Dankesrede zum Celan-Preis 2019

Annette Kopetzki, Foto Felix Gerhards © Deutscher Literaturfonds

Dankesrede zum Celan-Preis 2019

(Dies ist die ungekürzte Fassung der Dankesrede, die in Übersetzen Heft 01/2020 in Auszügen abgedruckt ist.)

Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste,

der Paul-Celan-Preis, dessen Trägerin zu sein, mich mit einem anhaltenden Glücksgefühl erfüllt, ist ein bedeutsames Zeichen der Wertschätzung unserer Übersetzungsarbeit. Er macht uns sichtbar, er holt die Übersetzung aus ihrer vermeintlich sekundären, defizitären, abgeleiteten Stellung heraus, indem er sie als eigenständige literarische Gattung behandelt und würdigt.

Gestatten Sie mir darum ein paar Gedanken zum Status der Übersetzung. Paul Celan hat in seiner Dankrede zum Büchner-Preis 1960 einen Satz gesagt, der mich im Studium elektrisierte – es war eine überschwängliche Zeit, ich wollte aus der Übersetzung eine Art Poetik des Originals machen. Der Satz fasziniert mich noch immer. Es geht um die poetischen Bilder. Celan bezeichnet sie als „das einmal, das immer wieder einmal und nur jetzt und nur hier Wahrgenommene und Wahrzunehmende“ Dann folgert er: „Und das Gedicht wäre somit der Ort, wo alle Tropen und Metaphern ad absurdum geführt werden wollen.“

Was mag das bedeuten? Wirklich sicher bin ich mir immer noch nicht, aber gerade darum ist dieser Satz so anregend für mich, vor allem beim Nachdenken über das Übersetzen, die Übersetzung. Und ich bitte Sie, mir eine Weile dabei zu folgen.

Beginnen wir beim Einfachen: der Verwandtschaft zwischen Metapher und Übersetzung: Das griechische Verb „metaphoréin“ bedeutet „von einem Ort zum anderen tragen“. Aristoteles definierte die Metapher als „Übertragung“. Ein Wort wird aus seinem gewohnten Kontext heraus in einen anderen, fremden übertragen. Mit dieser Verbindung stellt die Metapher eine neue Beziehung zwischen Verschiedenem her. Nichts anderes macht die Übersetzung, sie verbindet zwei einander fremde Sprachen und lässt dadurch etwas Neues entstehen. Das Wort oder die Wendung, mit dem die Metapher ihre Beziehung benennt, erschafft etwas, was es zuvor nicht gab. Es entsteht nur durch die metaphorische Namensgebung und lässt sich durch kein anderes Wort ersetzen. Um zu erklären, was eine Metapher bedeutet, gebrauchen wir wiederum Metaphern – und das gilt für konventionelle Metaphern wie „Lebensabend“ ebenso wie für innovative Metaphern wie „eine schüttelfrostige Schrift“ (Marasco). Denn die Metapher ist kein verkürzter Vergleich, in dem nur das „wie“ fehlt, in ihr verschmilzt das Verglichene zu einer neuen semantischen Einheit.

Wir übersetzen, um zu verstehen, Darum wurde „Übersetzung“ zur universalen Metapher für Verständigung und für die sprachliche Erkenntnis der Welt. Unsere Sprachen sind reich an lexikalisierten Metaphern. Im alltäglichen Sprachgebrauch aber würde niemand eine Metapher wörtlich nehmen. Dort übersetzen wir Metaphern, indem wir sie „paraphrasierend“ erklären – doch wir spüren dabei, dass wir den ganz besonderen Sinn des metaphorischen Ausdrucks nicht treffen. Hier liegt die Grenze der Metapher vom Verstehen als Übersetzen. Wittgenstein hat diese Grenze benannt:

„Wir reden vom Verstehen eines Satzes in dem Sinne, in welchem er durch einen anderen ersetzt werden kann (…) aber auch in dem Sinne, in welchem er durch keinen anderen ersetzt werden kann (so wenig wie ein musikalisches Thema durch ein anderes). Im ersten Fall ist der Gedanke des Satzes das, was verschiedenen Sätzen gemeinsam ist, im anderen etwas, was nur diese Worte, in diesen Stellungen ausdrücken (Verstehen eines Gedichts).“

Einen Text zu übersetzen, ist dem metaphorischen Prozess verwandt, bei dem etwas zum ersten Mal benannt wird. Durch die Übersetzung entsteht eine Beziehung zwischen zwei Texten, die neue Bedeutungen offenbart und neue Deutungen möglich macht. Diese Beziehung entsteht nur durch die Übersetzung und lässt sich ebenso wenig paraphrasieren oder ersetzen wie eine Metapher.

Die Übersetzung überführt das Original auf einzigartige Weise in eine neue Form und wirkt damit auf es zurück. Keine Übersetzung ohne Original, aber auch kein Original ohne Übersetzung. „Ein unübersetzter Roman ist kein Original“, sagt mein Kollege Hans-Christian Oeser. Das komplementäre Verhältnis zwischen Original und Übersetzung hat Jorge Louis Borges in eines der Paradoxa gefasst, die er so liebte: „Das Original ahmt die Übersetzung nach“.

