Straelener Preise an Eva Profousová und Lisa Mensing

(Hier folgen die ungekürzten Fassungen der Laudatioes, die in Übersetzen Heft 1/2025 in gekürzter Version abgedruckt sind)

Straelener Übersetzerpreis, Laudatio auf Eva Profousova

29.10.24

Von Carsten Hueck

Sehr geehrter Herr………., lieber Herr……….., liebe Frau………, liebe Jury, sehr geehrte Damen und Herren, lieber Herr………., liebe Eva Profousova!

Es ist mir eine große Freude, heute an dieser Stelle die Preisträgerin zu würdigen. Der Literaturpreis der Kunststiftung NRW, der Straelener Übersetzerpreis, ist ja nicht irgendeiner. Es gibt ihn nun seit über zwanzig Jahren – und das will was heißen in unserer kurzlebigen und atemlosen Zeit. Überhaupt, ein Literaturpreis für Übersetzer und Übersetzerinnen, wie gut ist das, wie nobel, wie wichtig.

Übersetzen ist ein gefährlich Ding. Das macht man nicht einfach mal so. Übersetzen ist existentiell und kann einen mitunter den Kopf kosten.

Ich las als Kind, unweit von hier, die Sage, in der sich einige raue Gesellen vom Rhein, etliche unter ihnen edlen Geblüts, auf eine Reise machen. Übersetzen, das werden wir noch sehen, auch anhand des Lebenslaufs der diesjährigen Preisträgerin, hat immer mit Reisen zu tun, dem Überqueren von Grenzen und Hindernissen. In diesem Fall war die Grenze ein Fluß und auf der einen Seite stehen die reiselustigen Recken, auf der anderen ein Fährmann, ein Übersetzer, dessen Profession im Mittelalter, in dem die Handlung dieser Geschichte ihren Platz hat, hochangesehen war. So viele Ströme gab es und so wenige Brücken. Und „der Fährmann war so reich, dass er nicht zu dienen brauchte, deshalb nahm er auch von fast niemandem Lohn an“ – so heißt es über ihn in der Übersetzung aus dem Mittelhochdeutschen von Helmut Brackert. Herrlich, denkt man, wenn man diese Position mit derjenigen zeitgenössischer Fährmänner und- frauen vergleicht. Aber, nachdem der Über-Setzer sich am anderen Ufer getäuscht sieht, erkennt, dass er unter falschem Vorwand dorthin gelockt wurde, ärgert er sich und lehnt den Auftrag ab. Das geht, wenn man aufrecht und /oder ökonomisch unabhängig ist. Allerdings gefällt das dem Auftraggeber, einem gewissen Hagen von Tronje, keineswegs und er enthauptet den Fährmann. So schnell kann’s gehen. Wer auf Unabhängigkeit und Selbstbestimmung in diesem Beruf pocht, kann leicht in den Zustand der Kopflosigkeit geraten.

Warum ich das erzähle? Dem kleinen Jungen, der ich war, hat sich diese Szene aus dem Nibelungenlied tief ins Gedächtnis eingebrannt. Und sie tauchte beharrlich wieder auf – zufällig würde ich sagen, Sigmund Freud sähe das wohl anders –  in Gesprächen mit Übersetzerinnen und Übersetzern, die ein wahrhaft edles Handwerk ausüben, die Spezialisten sind auf ihrem Gebiet. Und die gefährdet sind. Die etwas außerordentlich Wertvolles tun und immer noch nicht nicht in der Form honoriert werden, wie sie es verdienen. Daher lassen Sie mich an dieser Stelle auch danken, den Preisstiftern – dafür, dass sie die Arbeit und die Leistung von Übersetzern und Übersetzerinnen anerkennen. Und der Preisträgerin selbst, die sich dieser mitunter ja doch so unsicheren Kopf-und Knochenarbeit verschrieben hat.

Im Tschechischen bezeichnet das Verb „prekládat“ genauso den Akt des Übersetzens wie auch das Umladen einer Fracht wie auch das Versetzen eines Musikstücks in eine andere Tonart. Genau das tut die Übersetzerin, die Fährfrau Eva Profousova. Mit ihrer Kenntnis, ihrer Witterung, ihrem Gefühl, mit Erfahrung und festem Willen, mit Fleiß und Akribie, aber ja, auch mit Lust am Sprachspiel, mit Neugier, was diese Ware, dieses Stück Literatur ihr zu bieten hat, transponiert sie es. Sie lädt die ihr anvertraute Fracht um, findet Entsprechungen, überträgt das Tschechische mit beharrlichem Eigensinn und großem Verantwortungsbewußtsein ins Deutsche. Fährfrau – das ist nicht nur die Spediteurin, sondern auch die Gefährtin des Textes und seines Autors. Sie bringt uns seine Sprache zu Gehör, öffnet umsichtig und selbstbewußt einen Raum, den wir, deutsche Leser, des Tschechischen nicht mächtig, nur ihretwegen betreten können. Sie transponiert die Sprache, in der sie aufwuchs in die Sprache, in der sie inzwischen lebt.

