Celan-Preis an Annette Kopetzki

Annette Kopetzki, Foto Felix Gerhards © Deutscher Literaturfonds

Celan-Preis an Annette Kopetzki

(Dies ist die ungekürzte Fassung der Laudatio, die in Übersetzen Heft 01/2020 in Auszügen abgedruckt ist.)

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Jury, liebe Annette,

in einem Brief vom 26. März 1960 schildert Paul Celan dem Literaturwissenschaftler und Feuilletonchef der Neuen Zürcher Zeitung Werner Weber seine Erfahrungen mit den Übertragungen der Gedichte Paul Valérys und lässt ihn wissen: „Darf ich hier auch noch sagen, dass diese Übersetzung für mich eine ÜBUNG war, ein „exercise“?“ Die übersetzerischen Exerzitien besaßen für den Lyriker etwas Religiöses, auch der Gedanke an eine niemals fassbare, ideale Sprache schwang mit. „Wie viele sind es wohl“, schreibt Celan nämlich weiter, „die mit dem Wort zu schweigen wissen, bei ihm bleiben, wenn es im Intervall steht, in seinen „Höfen“, in seiner – schlüsselfernen – Offenheit, das Stimmhafte aus dem Stimmlosen fällend […], Sprache, wie Valéry einmal sagt, in statu nascendi, freiwerdende Sprache, Sprache der Seelenmonade Mensch…“, so fährt Celan in seinem hochgestimmten Gestus fort.

Annette Kopetzki ist die Spannung zwischen einem Übersetzen, das dem Schweigen etwas abringt und die Verfugungen des Originals durchscheinen lässt, wie es Paul Celan hier vertritt, und einem unbefangeneren, eher schleiermacherschen Glätten oder aber einem humboldtschen Schwelgen in den Reichtümern der Vielsprachigkeit wohl bekannt. Schließlich hat sie sich in ihrer eindrucksvollen Dissertation auch damit auseinandergesetzt. Allerdings arbeitet sie jetzt schon seit über 30 Jahren im Bergwerk der Sprache und hat eine Vielzahl von Stollen gebohrt, etliche Schächte ausgehoben, Minen erschlossen, Metalle geschürft und ans Tageslicht transportiert. In ihrem Werk sind die unterschiedlichsten Sprachfärbungen zu finden, und allein das ist bewundernswert: Wir stoßen auf den altersmilden, mitunter sizilianisch frotzelnden Andrea Camilleri, auf den entschlackten, manchmal mystischen Erri De Luca, auf den bildungsbürgerlich-gemessenen Edmondo De Amicis, auf die manische Vitalität Pier Paolo Pasolinis, auf die drastische, grobe Ausdrucksweise der Figuren von Roberto Saviano, auf die Lakonie von Valeria Parella, den klamaukigen Witz von Ottavio Cappellani, die sachliche Eleganz einer Benedetta Craveri und die verhaltene Poesie eines Giuseppe Bonaviri, um nur einige ihrer zahlreichen Autoren zu nennen.

Bei dem Sizilianer Bonaviri zum Beispiel geht es in dem Roman Die blaue Gasse (2006) um den Erfahrungsraum der Natur. Annette Kopetzki erfasst die poetisch-träumerische Prosa Bonaviris genau, wenn sie von den „glitzernden Unendlichkeiten“ am Augusthimmel spricht, womit die Sterne gemeint sind, oder von der „aschfarbenen Rinde“ und den „schwarzen Blasen der Nacht“. Allein die Pflanzennamen belegen, dass sie nebenbei ein Kurzstudium der Botanik absolvieren musste. Da gibt es Affodillen, Senfgras, Bergmelisse, Malven, Minze, Borretsch, Terebinthensträucher, Oleaster, Robinien, Steckenkraut, Seifenkraut, Klatschmohn und Nieswurz.

