Voß-Preis an Wolfgang Schlüter

Wolfgang Schlüter, Foto privat

Voß-Preis an Wolfgang Schlüter

(Hier lesen Sie die ungekürzte Fassung der Laudatio von Iso Camartin, die in Übersetzen Heft 2/2018 in Auszügen abgedruckt ist, und dazu die Dankesrede von Wolfgang Schlüter anlässlich der Verleihung des Johann-Heinrich-Voß-Preises 2018.)

Laudatio von Iso Camartin

Lieber Wolfgang Schlüter, verehrte Damen und Herren,

Steilvorlagen gibt es nicht nur im Fußball, es gibt sie auch dort, wo es gilt, Bedingungen zu schaffen, unter denen das Verständnis eines Textes aus einer fremden Originalsprache in eine andere Zielsprache auf Anhieb gelingt. Beim Fußball ist eine Steilvorlage der Pass eines weit entfernten Mannschaftsspielers knapp vor das Tor, sodass ein richtig platzierter Mitspieler den Ball leicht zu einem Treffer verwandeln kann. Im Übersetzungsvorgang ist eine Steilvorlage der sprachliche Lösungsvorschlag, der im Kopf des Lesers unmittelbar zu einem „Volltreffer“ führt, das heißt: zu blitzartig einleuchtendem Verständnis eines bis anhin dunklen Zusammenhangs. Die meisten Übersetzer sind Spezialisten in der präzisen Ablieferung von Querpässen. Da muss der Ball gestoppt werden, bevor er ins Ziel weitergeleitet werden kann. Für den Lesenden bedeutet dieser Richtungswechsel so etwas wie ein Innehalten, ja eine notwendige Zwischenschaltung der eigenen Reflexion. In Glücksfällen aber muss der Ball – oder der Sinn eines Wortes oder eines Satzes – gar nicht gestoppt oder gewendet werden, sondern kann ohne großen Richtungswechsel weiter rollen und ins Ziel geschossen werden. Auch im Übersetzungsgeschäft ist es ein Glücksfall, wenn der oder die dafür Verantwortliche Steilvorlagen für das Textverständnis zu liefern vermag. Bei Wolfgang Schlüter haben wir es in dieser Kunst mit einem der großen heutigen Meister zu tun, wo es darum geht, Texte aus dem Englischen ins Deutsche zu wenden.

Um dies in den wenigen für eine Laudatio eingeräumten Minuten zu belegen, müssen Sie, verehrte Anwesende, mir die Freiheit einräumen, aufgrund nur weniger Beispiele, die ich als Leser für „Volltreffer“ halte, den Beweis für Schlüters sprachliche Kunst anzutreten. Das ist im Hinblick auf die gewaltigen literarischen Unternehmungen von Wolfgang Schlüter natürlich völlig unzureichend, ganz abgesehen davon, dass wir es bei ihm ja auch mit einem Autor, Erzähler und Essayisten zu tun haben, der ein Sprachschöpfer und Sprachmagier von hohen Graden ist. Hier und heute stehen allerdings allein seine Verdienste als Übersetzer zur Diskussion. Ich hoffe, in meinen Ausführungen mit Ihnen – um in der Fußballsprache zu bleiben – kein „Dribbling“ zu veranstalten, das heißt, dass ich Sie mit meinen „Bällen“ nicht nur hinhalte und „müde spiele“, sondern Ihre Neugierde für sprachliche Volltreffer in der Kunst des Übersetzens wecke.