Und lässt uns dadurch unsere eigene Sprache noch einmal neu hören. Das ist ja etwas, was Eva Profousova von vielen ihrer Kolleginnen und Kollegen unterscheidet: Sie übersetzt nicht in die Muttersprache, sondern aus ihr heraus.

Dieser Vorgang, der Verstoß gegen das Gebot der Muttersprachlichkeit, beklagte sie einmal, würde weniger als Akt der Kreativität, denn als Tabubruch angesehen. Es stünden Zweifel im Raum, im Spiel-und Sprachraum, ob auch ohne perfekte Kenntnis der Zielsprache, denn sie ist ja angelernt, quasi nachträglich erworben, ein literarischer Text tatsächlich adäquat übersetzt werden könne.

Denken wir an die Autoren und Autorinnen, die entgegen einer monokulturellen Auffassung von Literatur in den letzten Jahrzehnten eindrucksvoll die deutschsprachige Gegenwartsliteratur prägen, denken wir also an Lena Gorelik, Olga Grjasnowa, an Maxim Biller, Saša Stanišić, Maria Cecilia Barbetta, Tomer Gardi, Emine Sevgi Özdamar, Terezia Mora, Shida Bazyar, Dincer Güyceter oder Khue Pham, Marica Bodrozic und Dana Grigorcea – und ich nenne hier wirklich nur eine Handvoll – müssen wir unumwunden sagen: ja, man kann hervorragend Deutsch schreiben, auch wenn man es erst in der Schule gelernt hat. Was im Übrigen, Sie gestatten mir diese Bemerkung, nicht von all denen behauptet werden kann, die Deutsch quasi mit der Muttermilch aufgesogen haben. Denn wer sich bewußt in die deutsche Sprache begibt, will mehr, hört mehr, analysiert anders, schöpft die Möglichkeiten der Sprache bewußt aus, atmet tiefer.

Ich werde ein kleines Zitat vorlesen aus dem Roman von Jáchym Topol, „Ein empfindsamer Mensch“, in dem, um es unzulässig aber notwendig kurz zu sagen, eine tschechische Künstlerfamilie im Campingwagen durch Europa Richtung Osten reist. Lehnen Sie sich einen Augenblick zurück und lauschen Sie dem Sound der Topolschen Sprache im Deutsch von Eva Profousova:

„Der Kapuzenmann stapft tatkräftig voran. Vater stampft wie ein Elefant. Sie matschen über lebendgebärenden Untergrund. Von den Algen, ausnahmslos nur unter Mikroskop sichtbar, die sich hier in höchstens von Astronomen bezifferbaren Mengen vermehren, steigt zu den Wandersmännern ein Flimmern auf, ganz feinen Tönen gleich. In den Fußabdrücken, die das Grüppchen im sabschigen Moos hinterlässt, vollführen Myriaden von Muschellarven lustvolle Paarungsbewegungen. In rausspritzenden Wassertropfen schlängeln sich umtriebig beduselte Schwanzpfötchen und ganze Armeen von Steinfliegennymphen, Bacchantinnen des Wasserreichs. Geschöpfe, die nur Stunden leben, Tage, um zur Weihestätte von Larven zu werden, von Planktonorganismen und großen Wasserinsekten, den mit Beißern ausgestatteten Rekruten, über das Wasser schreitenden Bojaren des Insektenreichs. Das die drei Wanderer sehr selbstbewusst durchqueren.“

