikern der Moderne wie Wacław Berent war kein Publikum anzulocken. Adam Zagajewski machte sich rar.

Mit Stasiuk also fing das Reisen an. Seit 1998 auf Lesetouren, kreuz und quer durch die deutschsprachigen Länder. Zehn Jahre später brachen wir dann auf eigene Faust auf, nach Russland, in die Mongolei, nach China. Reisen schweißen zusammen. Unsere Freundschaft bekam einen Riss just in dem Moment, als ich anfing, über ihn zu schreiben (in dem Roman Tote Tiere). Vielleicht nur einen Haarriss, aber immerhin.

So symbiotisch die Beziehung zwischen Autor und Übersetzer ist, so fragil ist sie auch immer.

Ernst Jüngers französischer Übersetzer Henri Plard hat bei dem Buch Die Arbeiter die Zusammenarbeit verweigert, weil er dieses Buch für „schlecht geschrieben und faschistisch“ hielt. Damit ging eine langjährige enge Zusammenarbeit und Freundschaft zu Ende. Die Weltliteratur kümmerte das nicht, sie ging darüber zur Tagesordnung über.

Dorota Masłowska, die einzige Autorin, auf die ich wirklich eifersüchtig werden könnte, raffte vor Jahren bei einer Silvesterfeier mehrere als 100-Euro-Noten bedruckte Servietten zusammen, schob sie mir hin und sagte: „Olaf, das ist deine Abfindung. Ab sofort übersetzt mich Esther Kinsky“. Zum Glück war das ein Witz.

Seit Dorota Masłowskas „Reiherkönigin“ und Tomasz Różyckis „Zwölf Stationen“ betrachte ich mich insgeheim auch als Lyrik-Übersetzer, jedenfalls jener Art von Lyrik, die nicht nur einfach in Zeilen gebrochene Prosa ist, sondern formale Herausforderungen an den Übersetzer stellt. An der „Reiherkönigin“ habe ich zwei Jahre gearbeitet, habe mir meine Übersetzung immer wieder zu selbst improvisiertem HipHop am Klavier vorgesungen, habe ihr nachgehorcht und daran gefeilt, bis sie rhythmisch und klanglich stimmig war. Keine der beiden Übersetzungen ist je mit einem Preis ausgezeichnet worden. Das meinte ich mit der Unwägbarkeit von Juryentscheidungen. Ich könnte den heutigen Preis als ausgleichende Gerechtigkeit betrachten. Aber Gerechtigkeit gibt es nicht. Mein alter Freund Friedrich Griese hat etwa zweihundert großartige Übersetzungen schwierigster philosophischer und literaturwissenschaftlicher Texte vorgelegt. Er hat mich als jungen Übersetzer zu der Übertragung von Lech Wałęsas Autobiographie hinzugezogen und ich habe erlebt, wie penibel und kreativ er in seiner Arbeit war. Wenn es stimmt, was er mir kurz vor seinem Tod gesagt hat, dann hat Friedrich zeit seines Lebens keinen einzigen Literaturpreis bekommen. Heute muss ich an ihn denken. Friedrich, Ruhe in Frieden.

Das Wunderbare am Übersetzerdasein ist, dass man im engen Kämmerlein der eigenen Persönlichkeit, im Gefäß der eigenen Sprache keine Atemnot bekommt. Bevor das eintritt, naht meist schon Entsatz von draußen, pflügen fremde Existenzen, andere Denkweisen dich und das, was man im Deutschen „Wesen“ nennt, auf.

Vor einiger Zeit habe ich in einem Interview für das Goethe Institut Warschau gesagt, dass mich die polnische Literatur im Augenblick ein bisschen langweilt. Dass ich die Hoffnung hege, irgendwo in der Provinz könnte eine ganz junge, vielleicht aber auch schon ganz alte, noch völlig unbekannte Autorin darauf warten, entdeckt zu werden. Einige Wochen später rief mich eine Frau aus Niederschlesien an und sagte, sie sei diejenige, auf die ich warte.

Leider war sie es nicht.

Dafür kommen andere. Im Herbst erscheint Żanna Słoniowskas Licht der Frauen. Der polnischsprachige Roman einer Frau mit ukrainisch-russischen Wurzeln, deren Sprache von subtilen Symptomen dieser Kulturmischung geprägt ist. Mich freut dieses Buch zum einen, weil es den Bogen schlägt zu den von mir ebenso geliebten ostslawischen Literaturen – zu einem Andrij Bondar oder Jurij Andruchowytsch, aber auch weiter zu den Russen – beispielsweise Arkadij Babtschenko. Und es freut mich, dass ich endlich einmal wieder einer weiblichen Autorin meine deutsche Stimme verleihen durfte. Nach all den harten Kerlen, nach Stasiuk und Twardoch.

Zum Ende dieser etwas erratischen Rede möchte ich Ihnen einige Zeilen aus einem größeren Poem vortragen. Sie stammen von einem Dichter, die ich ganz besonders hoch schätze:

Euer Dschiguli brettert über die Autobahn.
Die Fugen zwischen den Platten
sind Musik für die Wirbelsäule.
Benommen prescht ihr durch den Raum
aus Himmel, Waldsaum und Formbeton,
der sich im Spiegel rücklings verjüngt wie ein Ypsilon.
Das Klappern der Armaturen und der Geruch von Gummi,
Öl und Minolbenzin ruft ein Fernweh zurück,
das Druck auf die Augen ausübt. Oktober,
der Wischer schrammelt wie Bulat Okudschawa.
Der 12hunderter hatte rote Kunstledersitze,
es sieht aus, als säßet ihr auf Klosetts.
Und plötzlich, ab Wandlitz, summt Teer unterm Wagen,
ihr seid in Berlin.

Bei so etwas juckt’s einem geradezu in den Fingern, das zu übersetzen. Leider steht es schon da – in dem überwältigenden Deutsch von Hauke Hückstädt. Zeilen aus seinem Großgedicht Tutti Frutti.

Ich danke Hauke für sein inspirierendes Lob. Ich danke meinem hier anwesenden Lektor Wilhelm Trapp von Rowohlt Berlin, ohne den Twardochs Boxer und viele, viele andere Bücher nicht das geworden wären, was sie sind.

Ihnen allen danke ich für Ihre Aufmerksamkeit.