Was ein „poeta doctus“ ist, brauche ich hier nicht zu klären. Das wissen die Mitglieder einer Akademie für Sprache und Dichtung, da sich in ihren Reihen mit Gewissheit solche befinden, auf welche diese Bezeichnung ziemlich genau zutrifft. Solche Autoren wissen nicht nur, auf welchen Schultern sie stehen, denn sie haben alles gelesen, was zu ihrem Interessensfeld gehört. Sie bewegen sich „im weltweiten Luftraum der Menschheitsdichtung“, wie Durs Grünbein es einmal ausdrückt. Nie sind sie nur Barde, nur Sänger, nur Träumer. Das, was sie uns mitteilen, hat bei aller Gegenwartsdringlichkeit immer einen geradezu archäologischen Hintergrund, weist Sedimentschichten fremder Herkunft auf, ist beflügelt von einem Bemühen, längst verklungene Stimmen mitschwingen zu lassen und alte verloschene Bilder geheimnisvoll neu zum Leuchten zu bringen. Ein „poeta doctus“ wirbt nie allein in eigener Sache. Er oder sie haben das Anliegen, Verlorenes, Vergessenes, Verschüttetes, Verblichenes, ja das kaum mehr Fühlbare gleichsam mit neuer Sehnsuchtsenergie auszustatten, sodass der Eindruck entsteht, Schreiben sei eine Rettungsaktion für längst verklungene Stimmen, die es neu zu entdecken gelte. Unter den gelehrten Dichtern gibt es solche, die ihre Vorgänger und Vorsänger sogar erfunden haben, um diesen in kunstvoller Manier nachsingen zu können. Darum sind solche Autoren in erster Linie große Spielstrategen, deren innigstes Anliegen es ist, die Leserschaft auf eine Zeitreise zu schicken. So gewinnt ihre Sprachmusik neben ihrer aktuellen Lautdimension einen historischen Echo-Raum, in welchem Klänge längst vergangener Epochen in rhythmischer und phonischer Gestalt an unser Ohr gelangen. Für den „poeta doctus“ gehört es zu seinem Spielprinzip, Restbestände poetischer und ästhetischer Praktiken vergangener Zeiten in den eigenen Sprachspielen mit zu verwerten. Und wir, die Lesenden, lernwillig, ja lerngierig, „concupiscentes rerum novarum“, sind für diese rettenden Rückgriffe ins historische Arsenal der Poetologie, mehr als nur dankbar.

Wer nun wissen möchte, was ein „translator doctus“ ist, braucht nur die Nachworte, Anmerkungen, Kommentare, Interpretationen und Begleitessays zu lesen, mit denen Wolfgang Schlüter seine Übersetzungen angereichert hat, und er ist voll im Bild. Ich beschränke mich hier auf drei Bücher: 1.) Christopher Marlow, Sämtliche Dramen. 2.) Die Anthologie englischer Gedichte My second self / When I Am Gone. 3.) Schlüters neue Übersetzung von Emily Brontë’s Wuthering Heights- Sturmhöhe.

