Voß-Preis an Barbara Kleiner

(Dies ist die ungekürzte Fassung der Laudatio, die in Übersetzen Heft 02/2021 in Auszügen abgedruckt ist)

»Welten öffnen«

Das lateinische Wort «aperire», öffnen – von welchem das italienische «aprire», und das französische «ouvrir» sich ableiten, legt die Vorstellung nahe, es müsse zunächst etwas in sich Verschlossenes, Gehütetes, ja Behütetes aufgebrochen werden, damit es zugänglich werde. Denn das zugrundeliegende «*verio», das sich in bestimmten Sprachregionen zum Verschlusslaut «*perio» fortentwickelte, meinte ursprünglich wohl: das unter Verschluss Gehaltene. Verbunden mit einem «Alpha privativum» ergibt sich draus: Hier ist der Verschluss entfernt worden: darum liegt das Gemeinte jetzt offen da, unverhüllt, ans Licht gebracht, aufgebrochen, offenbart. In weiter gehender Semantik kann «apertum» dann auch bedeuten: leicht zugänglich, entblösst, ungedeckt, offenkundig, ja sogar leichtverständlich, offenherzig, geradeheraus. Aber auch: das Weite und das Freie suchend.
Nun wissen wir: Sprachen haben primär zwar einen kommunikativen Zweck, ein das gegenseitige Verständnis öffnende und fördernde Ziel. Doch Sprachen – zumal komplex poetische Sprachen – kennen auch tendenziell verhüllende, beschützende und ihre Geheimnisse hütende Intentionen. Im Grunde verfügt jede hochentwickelte Sprache über eine Art Schutzmantel, mit dem sie Wortbedeutungen, Redewendungen, Regio-, Sozio- und Idiolekte überzieht und vor banausischer Trivialität und verletzend simpler Eindeutigkeit schützt. Fanfarenlogik ist nicht einer Sprache wichtigster Zweck. Sie will auch den inneren Reichtum und die zu keiner Zeit abschliessbare Vielfalt, die in ihr angelegt ist, hüten und bewahren. Da wir Menschen im Hinblick auf Mehr- und Vielsprachigkeit äusserst beschränkte Wesen sind, brauchen wir speziell begabte und kundige Experten, die über die Fähigkeit verfügen, uns diese verschlossenen Welten zu öffnen. Ich spreche von Übersetzerinnen und Übersetzern, ohne welche wir alle eigenbrötlerisch und isoliert im uns zufällig Zugänglichen stecken blieben.
Zu diesen an Wissen, Vertrautheit, Einfühlung, Vermittlungsbegabung und kreativer Sprachphantasie hochdotierten Menschen gehört seit langem auch unsere diesjährige Voß-Preisträgerin Barbara Kleiner. Einfach beeindruckend, was sie jenen, deren Weltorientierung sich vor allem in deutscher Sprache einrichtet, in den vergangenen Jahren zugänglich gemacht hat. Es sind inzwischen sicherlich weit über 50 Bücher, die sie uns – vor allem aus dem italienischen Kulturbereich – erschlossen hat. Da beinah jeder Satz eines bedeutenden Autors oder einer Autorin, den eine Übersetzerin klärend in einer anderen Sprache wiedergeben will, zu wachsenden Zweifeln und alternativen Möglichkeiten und Varianten führen kann, muss eine Übersetzerin im Verlauf ihres Lebens sich zu einer ganz und gar beherzten Person entwickeln, damit sie zum Entschluss kommt: So soll es in meiner Übersetzung lauten und so soll es dastehen! Es sind Entscheidungen, bei denen Zweifel weniger die Lesenden heimsuchen, am Ende wohl weit mehr die nachdenklichen unter den Übersetzenden selbst.
Wir werfen hier einen kurzen Blick auf drei italienischsprachige Autoren, die durch die Lebensleistung von Barbara Kleiner für Leserinnen und Leser des deutschsprachigen Raumes zu Vertrauten, ja vielleicht sogar zu Geistesverwandten geworden sind.