Selbstbewußt ist auch die Übersetzerin Eva Profousova. Lassen Sie sich nicht von ihrem bescheidenen Auftreten täuschen. Hier hören wir, da will jemand etwas ins Werk setzen. Rhythmus und sprachliche Feinheit, Atmosphärisches und Alltagssprache, Alliterationen und Witz. Schönheit und Banalität in kurzer Abfolge, einen barocken Mikrokosmos, das brodelnde Leben von Flora und Fauna, Organisches und Menschengemachtes. „Dem deutschen Text die Atmung des Originals beizubringen“, ist eines der erklärten Ziele der Übersetzerin. Es sind in Topols Texten sehr viele Sprachschichten vorhanden. Er kommt aus einer Familie, in der der Umgang mit Sprache zur Tradition gehört. Er weiß um die Literatur Mitteleuropas, kennt Bulgakow und Babel ebenso wie Havel, Milosz und Kundera. Und auch Allen Ginsberg und Jack Kerouac. Er ist modern, schöpft aber auch aus einem viel älteren Fundus. Die Überetzerin kann das erkennen, verstehen und übersetzen. Es ist ein Akt der Selbstermächtigung, mit solcher Arbeit in diesem Land anzukommen. Natürlich kann Eva Profousova das, sie ist eine würdige Preisträgerin und – in aller Unbescheidenheit – eine deutsche Schriftstellerin. Jedes Wort ist überprüft, ist abgelauscht, aufgehorcht, nachgeschlagen, vorgeschlagen, ausgewählt, eingewählt. „Horchen, horten, mopsen, klauen“, so hat selbst einmal ihre Arbeit als Übersetzerin charakterisiert. Das ist jetzt diese kecke Bescheidenheit, die sie auszeichnet. Sie kennt die Literatur ihres Geburtslandes, Exil-und Samisdat-Literatur, die Klassiker, die junge Literatur. Und macht es sich nicht leicht. Sie übersetzt Topol. Das geht nicht aus dem Stehgreif. Aber sie macht es. Sie springt in die deutsche Sprache, die, wir alle wissen das, so kalt sein kann, so unglaublich deutsch, so vernichtend präzise. Doch auch Türen bereithält, durch die man nicht nur in Abgründe gelangt oder das Luftreich des Traums, sondern auch in Räume des Glücks, der Anmut, des Spiels, des Humors. Man muss das fühlen, herauskitzeln, das Widerständige kneten. Die deutsche Sprache ist so reich. Und das spüren wir immer wieder, wenn Menschen wie Eva Profousova sich mit ihr befassen – das klingt jetzt sehr nüchtern, daher: – wenn Menschen wie Eva Profousova sie anfassen. Sie an die Hand nehmen, ihr folgen und sie halten, sie streicheln oder fest drücken, ihr eine Richtung geben, im Kopf die Landkarte Tschechiens.

Der Sprung in die Nicht-Muttersprache, nicht ins Kalte, wohl aber ins Unsichere, ist das hat auch eine lebensgeschichtliche Bedeutung für die diesjährige Preisträgerin. Zwanzig Jahre alt war sie, da reiste sie von Prag aus mit einer Reisegruppe in den Urlaub nach Jugoslawien. Heute kein Problem, man kommt von Prag aus in die ganze Welt. Damals, 1983, war so ein Abstecher behördlich zu genehmigen. In Jugoslawien traf Eva Profousova einen alten Freund wieder, der mittlerweile im Westen lebte. Von der Reisegruppe scheel beäugt, geriet sie in Rechtfertigungszwang, warum sie überhaupt mit ihm spräche, dem Flüchtling, dem Verräter, dem Anderen. Das mochte sie nicht.

Er kannte sich aus. Und die Studentin der ehrwürdigen Karlsuniversität zu Prag, nahm ihr Herz in die Hand, ging um die Ecke des kleinen Bahnhofs im slowenischen Grenzort Nova Goricia, gelangte auf dessen Rückseite und sprang. Setzte über, von einer Seite der Weltgeschichte auf die andere. Ein kleiner Zaun war zu überwinden, hinter dem sich ein Parkplatz mit Autos befand. Sie sahen nicht aus wie Maseratis und Lamborghinis und Alfa Romeos. Sondern es waren kleine mehr oder weniger rostige, klapprige und verbeulte Fiats. Aber der Parkplatz lag in Italien und aus der Tschechin Eva Profousova war eine Staatenlose geworden. Über Österreich ging es in die Schweiz, von dort nach Deutschland. Asyl wurde gewährt, damals noch ganz einfach, die Sicherheit, nach Republikflucht ins tschechische Gefängnis zu müssen, reichte als Grund völlig aus.

Deutschland verdankt den missfälligen tschechischen Urlaubern und den autoritären tschechischen Behörden wie auch dem niedrigschwelligen Grenzzaun eine seiner großen Übersetzerinnen, das Preisgeld sollte sie dennoch für sich behalten.