„Durchdringend Denken muss nach Scharfsinn schürfen / und für die Zukunft planen mit Gerissenheit“ – so übersetzt Schlüter Marlowes zwei Zeilen aus The Jew of Malta. Im Original lauten diese: „A reaching thought will search his deepest wits, / And cast with cunning for the time to come.” Durchdringendes Denken, Scharfsinn, ja Gerissenheit – das ist es offenbar, was nicht nur den erfolgreichen Handelsmann des 16. Jahrhunderts auszeichnet, sondern ebenso die kühnsten Abenteurer unter den Übersetzern von heute. Was ein Übersetzer zu bedenken hat, ist viel, wenn er sich die Frage stellt: Wer spricht hier zu wem, und: wie tut er dies? Haben wir einen Theater-Text aus dem 16. Jahrhundert – also der Spätrenaissance – wird die Lösung anders ausfallen, als wenn es sich um einen Roman aus der Mitte des 19. Jahrhunderts handelt. Wie sprach die Dienerschaft der Shakespeare-Zeit? Wohl mit regionalen und dialektalen Einfärbungen, die für die Unterschicht typisch sind? Wie rettet man sozial differenzierte sprachliche Redeweisen von damals für die Theaterbesucher und für die Leser von heute? Setzt man auf fließende Eleganz und sprachliche Geschmeidigkeit? Oder doch eher auf überraschende Abweichungen vom vertrauten Sprachgebrauch, ohne vor Stilbrüchen zurückzuschrecken. Der Übersetzer ist bei einem Theaterstück der erste Regisseur und Inszenator. Er gibt für die Ohren der Zuschauer den Ton an und entscheidet, ob sie sich in der Vergangenheit oder in der Gegenwart befinden. Er entscheidet, wieviel Eleganz und Verspieltheit, wieviel Verwunderung und Schockpotential, welche Manierismen und welche Modernismen er den präzise ausgehorchten Original-Figuren in den Mund legt. Schlüter sagt an einer Stelle, übersetzen sei eine physiognomische Unternehmung. Die Figuren erhalten im dramatischen Verlauf erst ihr Sprachgesicht. Wie ein Bettelmönch, ein Söldner, eine Magd des 16. Jahrhunderts heute zu uns sprechen soll, ist im Original nicht mit Eindeutigkeit festgeschrieben. Kann dies gar nicht sein. Hier nun ist der Genius des Übersetzers gefordert, der für historische Rüpelhaftigkeit, Unbeholfenheit, Treuherzigkeit, Naivität und Anpassungsschlauheit jene Sprache der Gegenwart finden muss, die bei uns Lesern den Anreiz der Faszination so gut wie jenen der subkutanen Irritation auslöst. Bei allen Überschreitungswagnissen konventioneller Diktion gilt es für den Übersetzer, in der Deutlichkeit seiner Sprache die Zwei- und Mehrdeutigkeit der Charaktere zu wahren. Die Rauheit darf die Glätte und die Unterwürfigkeit nicht auslöschen, die Frische und Unbekümmertheit einer Person nicht die berechnende Absicht und die Hinterlist. Wenn man die Marlowe-Stücke in Schlüters Übersetzungen liest, darf man wirklich sagen, dass in der sprachlichen Typisierung dieser historischen Figuren ihm grandiose Aktualisierungs-Kunststücke gelungen sind.

Bei dramatischen Texten kommt es insbesondere auf szenische Wirkung an, und so werden die dafür mobilisierbaren Sprachregister eingesetzt. Bei der Übersetzung von Lyrik metrische und phonische, aber auch gattungsbedingte strophisch-formale Überlegungen die zentrale Rolle. Schlüters bereits genannte Anthologie englischer Gedichte, in jahrzehntelanger Feil- und Feinarbeit entstanden, ist für jene, die das Handwerk und die Herausforderungen des Übersetzens in ihren weitesten Dimensionen begreifen wollen, so etwas wie Bachs Das wohltemperierte Klavier für Musiker und Pianisten. Wir sind hier an einem Ort der Entscheidung. Was ziehen wir vor: Eine Edition, die uns als Eselsbrücke zum Original eine möglichst prosaische, litterale, von Wort-zu-Wort progredierende, primär inhaltlich orientierte Nacherzählung des Gedichtes bietet, oder aber – das wäre das andere Extrem – eine zwar regelkonforme, aber doch freie Nachdichtung des Ursprungsgedichtes in der Zielsprache? Da kommt es nun sehr darauf an, was man unter „regelkonform“ und „frei“ versteht. Der Übersetzer hat hier zu entscheiden, ob er die „Fremdheit“ des Originals eher aufhebt oder markiert. Er horcht bis in die metrischen Keimzellen des Gedichtes alles aus, fragt sich, ob Aktualisierungen oder eigene Idiosynkrasien eher förderlich oder für die Wahrnehmung der Gedicht-Intention hinderlich sind. Er muss auch entscheiden, wie er mit „historischen Distanzen“ umgehen will. Wieviel Freiheitsdrang ist ihm eingeräumt, wie sehr bindet ihn die Aussage- und die Formintention des Originaldichters? Muss er vielleicht sogar Aktualisierungen vermeiden? Seine Lust an der Travestie oder an der Karikatur bändigen? Muss er sich unterordnen – oder findet er im Gedicht sogar die Lizenz, dass er sich aufspielen und austoben darf? Wie schafft er es, durch gestaltendes Eingreifen die dem Gedicht eingeschriebenen Störelemente und Widersprüche zum Leuchten zu bringen? Fragen über Fragen, auf die der Übersetzer eine Antwort finden muss.

