Paul-Celan-Preis an Thomas Weiler

(Hier folgt die ungekürzte Fassung der Laudatio, die in Übersetzen Heft 1/2025 in gekürzter Version abgedruckt ist)

Liebe Anwesende, lieber Thomas Weiler!

Es war Erde in ihnen, und
sie gruben.

Sie gruben und gruben, so ging
ihr Tag dahin, ihre Nacht. Und sie lobten nicht Gott,
der, so hörten sie, alles dies wollte,
der, so hörten sie, alles dies wusste.

Sie gruben und hörten nichts mehr;
sie wurden nicht weise, erfanden kein Lied,
erdachten sich keinerlei Sprache.

Sie gruben.

Der alte Hamburger Buchhändler Lampe rezitiert die bekannten Verse Paul Celans im letzten Teil von Alhierd Bacharevičs Roman „Europas Hunde“ im Rahmen einer Videobotschaft in die finstere Zukunft des Jahres 2050. Finster deshalb, weil es eine Zukunft ist, in der es keine Literatur mehr geben wird und den Menschen in Europa die Namen Kafka, Joyce und Celan nichts mehr sagen.

Die Verse sind weit hinten im Buch versteckt und im Textbild als Prosa getarnt.

Wir ahnen also: sie sind von zentraler Bedeutung. Eine spät gelieferte Gebrauchsanweisung, eine vergrabene Bauskizze, eine Celansche Flaschenpost mit Grundmotiven des Textes.

In „Europas Hunde“ werden viele Lieder erfunden, gleich mehrere Sprachen erdacht. Und es wird gegraben und vergraben, was das Zeug hält. Zeitkapseln spielen eine große Rolle, Fluchttunnel werden gegraben, auch in den Lüften. Es geht um vergrabene Erinnerungen, um Erdmenschen und verschüttete Wurzeln.

Den Romantext selbst durchzieht ein kunstvoll gegrabenes Netzwerk von poetischen Maulwurfsgängen, kommunizierenden Röhren in die Weltliteratur und Wurmlöchern, die uns das Hin-und-Her-Bewegen zwischen den vielfältigen Raum-, Zeit- und Erzähldimensionen ermöglichen.

Bevor wir uns in dieses verschlungene Gangsystem hinein bewegen, bitte ich Sie, mir – Celans Verse immer im Hinterkopf – auf einen gedanklichen Pfad zu folgen, der uns zu einer ganz anders gearteten, jüngst im Aufbau-Verlag erschienenen Übersetzung Thomas Weilers führt.

Zur Feldbibliothek der Wehrmachtsoffiziere, die nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im heutigen Belarus stationiert waren – einer meiner Großväter war darunter – gehörte ein kleines Büchlein im Postkartenformat, der Deutsch-Russische Soldatensprachführer von Fritz Sulzberger. Hachmeister und Thal, Leipzig, 1938.

Er enthält auf 35 Seiten die wichtigsten Vokabeln, – für Brot, Butter, Milch, Kartoffeln usw.

Und die nötigsten Wendungen für den Alltag:

Не двигайтесь , иначе я выстрелю. – Stehen bleiben oder ich schieße!

Лес густой? – Ist der Wald dicht?

Дома, из которых стреляют, будут сожжены. – Häuser aus denen geschossen wird, werden verbrannt.

Es scheint, Terror, Vernichtung und Unmenschlichkeit brauchen wenig Vokabeln. Nötigenfalls genügt ein Wink mit dem Gewehrlauf.

Anders das Leid, die Verzweiflung, die Schuldgefühle der Überlebenden. Das Unsagbare braucht viele Worte.

Eine fast 80jährige Bäuerin aus dem Dorf Alchaŭka:

Eine Grube haben sie gegraben vorneweg. Haben sie in eine Reihe gestellt und Maschinengewehre hin. Und dann: „Soundso viele!“

Die Leute rein in die Grube, rein in die Grube und dann feuert er mit dem Maschinengewehr und feuert. Und die Frauen da: gleich machen sie ein Geschrei, […] stürzen sich rein. Das Kopftuch vors Gesicht gebunden. […] Und wie sie sie in dieser Grube vergraben haben, soll die Erde geatmet haben, richtig geatmet!