Für Ottavio Cappellanis Mafiakomödie Habe die Ehre (2009) erfand Annette Kopetzki die zärtlich-witzige Bezeichnung „Schwuppen“ für Szene-Schwule, mit der einer der Helden seine Geschlechtsgenossen etwas gehässig tituliert, auf deren schräges Stilbewusstsein er in Wirklichkeit natürlich eifersüchtig ist. Dass das bitterböse Gesellschaftsporträt Cappellanis auch auf Deutsch eine so ansteckende Rasanz entfaltet, liegt allein an der Übersetzung: Ob es die saftige Ausdrucksweise der Mafiosi ist, gestelztes Intellektuellengewäsch, Provinzzeitungsjargon, Frauengespräche im Vanity-Fair-Stil, der Tratsch eben jener „Schwuppen“, historisierende Shakespeare-Sprache oder das grammatikalisch vollkommen aus dem Ruder laufende Gerede einer verwöhnten Ehefrau – es fehlt an nichts.

Eindrucksvolle Beispiele für den Umgang mit antikisierender Patina finden sich auch in Annette Kopetzkis philologisch durchdachten Übersetzungen der Serien des Autorenduos Monaldi & Sorti, Verfasser von international erfolgreichen historischen Unterhaltungsromanen. Secretum lautet der Titel eines Bandes, der genau 1700 einsetzt und die Papstwahl samt den damit verbundenen Machtkämpfen zum Gegenstand hat. Gleich auf den ersten Seiten stößt man auf eine Widmung und einen Brief, beides in einer barocken Sprache verfasst, deren deutsche Variante Annette Kopetzki neu erfindet. „Vera e distinta relazione delle gloriose imprese che trovarono luogo sotto il pontificato di Innocenzo XII.“ Bei Annette Kopetzki wird daraus: “Wahrhafftiger und faszlicher Bericht der ruhmreichen Thaten welche sich ereignet im Jahre 1700 A.D. in Rom unter dem Pontifikat Innozenz XII.“ Das Gleichgewicht zwischen altertümelnden Formulierungen, Latinismen und syntaktischen Umstellungen ist klug ausbalanciert, der zeitliche Abstand ist auch an der Rechtschreibung zu erkennen. Auch in dem nachfolgenden Brief vermittelt Annette Kopetzki die Anmutung des Originals. Sie verwendet für „reverendissimo“ „durchlauchtigster“, für „mi persuado“ „mich dünkt“, benutzt den Latinismus „descriptiones“ und „ergötzen“ für „godere“, „humilissimamente“ wird zu „unterthänigst“, was das Barockisierende des Ursprungstextes wunderbar vermittelt. In den Übersetzungen einer anderen Romanreihe des Duos mit dem florentinischen Erzähler Salaì gelingt es ihr, die satte Mündlichkeit, die dialektale Herkunft und die gewiefte, aber nicht durch die Schriftsprache geprägte Ausdrucksweise des Helden im Deutschen neu zu erfinden.

Genauso stilsicher und einfallsreich übersetzt Annette Kopetzki den verbalen Schlagabtausch unter den Kinder-Camorristi von Roberto Saviano in den beiden Romanen Der Clan der Kinder (2018)und Die Lebenshungrigen (2019). Im Original operiert Saviano vor allem in den Dialogen auf Neapolitanisch, und hier trifft sie die einzig richtige Entscheidung, diese Passagen in ein ruppiges Straßen-Deutsch zu übertragen. Die Mitglieder der Babygangs „knallen jemanden ab“ oder „haben Eier“. Die Protagonisten verwenden ihren reduzierten Code mit derselben Brutalität, mit der sie ihre Waffen benutzen. Annette Koptzeki trifft den Ton, ohne je anbiedernd zu wirken oder in Kiez-Jargon zu verfallen. So wirft der eine dem anderen an den Kopf: „Bin gekommen, um mir anzusehen, wie du deine Wichsfresse zerschleißt“. Ebenfalls klug ist die Entscheidung, für die charakteristische Ausdrucksweise „fare un pezzo“ auf Deutsch die Formulierung „ein Stück machen“ zu verwenden – die Camorristi meinen damit einen Mord, die Tat wird also bagatellisiert, versachlicht, dem Fußball angeglichen, „fare un goal“, und damit abgekoppelt davon, dass es um Menschenleben geht.

