(Hier folgt die ungekürzte Fassung der Laudatio, die in Übersetzen Heft 1/2025 in gekürzter Version abgedruckt ist)
Sehr geehrte Damen und Herren,
als jemand, die die deutsche Sprache im Schweiße ihres Angesichts als Jugendliche gelernt hat, freue ich mich ganz besonders, im Namen Jacob Grimms heute einen der renommiertesten Übersetzer unserer Zeit, Hans Wolf, zu würdigen – und das, auch noch in seiner Heimatstadt!
Ich habe es leicht, über das Übersetzen zu sprechen, weil ich es nicht tun muss. „Kritiker haben es oft leicht, einen Fehler in einer Übersetzung nachzuweisen,“ schrieb Hans Wolf einmal, „es gelingt ihnen aber fast nie, es besser zu machen.“
Das stimmt meistens – und bei den Übersetzungen von Hans Wolf sowieso. Denn kaum jemand beherrscht das kontrollierte Lavieren zwischen wörtlicher und idiomatischer Wiedergabe, zwischen geduldiger Auseinandersetzung mit dem Text und schöpferischer Annäherung daran so gut wie Hans Wolf.
Dabei behauptet er, sicher zu recht!, dass es „die vollkommene Übersetzung nicht“ gibt, und er scheint dabei zu meinen, dass Übersetzen „a no-win situation“ ist: dass man es niemandem richtig machen – dass man es nicht richtig machen kann.
Denn versucht eine Übersetzung den Inhalt des Originals genau zu übermitteln und vernachlässigt dabei die stilistische Eigenart, wird sie wegen sprachlicher Sorglosigkeit kritisiert; versucht eine Übersetzung dagegen den symbolischen Gehalt des Originals zu vermitteln und vernachlässigt dabei inhaltliche Muster, wird sie der Ungenauigkeit bezichtigt; versucht eine Übersetzung dem Original inhaltlich gerecht zu werden und metaphorisch nahe zu bleiben, wird sie als Nachdichtung qualifiziert, ja abqualifiziert.
Zwischen inhaltlicher und formaler Treue einerseits und zwischen formaler und symbolischer Treue andererseits lavieren literarische Übersetzungen. „Übersetzen ist so gut dichten, als eigene Werke zustande bringen – und schwerer, seltener,“ schreibt Novalis an August Wilhelm Schlegel.
Tatsächlich führt der schriftstellerische Weg von Hans Wolf zum Übersetzen über den Umweg, eigene Werke zustande bringen zu wollen. So stehen einige unveröffentlichte eigene Werke den vielen veröffentlichten Übersetzungen gegenüber – und ein tatsächlich veröffentlichter Roman erschien unter Pseudonym, als wollte der Übersetzer nicht als Romancier erkennbar werden.
Auch als Musiker ist Wolf unter Pseudonym aufgetreten: als Sänger, Gitarristen und Keyboarder. Die literarischen Skizzen allerdings, mit denen er seiner Heimatstadt ein Denkmal setzt – zuletzt vor wenigen Wochen Ende August -, veröffentlicht er unter seinem richtigen Namen!
Das eigene Schreiben, das schöpferische Umgehen mit der Sprache, muss wohl das Übersetzen immer genährt haben. Denn wenn es bei einer Übersetzung darum geht, eine Sprach-Form in eine andere, also einen Text in einen anderen zu verwandeln, dann muss man das schriftstellerische Geschick und das sprachästhetische Selbstvertrauen haben, einen neuen, gewissermaßen eigenen Text zu schaffen.
Dafür sind Hans Wolfs Übersetzungen beispielhaft. Ob Kriminalgeschichten von Arthur Conan Doyle oder postmoderne Romane von John Fowles, ob Nonsens-Satiren von Terry Jones oder Essays von H.L.Mencken – ob epische Biographien wie diejenige von Richard Ellmann über Oscar Wilde oder diejenige von Brian Boyd über Vladimir Nabokov – stets hat Hans Wolf ein tiefes Verständnis sowohl der Ausgangs- als auch der Zielsprache bewiesen und darüber hinaus Kenntnisse der kulturellen und historischen Kontexte, in denen diese Texte entstanden sind und in denen sie gelesen werden.