Wer konkret erleben will, mit welchen Gedanken ein „translator doctus“ hadert, wenn er lyrische Zeilen aus fernen Zeiten übersetzt, lese den Essay, den Schlüter illustrierend zum Eingangsvierzeiler seiner Anthologie verfasst hat. Ein anonymes Gedicht aus dem frühen 13. Jahrhundert, das im Original folgendermaßen lautet:

Now goth sonne under wod:
Me reweth, Marye, thy faire rode.
Now goth sonne under Tre:
Me reweth, Marye, thy sone and thee.

Nach der Erwägung geradezu aller denkbaren Möglichkeiten, die sich für jedes einzelne Wort im Kontext des Gedichtes ergeben, kommt Schlüter zu folgender – für mich absolut ergreifender, rhythmisch beschwingter Lösung:

Die Sonne geht nun unter hinterm Marterholz.
Dein holdes Antlitz dauert mich, Maria.
Nun neigt die Sonn sich unters Holz der Pein:
Mich barmt des Sohnes, barmt, Maria, dein.

Hier entsteht aus einem fernstliegenden, inhaltlich nur schwer noch nachvollziehbaren Meditations-, vielleicht sogar Beschwörungsgedicht litterar-religiöser Provenienz etwas – vielleicht ist es ja sogar ein Gebet –, das für uns Leser uns 21. Jahrhundert nicht nur nachvollziehbar ist, sondern zu einer „Gedichtikone“ der Lebenszeit des Lesers werden kann. Hier gibt es an keinem einzelnen Vers oder Wort noch etwas zu rütteln und zu ändern. Das ist ein Beispiel für die in Stein gemeißelte Gültigkeit, die Übersetzungen in Ausnahmefällen, im Glücksfall also, erreichen.

Schließlich noch wenige Worte zu Schlüters Übersetzung von Emily Brontë’s Roman. Was der Übersetzer hier an Annäherungsinsistenz, an Auskultationsenergie, an psychoanalytischer Tiefenbohrung und an charakterologischer Scharfkonturierung an den Tag legt, ist schlicht atemberaubend. Manche Geschichten wollen wir gleichsam im Vorraum unseres eigenen Seelenhaushaltes behalten. Wir lesen sie als Außenbeobachter. Die historische Distanz kommt uns da sehr gelegen, das Abgründige, Dämonische, ja beinah Unerträgliche wollen wir im Grusel- oder Raritätenkabinett vergangener Epochen versorgt wissen. Wir lassen es nicht an uns heran, halten es für Fremderfahrung und exotische Unterhaltung. Und dann passiert es! Auf einmal sind die Romanfiguren unsere Zeitgenossen. Wir zittern mit, wenn es „schroff, aggressiv, obszön“ wird. Die Tugenden und die Laster der Romanfiguren werden zu jenen des Lesers affin. Der Geiz, die Geilheit, die Geltungssucht der Protagonisten haben auf einmal ihren Sitz im Leben im Affekthaushalt des Lesers. Der dunkle Trieb, der die Figuren anleitet, ist plötzlich weit weniger dunkel, weil er ein Echo auslöst im Gefühlsleben der Leser. Die Moorlandschaft von Yorkshire, in welcher die Seelendramen der Figuren sich abspielen, wird auf einmal zur austauschbaren Kulisse für die Fäulniszonen und Grabschächte der eigenen Triebe und des eigenen Begehrens. Lesen ist gefährlich! Man verwickelt sich ungewollt in fremde Schicksale, die sich als listige Fallgruben erweisen für Eingeständnisse bisher unentdeckter eigener Neigungen oder Anlagen.