 

Ales Adamowitsch, Janka Bryl und Uladsimir Kalesnik haben in den 1970er Jahren Zeitzeugenberichte über die Wehrmachtsverbrechen in Belarus gesammelt und zu einer vielstimmigen und vielsprachigen Erzählung verdichtet. „Feuerdörfer“ ist der deutsche Titel. In den belarussischen Dörfern wird je nach Region Polnisch gesprochen und Belarussisch, Russisch, Ukrainisch und die Mischsprache Trasjanka.

Thomas Weiler findet sich in diesem Sprachdickicht zurecht und kann jeder einzelnen Stimme genau zuzuhören. Mit Empathie, Zurückhaltung und Gespür für die kleinste Nuance übersetzt er diese Texte so, dass kein einziger stummer Schrei ungehört bleibt.

1998 geht Thomas Weiler als Freiwilliger eines der Aktion Sühnezeichen nahestehenden Vereins nach Minsk, wo er in einem Kinderheim arbeitet. In Minsk lernt er Russisch, später, im Übersetzerstudium, kommen Belarussisch und Polnisch hinzu.

2007 beginnt er als freier Übersetzer aus diesen drei Sprachen zu arbeiten. Seine erste größere Prosaübersetzung, auch ein Roman Alhierd Bacharevičs, Die Elster auf dem Galgen, erscheint 2010. Keine eineinhalb Jahrzehnte später erhält er den Paul-Celan-Preis für sein Lebenswerk und gilt als renommiertester Übersetzer und Vermittler belarussischer Literatur im deutschsprachigen Raum.

Seit Oktober ist er zudem Inhaber der aktuellen August-Wilhelm-von-Schlegel-Gastprofessur für Poetik der Übersetzung an der Freien Universität Berlin.

Heilandsack! möchte man da – mit einem sehr Weilerschen Ausdruck – bewundernd ausrufen.

Es hat sich inzwischen herumgesprochen, dass der Übersetzer Thomas Weiler ein Glücksfall ist für Alhierd Bacharevičs Roman „Europas Hunde“ und umgekehrt der Roman ein beglückendes, weil befreiendes Ereignis für den Übersetzer (und natürlich für uns Lesende). Warum befreiend?

In sechs Teilen, die in je unterschiedlichen Zeiten spielen und je einen eigenen Erzähler und Erzählstil haben, beschreibt „Europas Hunde“ Belarus’ Weg in eine unfreie, totalitäre Zukunft. Nach einem langen Krieg hat sich das russische Imperium um das Jahr 2030 herum komplett vom Westen abgeschottet und sich Belarus als neue westliche Grenzregion einverleibt. Im Jahr 2050 weiß kaum jemand dies- oder jenseits der Grenzen des Imperiums, dass ein Land dieses Namens je existiert hat. Zu diesem Zeitpunkt, ich erwähnte es eingangs, werden die Menschen in ganz Europa nicht mehr lesen und ihre Dichter vergessen haben.

Gleichsam rebellierend gegen die selbst entworfene düstere Zukunftsvision gibt sich der Roman ein poetisches Konzept, das vielleicht mit folgenden Schlagworten beschrieben werden kann: Freiheit, überbordende Phantasie, Glaube an die Widerständigkeit der Sprache und die grenzüberschreitenden Möglichkeiten der Literatur.

Dem Jungen Maŭčun, der das Märchen von Nils Holgersson liebt, gelingt es kraft seiner Imagination, auf dem Rücken einer Gans aus dem öden belarussischen Grenzland in den Westen zu fliegen, um ein Dichter zu werden. (Dass er dort scheitert, steht auf einem anderen Blatt.)

Oleg Olegowitsch, Bewohner einer – Zitat Thomas Weiler – räudigen, gleichsam verräucherten Einraumbutze im Minsk der 2010er Jahre und Erzähler des ersten Teils erfindet sich eine eigene Sprache, die constructed language Balbuta. Sie soll ihn befreien vom kulturellen und historischen Ballast und den Denkbarrieren der existierenden Sprachen. Auf Balbuta begrüßt man sich mit den Worten: Bu samoje!, Sei frei!

Thomas Weiler – nun endlich wieder zurück zum Übersetzer – versteht die Vielstimmigkeit des Romans, seine Sprachmächtigkeit und offene poetische Konzeption als Aufforderung zur Freiheit, sich seinerseits mit überbordender Kreativität als souveräner Sprachschöpfer und Sprachkünstler zu betätigen.