„Wir wissen eigentlich gar nicht, was eine Übersetzung sey,“ schrieb Friedrich Schlegel einmal. Der russisch-amerikanische Linguist Roman Jakobson unterschied zwischen der kommunikativen und der poetischen Funktion der Sprache – literarische Übersetzungen können die kommunikative Funktion nicht ignorieren und sollen gleichzeitig die poetische rekonstruieren. Und der italienische Semiotiker Umberto Eco nannte das übersetzerische Unternehmen ein ständiges „Verhandeln“ zwischen Texten, Sprachen und Kulturen.
Ein solch erfolgreiches Verhandeln ist Wolfs Übersetzung des Romans von Cormac McCarthy „Die Abendröte im Westen“. Schon der Titel ist eine geschickte Annäherung: denn indem er dem Titel des Originals, „Blood Meridian,“ den Untertitel „The Evening Redness in the West“ vorzog und als „Die Abendröte im Westen“ wiedergab, erhielt er die suggestive Kraft des Originals und verlieh dem Roman einen prägnanten deutschen Titel.
Der Roman gilt als der ultimative Western, in dem sich die sprachliche und narrative Tradition von Melville und Faulkner kreuzen. Der Western ist eine eminent politische Gattung, weil darin amerikanische Geschichte beschrieben bzw hinterfragt wird – und McCarthys Western, eine ziemliche Gewaltorgie!, spielt in dem texanisch-mexikanischen Grenzgebiet in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und basiert auf historischen Ereignissen. So musste nicht nur eine Sprache gefunden werden, die archaische Wörter und spanische Ausdrücke wie selbstverständlich miteinander mischt und einen Stil, der Wortzusammensetzungen nicht kennzeichnet und Dialoge nicht markiert, sondern es mussten darüber hinaus auch der historische Kontext und die literaturhistorische Tradition des Originals und nicht zuletzt die geographische Besonderheit der Handlung vermittelt werden.
Eine eigentlich unmögliche Aufgabe, die Hans Wolf dennoch bravourös bewältigt hat – und wenn der Roman von McCarthy inzwischen als kanonisch gilt, so hat Wolfs Übersetzung dazu beigetragen, ihm eine deutschsprachige Leserschaft zu erschließen.
Sprachliche Vielschichtigkeit ist eine übersetzerische Herausforderung – aber so ist auch die Einfachheit und Nüchternheit der Umgangssprache – und auch dafür ist es Wolf immer wieder gelungen, im Deutschen eine angemessene Form zu finden. Seine Übersetzungen von H.L. Menckens „Gedanken zum Essen“ oder „Hot Dog“ bewahren den sarkastischen Ton des Originals und vermitteln zugleich ein Stück Sprach-, ja Kulturgeschichte.
Wie geschickt er mit der Alltagssprache umgehen kann, zeigt Wolf in der Übersetzung von Richard Yates’ Roman „Zeit des Aufruhrs.“ Aufruhr und zugleich Angst davor bestimmen sowohl das innere Leben der Figuren als auch ihr Verhalten in diesem Roman, der in einer amerikanischen Vorstadt in den 50. Jahren spielt und Szenen einer Ehe erzählt. Die Sprache spiegelt die Konformität ebenso wie die Ängste und Selbstlügen der Figuren wieder. Das amerikanische Alltagsjargon so wiederzugeben, dass die kleinen Abgründe hinter den banalen Ausdrücken spürbar werden, ist hohe Sprachkunst. Und es zeichnet Wolfs Arbeit aus, dass er nicht nur den literarischen Verstand, sondern auch die sprachästhetische Gelassenheit besitzt, manchmal das Unübersetzbare zu ertragen und beharrlich nach der bestmöglichen Annäherung zu suchen.
Eine bemerkenswerte Annäherung an einen sprachlich und thematisch komplexen englischen Text und seine Verwandlung in eine fließende, nachvollziehbare deutsche Erzählung ist Wolfs Übersetzung von Adam Thorpes Roman „Ulverton“, in dem der britische Schriftsteller die Geschichte eines Dorfes in den Hügeln von Berkshire über dreihundert Jahre anhand der alltagssprachlichen und literarischen Gewohnheiten der jeweiligen Epochen erzählt. So ist die Sprache gewissermassen der Held des Romans und dieser Held stellt eine ganz besondere Herausforderung an den Übersetzer dar, der Sprachgeschichte Schicht für Schicht abtragen, Sprachentwicklung nachvollziehbar machen und zugleich Hochsprache und Umgangssprache, Dialekt und Soziolekt herüberretten und angemessen ins Deutsche verwandeln musste. Wolf hat ein kongeniales Sprachgebilde geschaffen, in dem er barockes Deutsch mit dem badisch-alemannischen Dialekt und dem Standardhochdeutschen bravourös kombiniert und so die Stimmung und den Stil des Originals vermittelt. Seine Übersetzung ist Um- und Anverwandlung des Originals, das Ergebnis eines kreativen Prozesses – ein deutschsprachiger Roman, der seinen Ursprung im Englischen vergessen macht.