Ich hatte diesen Roman vor Jahren gelesen. Es war für mich eine Informationsquelle über das Leben der englischen Provinzbewohner in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In der Übersetzung von Wolfgang Schlüter sind die Protagonisten aber keine stellvertretenden Komparsen mehr für soziale Schichtung und Entwicklungsprozesse der englischen Gesellschaft. Sie werden zu interferierenden Agenten, zu grotesken Karikaturen eigener Aspirationen, zu spiegelbildlichen Begleitfiguren eigener Ansprüche, eigener Verkrüppelungen, aber auch eigener Träume und Hoffnungen. Wie man beim Leser erreicht, dass die Geschichte ihm derart unter die Haut geht und in seinen Geheimkammern für Wirbel und Erregung sorgt: dies ist es wohl, was man als den Zauberstab bezeichnet, mit welchem ein Übersetzer – in welcher Sprache der Welt auch immer – einem Theaterstück, einem Gedicht, einem Roman neues Leben einhaucht.

In einer Fußnote des Nachworts, welches Schlüter zu seiner Übersetzung des Brontë-Romans verfasst hat, bezeichnet er den Text als ein „haunted house“ – ein Spuk- oder Geisterhaus. Dem Leser, dem Übersetzer, dem Interpreten eines Textes bleibe es aufgetragen, ein Schließer – gemeint: ein Aufschließer und Schlossöffner zu sein, mhd. Slûter, nhd. Schlüter. Wir können nur hoffen, dass dieser Schlüter uns noch viele Texte „erschlütert“, zu denen der Zugang bisher noch verschlossen oder nur unbefriedigend erschlossen ist.

Die «Maloche» des Übersetzens bleibt weiterhin eine schweisstreibende Angelegenheit, gerade wenn die Übersetzer nicht als Sklaven, sondern als gelehrte Rebellen sich an die Arbeit am Original machen. Bei dem hier zu feiernden Rebellen ist besonders sympathisch, dass er ein von Musik vollkommen durchpulster Mensch ist. In seinen Überlegungen zur Arbeit der Übersetzer greift er immer wieder zu musikalischen Analogien, zumal aus der Welt der Oper, um Parallelvorgänge im literarischen Geschehen zu beleuchten. In seinen eigenen Übersetzungen ist er – jedenfalls für meine Ohren – in allererster Instanz musikbeflügelt. Schwer auszumachen, welche der neun Musen bei ihm den Reigen der Töchter der Mnemosyne anführt. Ganz sicher treten sie alle gelegentlich in seine Dienste und flüstern ihm rhythmische, klangliche, dramatische, epische, lyrische, heute die Tragik, morgen die Komik befördernde Lösungen ein, die uns allesamt zum Staunen bringen. Wie sollte Wolfgang Schlüter, dieser Magier der sprachlichen Verwandlungskunst, nicht endlich auch den Johann-Heinrich-Voß-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung zugesprochen bekommen? Herzliche Gratulation, lieber Wolfgang Schlüter.

 

Dankesrede von Wolfgang Schlüter

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren –

In Diderots „Le neveu de Rameau“, von Goethe übersetzt, lesen wir in schöner Klarheit – und noch schönerer Zweideutigkeit: Die Dankbarkeit ist eine Last, und jede Last will abgeschüttelt sein. Aber hörte der, der seine Bürde abschüttelt, dann nicht auf, dank-bar zu sein? Und wäre, wenn er aufhörte dankbar zu sein, dann eigentlich nie wirklich dankbar gewesen? Und reichen die fünfzehn Minuten, die Sie mir zugestehen, überhaupt aus, um vor Ihnen ein Gepäck abzusetzen, in dem aufrichtiger Dank für die Ehre, die die Darmstädter Akademie mir erweist, mit großer Freude und ebenso großem Erstaunen sich zu einem insgesamt schwer zu entwirrenden ponderosen Bündel verschnürt hat?

