(Dies ist die ungekürzte Fassung der Preisrede, die in Übersetzen Heft 01/2017 in Auszügen abgedruckt ist.)
In Indien bestellte einmal ein europäischer Tourist eine Cola und bekam stattdessen eine Fanta serviert. Als er auf den Irrtum aufmerksam machte, bekam er die beschwichtigende Antwort: Same, same. Same — but different!
Ist das nicht eine schöne Definition der Übersetzung?
Andere haben für ihre Definitionen und Kommentare weiter ausgeholt, ja, man kann sagen, dass das Übersetzen metaphorisch und theoretisch bereits einigermaßen überstrapaziert ist. Seit das Ufer, an das wir übersetzen, keines mit Schilf oder Kieseln mehr ist, sondern eins aus Buchstaben, haben sich schon etliche Denk- und Verbildlichungsfreudige daran abgearbeitet. Manche, angefangen mit Proust, gehen so weit zu behaupten, dass man auch dann übersetzt, wenn man gerade nicht übersetzt, wenn man also gar keine Sätze oder Verse schwarz auf weiß vor sich stehen hat, sondern etwas von innen nach außen befördern, zu etwas Geschriebenem machen will. Bald wird jedes Befördern von einem Element ins andere Übersetzung genannt, was nicht weiter verwundert, ist doch die Metapher selbst nichts anderes als eine Übertragung oder Übersetzung. Sie beruht auf der Ähnlichkeit zwischen dem wörtlich Bezeichneten und dem im übertragenen Sinne Gemeinten, wie die Übersetzung auf der Ähnlichkeit zwischen dem in den verschiedenen Sprachen Gemeinten beruht.
Wer die Metapher des Fährmanns oder Transporteurs weiter überdehnt, sprengt mit seiner erweiterten Definition des Übersetzerberufs die Grenzen eines Dachverbands und dessen, worüber man im Rahmen einer Dankesrede sprechen kann. Doch anders als metaphorisch scheint man dem Phänomen nicht gerecht werden zu können. Eines der eindrucksvollsten dieser Bilder stammt von Walter Benjamin, für den die Übersetzung nicht wie die Dichtung „gleichsam im innern Bergwald der Sprache selbst“ steht, „sondern außerhalb desselben“: „ihm gegenüber und ohne ihn zu betreten ruft sie das Original hinein“, und zwar „an demjenigen einzigen Orte, wo jeweils das Echo in der eigenen den Widerhall eines Werkes der fremden Sprache zu geben vermag“. Dieser Berg-, Wald- und Echometaphorik zufolge steht der Übersetzer an jenem einzig möglichen Ort — so er ihn denn gefunden hat — wie Kafkas Mann vom Lande vor dem Tor zum Gesetz. In weniger religiösen Zeiten wie der unseren mag es für den Übersetzer mehrere mögliche Standpunkte geben, von denen aus er in den Wald hineinrufen und auf ein Echo hoffen kann. Zwischendurch aber irrt er umher und sieht meistens den Wald vor lauter Bäumen nicht.
Was ist der Übersetzer bloß für ein seltsamer Wanderer? Gibt es ihn überhaupt, oder ist er selbst nur eine Metapher? Der Übersetzer ist einer, der in monate- und jahrelanger Kleinarbeit aus einer Metapher Wirklichkeit macht. Und nichts ist seltsamer als der Kontrast zwischen der Erhabenheit des einsam schweifenden Bergwanderers oder Fährmanns und der Akribie, dem zermürbenden Kopfzerbrechen, die diese Schreibtisch- und Gehäuse-Arbeit verlangt. Was reizt einen Menschen eigentlich an dieser mühsamen, undankbaren, immerfort die eigene Unzulänglichkeit zu Tage bringenden Tätigkeit?
Was mich am Übersetzen lockt und aus mir mitunter eine leidenschaftliche Übersetzerin macht, ist weder das Erahnen der vollkommenen Sprache, die Mallarmé zufolge hinter der Vielzahl der Sprachen aufscheint, noch der Wunsch, „den Samen reiner Sprache zur Reife zu bringen“, wie Benjamin es sich vorstellt, wie es aber die Entwicklung der Literatur in den letzten Jahrzehnten mit Werken, die etwa, wie bei Beckett, Bing oder Schluss jetzt, oder, wie bei George Perros, Luftschnappen war sein Beruf heißen, nicht gerade begünstigt hat. Was mich reizt, ist etwas anderes. Es ist die Vertiefung in die Rätsel eines Wortes, eines Syntagmas, eines Satzes, seiner Verknüpfung mit den ihn umgebenden Sätzen und seines Eingebettetseins in die sinnhafte Musik eines Buches. Statt mit einem großen Rätsel habe ich es mit sehr vielen kleinen zu tun, für die es aber eine Lösung gibt. Ich muss sie nur finden.