Zuerst soll von Ippolito Nievo (1831–1861) und dessen epochalem Roman Bekenntnisse eines Italieners (erschienen 1867) die Rede sein. Die Bedeutung dieser als literarisches Kunstwerk nur mit Manzonis I promessi sposi vergleichbaren Chronik der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist in historiographischer wie literarischer Hinsicht einzigartig. Wer begreifen will, wie ein zwischen kirchlichen und weltlichen Fürstentümern zerrissener Feudalstaat mit und nach Garibaldi sich zu einem Nationalstaat entwickeln konnte, kommt um dieses so umfangreiche wie in jeder Beziehung packende Werk nicht herum. Denn es ist gleichzeitig Chronik einer vergehenden und Roman einer neu entstehenden Zeit ist. Es ist historisch und ethnographisch derart detailreich und faktisch die Lebenssituation in Friuli und Venetien abbildend, wie es keine beflissene akademische Geschichte des 19. Jahrhunderts in Italien zu bieten vermag. Das besondere dieser Chronik liegt aber darin, dass wir hier einen in der Ich-Form erzählten Bildungsroman vor uns haben, in welchem die privaten Wünsche und Sehnsüchte eines erwachenden romantischen Patrioten parallel dazu ebenso tiefgründig zur Darstellung kommen. Dieser mit allen Antennen gesellschaftlicher wie privater Erkundung ausgestatteter Beobachter und Erzähler Nievo, der als kaum 30-jähriger auf dem Dampfschiff «Ercole» zwischen Palermo und Neapel in der Sturmnacht vom 3. auf den 4. März 1861 mit allen Passagieren und der gesamten Besatzung ums Leben kommen sollte, ist ein eigener Seelenforscher erster Güte. Wie er sich da in die Figur eines 80-jährigen Mannes hineinfühlt, der seine Lebensgeschichte Revue passieren lässt und dabei die sich abzeichnenden Veränderungen von der alten Zeit zu einer neuen Lebensepoche wahrnimmt, ist ebenso phänomenal wie die erotisch hochfliegende Phantasie, mit der Nievo die Erinnerungen des alten Carlino Altoviti und die Lebenslüste und die Lebenslisten von dessen Cousine Pisana beflügelt. Es ist in literarischer Hinsicht ein Meisterwerk über «Cousinen-Liebe», wobei Nievo die Möglichkeiten autobiographischer Erinnerungskultur voll ausnützt. In der Cousine Pisana haben wir nicht das Portrait einer neidisch und rachsüchtig gewordenen alten Jungfer, wie in Balzacs grandiosem Roman La cousine Bette (1846), sondern ein Abbild eines in allen ambivalenten Farben aufleuchtenden weiblichen Charakters, schwankend zwischen Zuneigung und Verweigerungsstolz, ja geradezu eine sado-masochistische weibliche Charakterstudie, die wie ein frühes Wetterleuchten den am Ende des 19. Jahrhunderts losbrechenden psychoanaltischen Studien zum Verständnis weiblicher Sexualität vorausgeht. Pisana ist das komplexe weibliche Gegenstück zu Manzonis Lucia, die bei uns Lesenden mit schönster Natürlichkeit, mit Güte, Offenherzigkeit und Arglosigkeit punktet. Pisana dagegen ist so verliebt wie sie berechnend ist, zur Umarmung wie zur gleich folgenden Untreue bereit, Netze spinnend, Fallen stellend, weder mit sich noch mit ihrer Umgebung im Reinen, eine Cousine eben, wie sie junge, erst erwachsen werdende Männer brauchen, um über das Wesen des Weiblichen rechtzeitig das Fürchten zu lernen. Man darf zu Nievo sicher auch sagen: ihn heute geniessend zu lesen setzte eine gewisse Duldsamkeit gegenüber historischem Heroismus und romantischem Überschwang voraus, die aber beide durch hintergründigen Humor und durch eine in Italien seit der Antike kulturell tief verwurzelte Einwilligung in fatalistische Unabänderlichkeiten elegant ausbalanciert sind. Nievo ist einer jener südeuropäischen Intellektuellen, mit denen ich ums Leben gern einmal eine Sommerwoche im Friaul oder in Venedig verbracht hätte!