Übersetzung lässt sich auch als eine Form definieren. Als Form ist sie die Beziehung der Ähnlichkeit und Verschiedenheit zwischen zwei Texten, dem Original und der Übersetzung. Diese Beziehung ist anders denn durch die Übersetzung nicht zu haben. Auch darin wiederholt sich die autonome Struktur der metaphorischen Schöpfung. Übersetzungen und Metaphern repräsentieren nichts, was außer ihnen läge. In der Dichtung, aber auch in poetischer Prosa gibt es kein „uneigentliches Reden im Bild“. „Die Poesie setzt die Sache selbst“, so Hofmannsthal. „Was der Dichter in seinen Gleichnissen sagt, das lässt sich niemals auf irgendeine andere Weise sagen.“

Wie hatte Celan das ausgedrückt? „Die Bilder sind das einmal, das immer wieder einmal und nur jetzt und nur hier Wahrgenommene“. Ich glaube, man darf dieses Substantiv ruhig im Sinne von „Für-Wahr-Nehmen“ verstehen. Denn nicht ohne Grund spricht Celan hier von „Bildern“, nicht von Metaphern. Er hat sie andernorts als das durch Anschauung Erkennbare bezeichnet und von der Metapher als rhetorischer Figur abgesetzt.

Aufgrund dieser Einmaligkeit der Bilder ist jede Übersetzung auch ein paradoxer Verrat an den poetischen Metaphern. Schleiermacher nannte das Ästhetische in Texten das „vollkommen einzelne Bestimmte“. Aber die Übersetzung kann dieses schlechthin Einzigartige sichtbar machen, wenn sie das Formgesetz, das WIE des Originals in sich aufnimmt. „Fremde Nähe“, diesen Titel wünschte sich Celan für seine gesammelten Übersetzungen.

Die Übersetzung ist eine Metapher des Originals. Sie übersetzt nicht, was es bedeutet, sondern wie es etwas bedeutet. Darum nimmt sie die Metaphern des Originals wörtlich, als Namen, als neue Begriffe, nicht als Gleichnisse, „uneigentliches Reden im Bild“.

In diesem Sinne wage ich, Celans Satz zu variieren: „Und die Übersetzung wäre somit der Ort, wo alle Tropen und Metaphern ad absurdum geführt werden wollen.“

Ein letzter Gedanke in umgekehrter Blickrichtung: „Übersetzen“ musste immer auch als Metapher herhalten, die vom Übersetzen als Verstehen habe ich schon erwähnt. Das subjektive, individuelle Moment des Verstehens ist hier impliziert. Es fehlt in der alten, wohlfeilen Metapher vom Übersetzen als Fährdienst. Darum trägt sie nicht: Wir bringen unsere Fracht nicht unverändert von einem Ufer zum anderen. Wenn Übersetzen Interpretieren bedeutet, schien es naheliegend, auch die musikalische und schauspielerische Interpretation als Übersetzung zu bezeichnen. Und in diesem Sinne ging es weiter: Alle Arten von Adaption wie Verfilmung oder Vertonung literarischer Vorlagen galten als Übersetzungen. Diese Erweiterung des Übersetzungsbegriffs wurde zwar kritisiert, konnte seiner Beliebtheit aber nichts anhaben. Der „translational turn“ in den Kulturwissenschaften brachte uns die Definition von Kultur als „Übersetzung“ und diese wiederum als „Aushandeln kultureller Differenzen“. Doch damit löst sich der Begriff der Übersetzung als Beziehung zwischen Texten auf. Ein weites Feld, und hier ist nicht der Ort, um das Problem zu verhandeln.

Mir gefällt diese allegorische Verkörperung der Übersetzung: In Platons Gastmahl wird Sokrates von Diotima über das Wesen des Eros belehrt: Er sei ein großer Dämon, der den Göttern überbringt, was von den Menschen kommt und den Menschen, was von den Göttern kommt. (Eros als übersetzender Dienstleister!) Doch Eros, gezeugt von den göttlichen Personifikationen der Fülle und des Mangels, ist  „als Sohn von Reichtum und Armut in solches Geschick gestellt: Bedürftig ist er immer und viel fehlt, dass er zart sei und schön (…), sondern hart und rauh und barfuß und heimatlos, immer am Boden lagernd ohne Decke, vor Türen und auf Straßen im Freien schlafend, da er die Natur der Mutter hat. Wie der Vater hingegen stellt er dem Schönen und Guten nach, allezeit Ränke schmiedend und nach Erkenntnis begierig und erfinderisch, Weisheit suchend sein ganzes Leben.“

Warum habe ich mich auf die Metapher konzentriert? Nicht nur wegen ihrer Verwandtschaft mit der Übersetzung, sondern auch, weil der Roman, für den ich den Paul-Celan-Preis bekomme, so bildmächtig ist. Viele Sätze leuchten durch ihre Metaphern, und metaphorisch sind auch die Orte Neapels, wie die „bassi“, die dunkelfeuchten Erdgeschosswohnungen. Die Katakomben des griechischen Neapel, unterweltliche Eingeweide der Stadt, in denen die Toten ruhelos nach Entschädigung für erlittene Not suchen. Die unzähligen gewundenen Treppen wie Höllenkreise. Es wäre schön, wenn Maike Albath in ihrer Laudatio und ich Ihnen mit diesen wenigen Hinweisen Lust auf die Lektüre von Wanda Marascos, Am Hügel von Capodimonte machen könnte.

Ich danke meiner wunderbaren, für ihre Anerkennung der Übersetzungsarbeit nie genug zu preisenden Laudatorin Maike Albath. Sehr herzlich danke ich dem Deutschen Literaturfonds und der Jury. Danken möchte ich dem Deutschen Übersetzerfonds, der mir bei meinen ersten, unsicheren Schritten in den Text mit einem Stipendium die entscheidende Ermutigung zuteilwerden ließ. Ich danke dem Zsolnay Verlag, dass er sich für so schwierige Bücher entscheidet, und meiner Lektorin Bettina Wörgötter für ihre Begeisterungsfähigkeit. Und Ihnen, euch allen danke ich fürs Kommen und geduldige Zuhören. Nach dem ziemlich trockenen Brot der Theorie sollten wir miteinander anstoßen, darauf freue ich mich!