Übersetzen ist erholsam (für diesen Satz werden mich die Übersetzer lynchen; mit ein bisschen Glück habe ich gerade noch Zeit, diese Rede zu Ende zu bringen). Das Übersetzen ist ein Schreiben, bei dem keine weiße, sondern eine geschwärzte Seite vor mir liegt, anders gesagt: Das Übersetzen ist kein Schreiben. Ein freundlicher oder, je nachdem, auch ein gehässiger Mensch ist schon vor mir dagewesen und hat die Seite für mich beschrieben. Jetzt gilt es, in den Wirrwarr dieser Schrift und des Verfasserkopfes einzudringen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass ich für meine Arbeit länger brauche als mein Vorgänger auf dieser Seite. Trotzdem habe ich es leichter. Ich sitze nicht vor dem Nichts.
Stattdessen sitze ich z.B. vor einem Buch von Pierre Michon oder von Georges Perros und verstehe, was da geschrieben steht. Glaube es zumindest zu verstehen. Bis ich mit dem Übersetzen beginne. Dann erst merke ich, wie wenig ich begriffen hatte. Der Leser, auch der aufmerksame, fliegt über das Geschriebene hinweg und begnügt sich mit ein paar Anhaltspunkten, mit deren Hilfe er sich ein Ganzes zusammensetzt. Der Übersetzer wird von jeder Unschärfe und jeder offenen Frage wie am Hosenbein festgehalten. Indem er die Mehrdeutig- und Eigenwilligkeiten, die Rhythmen, Klangvorlieben und Obsessionen des Autors auslotet, lernt er ihn langsam kennen; am Ende weiß er mehr von ihm oder ihr als dessen Ehefrau oder Ehemann. Wenn er nicht aufpasst, geht er langsam in ihn über: Die Autoren sind Kannibalen und fressen gerne ihre Übersetzer. Wie soll auch das Übersetzen gelingen, so lange man stur auf seiner Persönlichkeit beharrt? Der Übersetzer ist in mancher Hinsicht vergleichbar mit einem Schauspieler, insofern er ein fremdes Werk verkörpert, ihm einen neuen Sprachkörper verleiht. Er muss dazu etwas von sich, wenn nicht aufgeben, so doch über befristete Zeit vernachlässigen. Ein dichterisches Werk ist seinem Verfasser nicht äußerlich; ohne seine besondere, unverwechselbare Art zu denken, zu fühlen, die Welt in sich aufzunehmen, wäre es nicht zustande gekommen. Und so kann der Übersetzer nicht anders, wenn seine Arbeit gelingen soll, als sich so weit wie möglich mit dem Autor vertraut zu machen, sich in ihn hineinzudenken und -zufühlen. Je nachdem, wie stark sein eigener Charakter ist, wird sich früher oder später etwas in ihm gegen diesen Fremden wehren, der ihm da sein Wesen aufzwingen will.
Es gab Momente, gar nicht so seltene, in denen ich Pierre Michon den Hals hätte umdrehen können. Nicht, dass ich ernsthaft an seiner dichterischen Bedeutung, an der Schönheit seiner Prosa gezweifelt hätte. Aber ich lag im täglichen Widerstreit mit seiner Theatralik, seinem nahezu ungebremsten Pathos, seinen mir fremden und, ja, leidigen Obsessionen, seinen sprachlichen Manien, die mir beim bloßen Lesen nicht weiter aufgefallen waren. Ich hätte eine kleine Liste von Wörtern anlegen können, die ich ihm hätte verbieten wollen, den Michon’schen Kernwortschatz umfassend. Was treiben eigentlich die Lektoren? Am Ende habe ich ihm nur einen Halbsatz ausreden können, der mir allzu sehr gegen den Strich ging. Hat er verstanden.
Nichts von all dem ist übertrieben; diesen Widerwillen habe ich verspürt. Vor allem aber war ich beim Übersetzen von Michons Hauptwerk „Vies minuscules“, das den deutschen Titel „Leben der kleinen Toten“ trägt, jeden Tag und auf jeder Seite in Versuchung, den Verlag anzurufen und zu sagen: „Ihr müsst einen anderen Übersetzer finden, dieses Buch überfordert mich, nehmt es zurück, tut mir leid.“ Warum ich trotz dieses ständigen Gefühls des Scheiterns immer weitergemacht habe, ist mir immer noch ein Rätsel. Irgendwann hatte ich mich jedenfalls durch dieses Wortdickicht gekämpft und sah wieder Licht. Ich war wie ein Boxer, der einen langen Kampf mit einem übermächtigen Gegner durchgehalten hat und am Ende ehrenhaft unterlegen ist. Ich ging an die Überarbeitung dieses Gemurkses. Ruhte mich aus.