Dieses Erstaunen, das sich in meine Freude flocht, als ich Ihre Nachricht erhielt, rührt daher, daß ich stets schon, seit ich mich als Autor, Übersetzer und Musikhistoriker mit dem 18. Jahrhundert abgab, die Hoffnung hegte, eines fernen Tages im Zeichen des geliebten Säkulums eine öffentliche Anerkennung für meine Übertragungen zu erhalten – ob im Namen Vossens oder Wielands, Lessings oder Herders: darauf sollte es dann, so meinte ich großzügig, nicht ankommen – ja, auch einen Klopstock-, Gellert-, Gleim-, Gottsched- oder Picander-Preis hätte ich nicht verschmäht. Aber als dies nach 39 Jahren Arbeit und zwei Dutzend Buchveröffentlichungen noch immer nicht geschehen war – da sagte ich der Hoffnung Valet und beschloß nach Fertigstellung der Brontëschen Sturmhöhe – vor zwei Jahren war das –, das undankbare Gewerbe des Übersetzens, das mir zuletzt mehr Angriffe als Anerkennung eingetragen hatte, aufzugeben und künftig nur noch solche Bücher zu schreiben, die sich nicht mehr vor der Autorität eines Ausgangstextes und der nicht ganz so großen Autorität meiner Rezensenten, sondern allein vor der Lösung einer selbstgesetzten Aufgabe würden verantworten müssen. Doch wie zum Einspruch gegen solchen Kleinmut beschämen Sie mich nun mit Ihrem großen Preis, und so sehr mich dieser freut und ehrt, so verwundert darf ich, wenn Sie gestatten, über Fortunens Launen mir die Augen reiben.

Dies zur Verwunderung – nun zur Ehre. Als eine solche empfinde ich, daß der Name Vossens, vertraut seit jenen Griechisch-Stunden, da das Goldmann-TB mit seinen Odyssee-Hexametern griffbereit auf der Schulbank lag, jetzt sein Licht werfen darf auf Autoren, die ich übersetzt habe. Zum Beispiel auf James Thomsons Jahreszeiten, die ich im Geiste Haydns übertrug nicht nur so, daß ich alle Passagen, die van Swieten für sein Libretto erkennbar wörtlich – einschließlich der vorangestellten Genitive – aus den Seasons übersetzt hat, meinerseits wörtlich (kursiviert) in den deutschen Zieltext einbaute, sondern auch dergestalt, daß der musikalische Topos des Pastorals mir eingab, dort, wo sommerliche Land-Idyllen im Text sich ausbreiten wie Lichtungen in einem buschigten Hain, die fünfhebigen Pentameter Thomsons zu Vossischen Hexametern zu erweitern, um im Deutschen das Blankverskorsett an solchen Stellen zu lockern, das Versmaß im punktierten 6/8-„Siciliano“-Rhythmus ausschwingen zu lassen und mit diesen wiegenden Schritten etwas von der besonnten Seeligkeit zu erfassen, die der locus amœnus im Betrachter, Leser oder Hörer weckt.

Die erste Idylle von Vossens Luise erschien 1784 im Hamburger Musenalmanach, die dritte im Teutschen Merkur desselben Jahres, und annähernd gleichzeitig begann William Cowper mit der Dichtung seines Blankvers-Lehrgedichts The Task, dessen 6 Volumes ich erstmals vollständig ins Deutsche brachte. Cowper selbst war ja auch Übersetzer; die Odyssee und die Ilias übertrug er in sein geliebtes Englisch zum einen, weil er an der „oily smoothness“ Alexander Popes (dessen Homer-Translation so erfolgreich war, daß sie ihrem Verfasser eine Villa in Twickenham eintrug) Anstoß nahm, dann aber auch, weil ein bedeutend Vorgegebenes ihm die sinnhafte Ordnung, jenen Halt oder Rahmen geben sollte, dessen er in seiner mental illness, die in Wirklichkeit eine schwere Depression war, bedurfte.

Es hat mit unserem Tun ja eine seltsame Bewandtnis. Philanthropische Gesittung möchte ihm einen edlen Zweck zuweisen, ein christophorisches Ethos aus Dienstbarkeit, Völkerverständigung, Kulturvermittlung, Uneigennützigkeit – und da muß es sonderbar sich anhören, wenn einer dagegenhält und sein Übersetzen (oder das seiner Brüder in Apoll) als ganz und gar private Obsession kennzeichnet, eine gefräßig usurpatorische, fast schon übergriffige Anverwandlung oder Einverleibung, nur eine von vielen möglichen Varianten eigenen Schreibens, integrales Moment künstlerischer Egozentrik, die sich ihre Stoffe mal im persönlichen Erleben oder Erfahren, mal in der Literatur anderer Autoren sucht.