Ein befreundeter Übersetzer sagte mir, als ich ihn nach Hans Wolf fragte, er bewundere Wolfs Übersetzungen, weil sie die „Illusion des Authentischen“ vermittelten. Ein passenderes Kompliment gibt es für Übersetzer wohl nicht.
Diese Illusion des Authentischen zu schaffen, heißt, die Essenz eines Werks zu erfassen und diese so ins Deutsche zu übertragen, dass die Intention des Autors und die Stimmung des Werks bewahrt werden – also das Fremdsprachige eines Textes vergessen zu lassen. Und dafür braucht man, so Wolf, „schier bauchrednerische Fähigkeiten“ und dass er diese immer wieder aktivieren kann, verdankt sich seinem Talent und seiner Ausdauer, sprachlicher Pedanterie und handwerklicher Flexibilität, aber nicht zuletzt auch dem Deutschen Wörterbuch, das er seit den 80. Jahren besitzt und benutzt – und zwar so, dass manche Bände regelrecht abgegriffen sind, wie er mir verriet.
In Grimms Wörterbuch wird ‚Übersetzer‘ als ‚nomen agentis’ aufgeführt und zwischen einem Übersetzer als ‚Fährmann‘, der von einem Ufer zum anderen über setzt, und dem ‚translateur‘ unterschieden, der, so wird Herder zitiert, „die gestalt des autors ausdrückt, wie er für uns, wäre ihm unsere sprache zu theil geworden, etwa sprechen würde.“
Nicht zufällig also, dass Hans Wolf einen Artikel über die Arbeit des Übersetzers als „Freuden und Leiden des Fährmanns“ nennt. Wie ein Fährmann also setzt Hans Wolf das Lesepublikum von einem sprachlichen Ufer zu einem anderen und sorgt für eine ruhige Fahrt – für eine angenehme Leseerfahrung. Deshalb ist es nur angemessen, dass ein Übersetzer, der die literarische Gestaltung einer Sprache durch dichterische Um-Gestaltung zur neuen Form bringt, einen Preis bekommt, der nach einem der Autoren des Deutschen Wörterbuchs benannt ist.
Es war das Ansinnen von Jacob Grimm, den gesamten neuhochdeutschen Sprachschatz von Luther bis Goethe zu erfassen – er starb bei der Arbeit an dem Artikel über „Furcht“, aber das Wörterbuch-Projekt wurde zuerst von bedeutenden Germanisten jener Zeit und dann von mehreren Generationen von Philologen und Sprachwissenschaftlern fort geführt und erst 1961 beendet, dann wieder überarbeitet, neu ediert. Das sogenannte Grimms Wörterbuch beschreibt den Wortschatz des Neuhochdeutschen von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis zur Gegenwart und ist das größte und umfassendste Wörterbuch zur deutschen Sprache – ein Arbeitsinstrument, ohne das ein Übersetzer noch immer nicht auskommt.
„Ob Übersetzungen möglich seien, darum hat sich niemand bekümmert.“ – so noch einmal Friedrich Schlegel. Hans Wolf hat mit seiner Arbeit immer wieder gezeigt, dass Übersetzungen möglich sind und dass sie tatsächlich fremde Kulturräume vertraut machen und gleichzeitig der eigenen Sprache neue Möglichkeiten abgewinnen.
Deshalb möchte ich, während wir heute Hans Wolf ehren, auch auf die Prekarität eines Berufstandes hinweisen, der sich kulturhistorisch immer wieder als systemrelevant erwiesen hat. Und ich möchte daran erinnern, dass Übersetzer wie Hans Wolf Hauptfiguren der Literaturszene sind, ohne die es keine Literaturszene gäbe.
Lieber Hans Wolf, ich danke Ihnen für die viele geduldige und sorgfältige Arbeit und gratuliere Ihnen zu dem schönen Preis.