(Hier folgt die ungekürzte Fassung der Laudatio, die in Übersetzen Heft 1/2025 in gekürzter Version abgedruckt ist)
Lieber Rolf Erdorf,
ich bin stolz und glücklich, das Jurymitglied zu sein, das Ihnen heute den Preis für Ihr Gesamtwerk als Übersetzer überreichen darf. Wir, Ihre Leser:innen, haben Ihnen so viel zu verdanken. Sie schenken schon unseren Kleinsten wundervolle Bilderbücher, in denen die Fantasie gefeiert wird, aber auch schwierige Themen feinfühlig angesprochen werden. Hier kommt es auf jedes Wort an, jede Nuance. Dann muss der Text auch noch zu den Bildern passen und so gut sein, dass er immer wieder laut vorgelesen werden kann. In diesem Kontext genießen wir besonders Ihr Rhythmusgefühl, Ihr reicher Wortschatz und Ihre kreativen Wortschöpfungen, wie Fuchsbruderpfötchen und Blümeliblümchen in dem poetischen Bilderbuch Der kleine Fuchs von Edward van de Vendel mit Illustrationen von Marije Tolman. Gute Bilderbücher machen uns glücklich, sie zu übersetzen, ist eine Höchstleistung, die viel zu selten gewürdigt wird. Sie, lieber Rolf Erdorf, meistern sie mit Bravour!
Sie haben uns Vor- und Erstlesebücher sowie Kinderromane geschenkt, die Lust auf’s Weiterlesen machen. Sie haben Gedichte für Kinder ins Deutsche übertragen und Sachbücher zu den verschiedensten Themen übersetzt, von der Bronzezeit bis zum Klimawandel. Sie haben uns mitgenommen auf Reisen durch Raum und Zeit. Mit Ihren Übersetzungen helfen Sie uns und unseren Kindern, einander und die Welt besser zu verstehen und empathischer zu werden. Und immer wieder bringen Sie uns zum Lachen!
Ihre Jugendbuchübersetzungen sind so vielfältig, die Protagonist:innen so unterschiedlich. Ich denke da nur an Bou in Erna Sassens Das hier ist kein Tagebuch, der seit dem Selbstmord seiner Mutter nicht in sein Leben zurückfindet. Oder an den unendlich verliebten Thomas in Jan de Leeuws Eisvogelsommer: Er ist bei einem Unfall ums Leben gekommen und ist doch der posthume Ich-Erzähler des Romans. Und natürlich denke ich auch an Maria in Wie schön weiß ich bin von Dolf Verroen, ausgezeichnet mit dem Jugendliteraturpreis 2006 in der Kategorie Jugendbuch und dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis. Maria wächst auf einer Teeplantage im Surinam des 19. Jahrhunderts auf, sie ist die Tochter des Plantagenbesitzers. Zum zwölften Geburtstag bekommt sie einen Sklavenjungen, der nur ihr gehören soll. Die Sklaverei, die Ausbeutung und die brutalen Machtverhältnisse nimmt Maria geradezu gleichgültig als selbstverständlich hin. Ihre naive, unreflektierte Erzählstimme lässt die Leser:innen mit ungeheurer Kraft die Monstrosität des Systems erkennen. Eine außerordentlich starke Lektüre, die mir nicht mehr aus dem Kopf geht. Das zeigt die beeindruckende Leistung von Übersetzer:innen als Literatur- und Kulturvermittler:innen.
Bou, Thomas, Maria – das sind drei unterschiedliche Wirklichkeiten, drei ganz unterschiedliche Erzählstimmen – aber alle so tonsicher, so authentisch. Und gleichzeitig dem Original so treu. Lieber Rolf Erdorf, wie machen Sie das bloß? Ich gehe zu den Wurzeln zurück, haben Sie in einem Gespräch zu mir gesagt. Zu der ursprünglichen Intention des Originals. Denkwürdige Sätze, die zutiefst menschliche Fähigkeiten wie Feinfühligkeit und Empathie voraussetzen. Fähigkeiten, über die selbst das ausgefeilteste KI-System nicht verfügen kann.
Die große Liebe, die Sie Ihren Welten entgegenbringen – der niederländischen, der belgischen und der deutschsprachigen, bringt uns seit Jahren Literatur von großartiger Qualität, die Kinder und Jugendliche ernst nimmt und stärkt. Die vielen Gemeinsamkeiten der Sprachen machen das Übersetzen jedoch nicht einfacher, denn gerade hier kommt es auf die Feinheiten an.
Als wir Ihre beeindruckend lange Publikationsliste zusammengetragen haben, zählten wir über 170 Titel – wow! Die Jury zieht den Hut vor der unglaublichen Vielfalt Ihres Schaffens.
Lieber Rolf Erdorf, danke für diese reiche Palette, danke für Ihr Werk. Das ist Übersetzerhandwerk in vollendeter Form!