Mein Antrieb zu diesem Tun hatte zweierlei Triebfedern, die sich subsumieren lassen unter den schnöden Begriff Kompensation: Ersatz für Verlorenes, für die vermißte Ferne der Britischen Inseln, die geliebte Wahlheimat, die im weniger geliebten Deutschland nicht anders zu restituieren war als durch Evokation und Anverwandlung ihrer Sprache; und gut entsinne ich mich jenes Märzabends im Jahr 1977, da alles begann, auf der Fähre von Harwich nach Hamburg, als der Blick traurig durchs Heckfenster auf die hinter den Horizont sinkende Küstenlinie der Grafschaft Essex fiel und ich auf dem Tisch der Cafeteria Papier, Stifte, einen Langenscheidt und die Voyage of St. Brendan ausbreitete, um mit der Einverleibung dieser mittelalterlichen irischen Legende mich selbst einzuschließen in ein bergendes Gehäuse, die Schwermut aufzuhellen und die Sehnsucht zu objektivieren. Heimweh war Fernweh, und wenn ich übersetzte, war ich zu Hause.

Hinzu kam ein weiterer Ersatz: nämlich für jenes praktische Musizieren, das ich nie erlernt habe. Mit diesem gemein hat das Übersetzen die Auslegung einer Textur und ihre nachschöpferische Transformation, und wie jenes bedarf es eines Sinnes für Rhythmus und Metrum, Rhetorik und syntaktisches Gefälle, Akzentuierung, Phrasierung, Periodizität und Klang. Wie der Regisseur auf der Bühne ein Stück inszeniert, unterscheidet sich im interpretatorischen Gestus nicht wesentlich von der Sprachinszenierung des Dramenüber-setzers auf dem Papier, und die Deutung des Musikers entziffert den Sinn der Notenschrift ebenso individuiert, wie die Auslegung des Translators die Idee der zu entschlüsselnden Sprachtextur ins sinnliche Scheinen überführt. Insofern sollte nicht überraschen, daß ich mir Vorbilder für mein Tun weniger unter Dichtern, Schriftstellern, Literaten als vielmehr unter Musikern suchte, unter Quer- und Sturköpfen wie etwa Nikolaus Harnoncourt, der jahrzehntelang mit Kritikern sich abplagte, die nie verstanden, daß sein quellenkundliches Verfahren nicht auf sog. „Authentizität“ oder Historisierung, sondern allein auf eine zwar vom historischen Werk-Kontext vermittelte, aber gleichwohl persönliche, den eigenen ästhetischen Prämissen gehorchende Wahrheit zielte – die, wie er stets wieder betonte, andere Wahrheiten nicht pauschal ausschloß! Der Vorwurf des Andersmachenwollens-um-jeden-Preis scholl ihm, der die „oily smoothness“ seiner Kollegen so perhorreszierte wie einst Cowper diejenige Popes, aus der Presse so oft entgegen wie mir aus dem Feuilleton der Tadel des Manierismus – und das, obwohl der große Mann besagte Prämissen ein ums andere Mal in Büchern und Vorträgen und ich die meinigen immer wieder in Essays und Nachworten, die all meine Übertragungen begleiten, ausbreitete, in extenso et ad nause am – aber cui bono, wenn sie von den Rezensenten nicht zur Kenntnis genommen, nicht debattiert werden?