Erst einige Zeit später erstand vor mir wie durch ein Wunder etwas, was zwar nicht ganz ohne mein Zutun, aber ohne mein Wissen zustande gekommen schien, und wovon ich nichts geahnt hatte. Für dieses Gelingen quand même, allem ersten Anschein zum Trotz, sollen hier die zwei letzten kurzen Sätze des Bandes bürgen, die noch einmal die kleinen Toten des Buches beschwören, und vor allem der letzte, dessen Rhythmus und nachklappendes Verb mir die Tränen in die Augen trieben, die das Michon’sche Pathos verlangt: „Möge in meinen erdachten Sommern ihr Winter zaudern. Mögen sie in dem geflügelten Konklave, das in Les Cards über den Ruinen des möglich Gewesenen schwebt, sein.“
Ich bedanke mich sehr herzlich für den Johann-Heinrich-Voß-Preis.
Anne Weber
Dankesworte zum Helmlé-Preis
Beim Übersetzen gibt es nur zwei Richtungen, wie auf der Autobahn, und die richtige ist die, in die alle fahren. Wer von seiner Muttersprache in Richtung Fremdsprache und also in die falsche Richtung unterwegs ist, ist eine Art harmloserer Geisterfahrer. Einen solchen haben Sie heute vor sich stehen; zu seinen Ehren sind Sie sogar zusammengekommen.
Ein Geisterfahrer: Warum tut ein Mensch so etwas? Aus Ahnungslosigkeit? Aus Trotz? Aus Überhebung? In meinem Fall lautet die Antwort: Weil es mir einmal jemand zugetraut hat. Und ich mich diesem Vertrauen würdig erweisen wollte. Der Mann, der mir, als ich kaum über fünfundzwanzig und noch keine zehn Jahre in Frankreich war, als erster eine Übersetzung — ins Französische — anvertraute, hieß Jean-Bernard Blandenier, er war lange Zeit Lektor bei Fayard und ist nun schon ebenso lange tot. Auf seinen, mir lieben und wichtigen Namen müssten jetzt eigentlich noch viele andere folgen, eine lange Liste von Danksagungen, zu der ich schon ausholen will, doch fallen mir gottlob noch rechtzeitig jene endlosen Dankesreden ein, die vom Großvater, der einem einst die griechischen Sagen vorlas, bis zum Korrekturleser niemanden übergehen wollen — und so sehe ich also von einer solchen Aufzählung lieber ab. Doch müsste ich mich schämen, wenn ich hier nicht öffentlich bekennen würde, wie viel Hilfe ein solcher Geisterfahrer zwischen den Sprachen, wie ich es bin, bedarf. Bevor ich meine Übersetzungen ins Französiche einem Verlag gab, habe ich von Anfang an Muttersprachler gebeten, sie vorher noch einmal zu lesen. Wer nicht wenigstens zweisprachig aufgewachsen ist, kann ohne einen solchen Blick von außen, der in diesem Fall ein Blick aus dem Inneren der Sprache ist, nicht auskommen. Den im Laufe der Jahre wechselnden anonymen Helfern also an dieser Stelle: un grand merci.
Eugen Helmlé ist unter anderem als der Übersetzer von Georges Pérec und Raymond Queneau bekannt, die, wie Sie wissen, als Mitglieder der Oulipo-Bewegung ihr Schreiben bestimmten formalen Zwängen unterwarfen, sich beispielsweise zur Vorgabe machten, ohne diesen oder jenen Buchstaben auszukommen. Auch das Übersetzen, behaupte ich, kann als ein solcher formaler Zwang angesehen werden: Man schreibe doch einmal einen Genazino-Roman und versuche, dabei ohne ein deutsches Wort auszukommen. Oder einen Michon’schon Prosa-Band unter gänzlichem Verzicht auf das Französische. Gar nicht so einfach, scheint mir. Vielleicht hätte ein solcher Gedanke dem Übersetzer Eugen Helmlé gefallen. Ich jedenfalls danke ihm, und, ja, ich gedenke seiner, ohne dessen Lebenswerk es diesen Preis nicht gäbe. Ich danke Ihnen, die Sie mich dieses Preises würdig fanden. Und da ich nicht nur Geisterfahrerin, sondern durchaus auch manchmal in die richtige Richtung unterwegs bin, betrachte ich es als nicht ganz ausgeschlossen, dass wir uns nächstes Jahr hier wiedersehen.