Der zweite Autor, dessen Welt Barbara Kleiner für uns in entscheidender Weise mitentschlüsselt hat, ist Italo Svevo. Hier bewegen wir uns mentalitätsgeschichtlich im 20. Jahrhundert und somit konfrontiert mit einem künstlerischen Individuum, dessen Bewusstsein die gesellschaftlichen Krisen, die zu einem Ersten Weltkrieg führten, geradezu mit seismographischer Präzision wahrnimmt. La coscienza di Zeno – Zenos Gewissen, auch als «Zenos Universum des Bewusstseins» verstehbar, publiziert 1923, ist Svevos dritter Roman, den er erst ein Vierteljahrhundert nach seinen beiden ersten Büchern schrieb. Diese waren bei Verlegern und bei der Literaturkritik von überaus enttäuschendem Echo geblieben. Es sei, als habe man sie nach ihrem Erscheinen in eine tiefe Zisterne geworfen, wo sie nun über Jahrzehnte vor sich hin faulten und dem Vergessen anheimfallen konnten, schrieb jemand später. Svevo wandte sich vom literarischen Betrieb ab und wurde bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges ein erfolgreicher Unternehmer in der Fabrik der Familie seiner Ehefrau Livia Veneziani. Zwei Beschäftigungen haben ihn in seiner verbleibenden Freizeit allerdings immer in Atem gehalten: das Lesen grosser Autoren der europäischen, ja der Weltliteratur, sowie das Interesse für die neuen Erkenntnisse der Psychoanalyse und für die Schriften Sigmund Freuds. So entsteht mit Zenos Gewissen der vielleicht wichtigste psychoanalytische Roman der ersten Jahrhunderthälfte, ein Meisterwerk an seelischer Introspektion, an rational-analytischem Spürsinn und an Selbstoffenbarung, ja ein Geniestreich der Balance zwischen individueller Aufklärungspassion und ironisch lebensschonender Disziplin und Distanzierungskunst. Natürlich erfahren wir hier auch viel über krisen- und kriegsbedingte Umbrüche in der italienischen Bourgeoisie, über deren morsche Doppelmoral und über deren illusionäre Tröstungen. Zenos Gewissen ist aber gerade in individualanalytischer Hinsicht ein absolut revolutionäres Buch. In diesem bedeutendsten Werk des Ettore Schmitz alias Italo Svevo («der Italienische Schwabe»), liegt uns ein Roman vor, der in Bezug auf die Erzählkunst raffiniert kaschierter Selbstoffenbarung nur in Gestalten wie Proust, Joyce oder Beckett seinesgleichen hat. Für uns Heutige, die nach wie vor darüber rätseln, wie unsere Gefühle, unsere Entscheidungen, unsere Ängste, unsere Ausreden, unser sich Abfinden mit der Realität und unsere Lebenslügen bis ins hohe Alter hinein entstehen, muss dieser als Autobiographie kaschierte Roman zu einer nie mehr aus der Hand zu legenden Lektüre werden. Zumal, weil dieses Svevosche Bewusstseinsuniversum, trotz der Vergeblichkeit, die eigenen charakterlichen und emotionalen Defizite ganz aufgeben und ablegen zu können, uns nicht in Verzweiflung und Trostlosigkeit, sondern in eine Art von lächelnder Gelassenheit dem Leben gegenüber hineinführt. Gerade die Neu-Übersetzung von Barbara Kleiner führt uns die sprachlichen Besonderheiten des Triestiner Autors vor Augen und vors Gehör, dem allzu beflissene und engstirnige Stilpolizisten der Accademia della Crusca bereits früh zu seinen Lebzeiten vorwarfen, er schreibe «schlechtes Italienisch». Svevos La conscienza di Zeno gehört zu jenen Büchern, ohne welche wir nie zureichend begreifen werden, wie wir selbst als Leserinnen und Leser geistig, moralisch und emotional ticken.
Schliesslich möchte ich noch zu einer anderen Welt, die uns Barbara Kleiner eröffnet hat, etwas sagen. Es ist die von Primo Levi. Auch in diesem Fall hat diese Übersetzerin -zusammen mit einigen ihrer Kolleginnen und Kollegen – uns die Tore geöffnet zu einer Realität, der sich zu stellen eine historische Pflicht, aber auch eine erzählerische und ästhetische Herausforderung der besonderen Art bleibt. Wir wissen: Primo Levi (1919–1987) gehört zu jenen Schriftstellern, die direkt zu Zeugen des «grössten Verbrechens in der Geschichte der Menschheit» wurden. Er war einer jener Überlebenden, die in den Nachkriegsjahren die Kraft fanden, die Geschehnisse der Zeit der Shoah aus eigenen Erlebnissen und Erinnerungen, aus Erzählungen von Mitgefangenen und aus nachträglich erscheinenden zeitgeschichtlichen Dokumentationen ins Bewusstsein von uns Nachgeborenen zu bringen. Es ist jene Welt, die wir verkürzt als «die Hölle von Auschwitz» bezeichnen. Primo Levis erste Bücher Ist das ein Mensch? (1947) und Atempause (1963) sind zwar das, was man im weitesten Sinn als Erinnerungsschriften aus der Lagerzeit und aus der Fluchtzeit durch das kriegszerstörte Europa nennt. Es sind aber auch Bücher darüber, wie ein naturwissenschaftlich orientierter Chemiker im Erinnerungsvorgang sich zu einem begnadeten Erzähler entwickelt. Von Umberto Eco stammt die Aussage, er halte Primo Levi für «einen der bedeutendsten italienischen Schriftsteller», wofür jedes unter den von ihm im Laufe seines Lebens geschriebenen Büchern – ein gutes Dutzend davon hat er uns als Erzähler hinterlassen – der hinreichende Beweis ist.