Daraus mag sich auch erklären, warum ich den Auftragsübersetzungen, den Geldarbeiten, die ich abgeliefert habe, nicht den Rang oder die Qualität zuerkennen kann, die ich meinen frei gewählten Arbeiten beimesse. Mühe gegeben habe ich mir mit allen – doch Anerkennung verdienen in meinen Augen nur die Bücher, die zunächst ohne Vertrag, ohne Verlag, ohne Commission begonnen wurden und nach ihrer Abfassung noch über Jahre hinweg sich nicht sicher sein konnten, ob sie je irgendwo in Druck kommen würden. Summa summarum behaupte ich, daß mich diese Arbeiten selber weniger Zeit, Mühe, Geld und Nerven kosteten als das Argumentieren und Werben um ihre Publikation, das Antechambrieren bei Verlagen, die (ganze Aktenordner füllende) Korrespondenz mit Lektoraten, das bisweilen jahrelange Warten, Hingehalten- und Vertröstetwerden – und schließlich der Umgang mit dem Bescheid, das Werk passe leider nicht ins Programm, sei zu entlegen, zu speziell, zu schwierig, sei absehbar unverkäuflich – eine Prognose, die nicht einmal irrig war, wenn Sie bedenken, daß meine Übersetzungen, so sie denn doch erschienen, hernach wie Blei in den Regalen lagen und dazu beitrugen, daß Verlage wie Gatza, Galrev, Engeler oder Eichborn Konkurs anmelden mußten – mit dem Effect, daß von all meinen Übertragungen jetzt nur noch drei im Buchhandel erhältlich sind und der ganze Rest, sofern nicht schon eingestampft oder verramscht, ein Schattendasein führt im Antiquariatshandel.

Und so einem erfolglosen, defizitären Translator verleihen Sie den größten Preis, den Deutschland zu vergeben hat? Merkwürd’ger Fall! – zumal, wenn ich Sie auf den gröbsten Patzer aufmerksam mache, der mir in Cowpers Task unterlaufen ist. Dort findet sich im „argument“, also in der Aufreihung seines Gedankenganges, bezogen auf das häusliche Interieur, das er schildert, die Wendung: „a brown study“. Überschrieben wird mit diesem Titel eine Passage, welche die abendlichen Rêverien des Autors vor den Flammen seines flackernden Kaminfeuers malt, in Blankversen, so suggestiv, daß sie offenbar ähnlich träumerisch den Übersetzer ergriffen und ihm Erinnerungen entlockten an jene Landsitze, die er seinerzeit mit eigenen Augen in den Grafschaften Clare, Wiltshire und Norfolk gesehen: Georgian country homes mit dem Interieur ihrer dining rooms, drawing rooms, libraries, kitchens und bedrooms, eine Reihung innerer Bilder, der dann auch the study nicht fehlen durfte, also das Herren- oder Arbeitszimmer im warmen Braun seiner Aktenschränke und Bücherregale, seiner Holztäfelung im Unterschied zur hellen Tapezierung der übrigen Räume. Und so gaben mir diese pitture interne vor meinem eigenen (alas! nur noch imaginierten) Kaminfeuer ohne warnendes Innehalten die Übersetzung „ein braunes Herrenzimmer“ ein – ja, lachen Sie nur! Es ist des Lernens ja kein Ende – ich hätte dem Automatismus, der Suggestivkraft des Assoziierens nicht trauen dürfen, statt dessen nur penibel nachzuschlagen brauchen, um herauszufinden, daß „brown“ (verwandt mit dem schottischen „Brownie“, einem „Gespenst“ oder „Nachtmahr“) auch „schwermütig, düster, moros“ heißen kann und die Übertragung folglich recte „eine Studie in Melancholie“ hätte lauten müssen. Als Fehler muß ich mir vorwerfen, damals noch nichts von jener Debatte zur Zeit Hogarths und Füsslis über die sei’s von Chronos zerstörerisch verhängte, sei’s artifiziell, etwa durch Tabakrauch („smoking the picture“) zu erzeugende Bräunung, Eindunkelung von Gemälden zum Zweck ihrer künstlichen Auratisierung gewußt zu haben, die in gewisser Weise meine eigenen antiquisierenden Verfahren zur Herstellung einer saturnischen Patina vorwegnahm.

Und mit Chronos haben sich meine 15 Minuten nun abgespult, so daß ich die Dankeslast jetzt wieder schultere, auf daß sie mir eine stete Mahnung sein möge, künftig noch genauer hinzuschauen, besser zu lesen – aber den Eigensinn dabei mir nie abmarkten zu lassen. Für Ihre Güte ein englisches thanks a million! und ein irisches go raibh míle maith agaibh!