Innehalten möchte ich bei der Schriftstellerin Wanda Marasco und ihrer versponnenen Sinnlichkeit in dem Roman Am Hügel von Capodimonte, der im vergangenen Jahr erschien. Neapel mit seinen Tuffsteinhöhlen, rutschigen Treppen, labyrinthischen Gassen und alten Palazzi, unter denen sich verwinkelte Souterrainwohnungen ducken, bassi genannt, tritt uns hier als ein räudiger, schwitzender, dreckiger Körper entgegen. Der poröse Charakter lagert sich in flackernden Bildern ab, und das Unheimlich-Phantastische wuchert bis in die überspannte lyrisch-expressionistische Sprache hinein. Höllenfratzen blitzen auf, Gesichter aus Albträumen, Getier und Gewimmel, Zwangsvorstellungen, von denen vor allem die Frauen heimgesucht werden. In ihrem Stationendrama verzichtet Wanda Marasco auf einen eingängigen Handlungsfaden und setzt auf eine theatralische Inszenierung von Räumen und Licht, was Annette Kopetzki glänzend auf Deutsch zu vermitteln weiß. Übersetzung ist eben immer auch Interpretationsarbeit. Marascos Roman besitzt eine ausgefeilte Metaphorik von oben und unten, jeder Gang über die Treppe hinunter zu den dunklen Bassi und wieder hinauf markiert einen Wendepunkt.

Als sich Rafele und Vincenzina, die Mutter der Ich-Erzählerin, im Frühjahr 1946 kennenlernen und gemeinsam durch die Stadt gehen, heißt es im Original: „Erano arrivati all’altezza di vico Donnaregina accompagnati dai riflessi dentro le vetrine. Spigoli della carne uscita dalla guerra, clavicole e ginocchia appuntite e il vestito dell’uscita che ce la metteva tutta ad abbellire la magrezza.” „Sie waren auf der Höhe des Vico Donnaregina angekommen, begleitet von ihren Spiegelbildern in den Schaufenstern. Kanten der dem Krieg entronnenen Körper, spitze Schlüsselbeinknochen und Knie, und das Ausgehkleid, das sich alle Mühe gab, die Magerkeit zu verschönern“, übersetzt Annette Kopetzki und reproduziert die grammatikalische Struktur des Originals, wodurch sie auch den Satzrhythmus beibehalten kann. Die Entscheidung für „Spiegelbilder“ statt „Reflektionen“ oder „Spiegelungen“ ist sehr schön, auch weil nachfolgend von den „Kanten“ der mageren Körper die Rede ist, wodurch man das Schaufenster wie einen Rahmen dieser Eltern-Gestalten wahrnimmt. Etwas weiter unten beschreibt die Ich-Erzählerin den Prozess der Imagination: „Ich besitze Lichtspielstrahlen, um mir die beiden vorzustellen. Sonnenfäden, die Vincenzina und Rafele um die Handgelenke und Fußfesseln gebunden werden“. Im Original ist von „raggi teatrali“ die Rede, von „certi fili di sole“ – aus den „theatralischen Strahlen“, was auf Deutsch unverständlich bliebe, „Lichtspielstrahlen“ zu machen, ist ein wunderbarer Einfall. Hier zeigt sich, wie virtuos Annette Kopetzki mit Bildfeldern spielt, sie ausdehnt oder umdeutet. Marasco hat eine Vorliebe für plastische Vergleiche, und auch das vermittelt Annette Kopetzki auf anschauliche Weise. Es gibt Buchstaben, die „zerquetschte Würmer“ sind. Rosa betritt in einem Basso zwei „Zimmer aus Asche“, die Luft zischt „wie ein Schuss heißes Öl“. Eines Abends sieht der Vater aus „wie eine eingestürzte Mauer“.

Für die enorme Vielfalt in der Tongebung, ihre Spannweite, das breit gefächerte Werk und ihre Phantasie im Umgang mit dem Material der Sprache erhält Annette Kopetzki heute den Celan-Preis. Ihre Exerzitien dauern an. Herzlichen Glückwunsch!