Barbara Kleiner hat neben anderen Büchern dieses Autors auch den letzten «Roman» von Primo Levi übersetzt, mit dem Titel Se non ora, quando? (1982). In der deutschen Fassung lautet das 1986 im Hanser Verlag publizierte Buch Wann, wenn nicht jetzt? Es ist ein Buch, in welchem auf unnachahmliche «Primo-Levi-Art» Quellenforschung und Fiktion ineinander verschmelzen. Erzählhintergrund ist die Flucht einer Gruppe von jüdischen aus Russland und Polen stammenden Partisanen durch das von deutschen Nationalsozialisten und russischen Truppen besetzte Osteuropa. Sie beginnt in Weissrussland und führt durch Polen, Deutschland und Österreich im Zeitraum von Juli 1943 bis August 1945 über Verona bis nach Mailand. Primo Levi war ein italienisch assimilierter Jude, für den das aschkenasisch geprägte Ostjudentum zunächst eine mental und sprachlich ziemlich fremdliegende Welt war. Sein Buch beruht auf Berichten real-existierender Zeitzeugen, die er allerdings mit Hilfe historischer Forschung in erzählerischer Freiheit in einen «Roman» verwandelte. Es bleibt ein Zeugenschaft ablegendes Buch über eine Schicksalsgemeinschaft von Partisanen, die nach den kriegsbedingten Erfahrungen des Grauens, des Hungers, der Kälte, der Lager und des nahen Todes sich auf den Weg ins gelobte Land der Zukunft macht, wo immer dieses liegen mag. Was so entsteht, ist ein Erzählkunstwerk, in dem historische Glaubwürdigkeit, moralische Legitimität und künstlerische Autorität so vollkommen amalgamieren, dass traumatische Erinnerungsarbeit sich von Seite zu Seite in empathische Beobachtung verwandelt. Diese ist ebenso von Beteiligungsnähe wie von ironisch-philosophischer Weisheit, ja von jüdischem Humor imprägniert. Wäre die Zeit eines Laudators nicht so rigoros beschränkt, würde ich jetzt zu einer langen Lobrede auf eine der zentralen Figuren dieses Romans ausholen, auf den Uhrmacher Mendel, in dessen Handeln und Denken Primo Levi so viel hat einfliessen lassen von dem, was wir als eine der grossen Kulturleistungen des von Hitler und seinen Schergen zum Verschwinden gebrachten Ostjudentums ansehen: die Sehnsucht, das Wissen und das Ringen um das höchste aller Güter auf Erden, das da heisst: Am Leben sein!
Die Entdeckung dieses wunderbaren Mendel aus dem Schtetl Strelka, gleichzeitig ein moderner Hiob wie ein in der Uhrmacherkunst bewanderter Mechaniker von Erinnerungen, muss ich Ihnen überlassen, sehr geehrte Damen und Herren. Sie sollten das Jahr nicht vorbeirauschen lassen, ohne mit diesem Mendel aus Se non ora, quando? Bekanntschaft gemacht zu haben. Auch da gilt doch: «Wann, wenn nicht jetzt?»
Europäisch gedachte und erlebte «Italianità»: das kann für uns heute in Europa Lebenden nicht bedeuten: Maffia, Berlusconi und Salvini. Es kann und darf nur heissen: Nievo, Svevo und Primo Levi, ergänzt um die Namen aller Künstlerinnen und Künstler, die schreibend, bildschaffend und musikalisch unterwegs waren und sind, um die Grösse, die Bedeutung, ja die Einzigartigkeit der italienisch geprägten mediterranen Kultur in unser Bewusstsein zu heben.
Verehrte, liebe Barbara Kleiner: Sie haben wahrhaftig das Ihnen Mögliche dafür getan. Meine Bewunderung für diese Lebensleistung.

 

Iso Carmartin XXX

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