Dreißig Grad im Schatten. Roman eines Sommertages. Die Handlung des vierten Teils spielt an einem heißen Sommertag im Minsk der späten Neunziger Jahre (also der Zeit, in der Thomas Weiler hier seinen Freiwilligendienst geleistet hat). Der Ich-Erzähler, vierzigjährig, Typ Taugenichts und Konsumverweigerer, soll im Auftrag seiner Mutter eine Plastiktüte ominösen Inhalts bei unbekannten Adressaten abliefern, irgendwo am anderen Ende der Stadt. Die Tüte geht mehrmals verloren, taucht wieder auf, es entfaltet sich eine Odyssee kreuz und quer durch Minsk. (Nicht ausgeschlossen, dass der im Text nicht datierte Tag ein 16. Juni war.)

In einer wundervollen Szene begegnet der Erzähler in der Metro einem gewissen Alhierd Bacharevič und dessen Frau, der Dichterin Julia Cimafiejeva, die er beide ziemlich abgehoben findet.

Es macht mir Vergnügen, mir vorzustellen, er könnte auch dem jungen Thomas Weiler begegnet sein, beispielsweise während dieser im Antiquariat der Buchhandlung „Vedy“ über die Anschaffung der belarussischen Schulgrammatik von Taraškiéwič nachdachte.

Aber eigentlich will ich auf eine ganz andere Begegnung von Erzähler und Übersetzer hinaus.

Es ist, wie gesagt, knallheiß in Minsk an diesem Tag, dem Erzähler brennt die Sonne auf den Schädel. Er fühlt sich wie die aufgeheizte Dzierżyński-Statue vor dem KGB-Gebäude. Stasi-Feliks, Quasi-Phönix.

Mit aufgeheiztem Hirn kalauert er sich durch die Stadt. Er erlebt einen Minsker Madeleine-Moment, als er am Bahnhof in einen Bieliaš beißt, einen in Fett ausgebackenen, mit Hackfleisch gefüllten Teigfladen, dessen Geschmack ihn in die sowjetische Vergangenheit zurück führt.

Und da entfährt es ihm:

Ich liebe Bieliašy.

Und ich liebe Wortspiele.

In diesem Moment höre ich Thomas Weiler an seinem Schreibtisch aufseufzen: Ja, ich auch!

Nicht zufällig ist er auch ein gefragter Übersetzer von Kinderliteratur. In ihm wohnen ein Morgensternscher Sprachspieltrieb und feiner wortschöpferischer Witz.

Kurz bevor unser Minsker erstmals seine Plastiktüte übergeben kann, wird er von einem Gaunerpärchen niedergeschlagen und beraubt:

Wo wollten sie wohl hin? Ins Momo, zu Mama, Mofas manipulieren? Tüte schwenkend machten sie sich auf zur Haltestelle.

Ich rappelte mich auf, kuppelte, pippelte, doppelte, apoloppelte, dann stand ich und konnte kurz durchschnaufen.

Er verfolgt die beiden in ein früher Zigeunerviertel genanntes Gebiet von Minsk. Und ausgerechnet hier – d.h. natürlich ausgerechnet hier – begegnet uns unvermutet Paul Celan wieder, in einer alliterationsversessenen, Wortfelder pflügenden Betrachtung über Antiziganismus.

Komischerweise bezichtigt man alle, die aus der Liste der Menschen gestrichen werden, einer übertriebenen Neigung zum Handel. Handel ist böse. […] Belarussen sind keine Händler. Sie sind Landleute. Landsleute. Landtiere. Erdenwesen. Erdwürmer. Erdwühler. Erdlinge. Wenn sie nur graben können, sind sie in ihrem Element. Erdbunker, Gruben. Sich in die Erde pflanzen, austreiben, Wurzeln schlagen. Sich dermaßen in die Erde hineinleben, hinein krallen, dass dich niemand mehr ausreißen kann.

Es ist, wie gesagt, ein subtiles, dicht gegrabenes, kreuz und quer führendes Gangsystem aus Motiven und intertextuellen Bezügen, das die einzelnen Teile des Romans untereinander verbindet und seine Architektur ausmacht. Im Prozess der Übersetzung besteht da permanent Einsturz- und Verschüttungsgefahr. Es ist neben – nein, sagen wir nach – seiner großen Sprachkunst, eine gar nicht hoch genug zu bewertende Leistung Thomas Weilers, in dieser komplizierten Struktur den Überblick behalten und sie kongenial ins Deutsche gebracht zu haben.

Lieber Thomas, bu bavoje a ujma duzuta parou tajnobalboje utajuta!

Herzlichen Glückwunsch zu dieser großartigen und wohlverdienten Auszeichnung!