Da kam jemand in dieses Land, der gebildet, mutig und jung war. Zu studieren anfing, Geschichte und Slavistik in Hamburg, ein Jahr auch in Glasgow, und gerne über Nabokov promoviert hätte, denn auch dieser Autor, der aus Russland nach Deutschland gekommen war, wußte, was Exil, Heimatlosigkeit und Mehrsprachigkeit bedeuten. Von seinen 17 Romanen sind 9 auf Russisch, 8 auf Englisch verfasst. Ein weiterer Beleg dafür, dass man es auch außerhalb seiner Muttersprache zu etwas bringen kann.

In den 1990er Jahren eröffneten sich Perspektiven, die verheißungsvoll erschienen. Wir erinnern uns gerne – lange ist es her, dass man in Europa neugierig aufeinander war. Und die Literatur so inspirierend. Grenzüberschreitende Perspektiven sind inzwischen wieder geschrumpft. Umso wichtiger, sie zumindest in der Literatur aufzuzeigen. Und ein Preis wie dieser kann dabei helfen. Eva Profousova, die in den 90er Jahren im Konsulat der tschechischen Republik arbeitete, bekam wieder einen tschechischen Pass – und begann zu übersetzen. Die tschechische Gegenwartsliteratur würden wir ohne sie nicht kennen, ich erwähne stellvertretend die Bücher und Texte von Jarolslav Rudis, Radka Denemarková und vor allem eben Jáchym Topol.

Der sagte mir vor vielen Jahren: „Ich bin jetzt eine offiziell anerkannte Person. In der Zeit des Sozialismus war es unmöglich zu reisen. Oder Bücher zu veröffentlichen. Jetzt ist alles völlig anders. Und ich muß sagen, ich bin darüber glücklich. Und immer noch dieselbe Person. Bin ich das wirklich? Manchmal habe ich da meine Zweifel. Aber ich muß zugeben, es ist viel besser als früher.“

Ich glaube, diese Einschätzung teilt auch Eva Profousova. Sie ist sichtbar, als Übersetzerin, als Dozentin, Kuratorin und Leiterin einer deutsch-tschechischen Übersetzerwerkstatt. Ihre Arbeit ist sichtbar. Neben etlichen anderen Preisen macht das insbesondere der Straelener Übersetzerpreis deutlich.

„Ich merke, dass sich allmählich etwas verschiebt. Hatte ich anfangs Angst, Fehler zu machen, mich als Ausländerin zu outen, bin ich heute immer mehr bereit, mich zu meiner Herkunft zu bekennen und finde sie gleichzeitig immer weniger wichtig.  Wir alle kommen doch von irgendwoher, also was soll das. Aber es reizt mich zunehmend, nicht mehr nur tschechise Literatur zu vermitteln, sondern selbst einen Abdruck zu hinterlassen: ein tschechisches Wasserzeichen, einen Gruß an die alte Heimat, ein Geschenk an die deutschen Leser.“

Es wird heute eine Übersetzerin ausgezeichnet, die die gemeinsame deutsch-tschechische Literatur fortschreibt. Dafür danke ich insbesondere auch noch einmal der Jury.

Und da ich zu Beginn auf die Gefahren des Über-Setzens aufmerksam gemacht habe, auf das Los, das jenen unglücklichen Fährmann an der Donau ereilte, möchte ich hier am Rhein mit einem beglückenden Bild enden. Auch wenn in Düsseldorf die Zahl der Nichtgläubigen die der Katholiken mittlerweile übertrifft, wird wohl die Figur des Heiligen Christopherus bekannt sein. Ein Übersetzer par Excellence. Während viele Heilige Drachen besiegen und Jungfrauen retten, Wunder bewirken und dabei immer die große Bühne bevorzugen, ist Christopherus ein tragender Diener, der als Fährmann in einer Hütte am Fluss haust und Reisende sicher ans andere Ufer bringt. Er geht einer einfachen, schweren Arbeit nach. Als ihn der Ruf eines Kindes, „Fährmann, hol über“ erreicht, der für mich ähnlich klingt wie das tschechische „Ahoi“, setzt er ihn sich auf die Schulter und steigt in den Fluss. Doch, so schildert es die Schriftstellerin Felicitas Hoppe, „der vertraute Fluss wird zu einem Gewässer, das Widerstand leistet, während das Kind auf seinen Schultern zunehmend schwerer wird.“ Der Fährmann bekommt es mit der Angst zu tun. Dass er und die Kindsfracht dann doch das andere Ufer erreichen, liegt an der Kraft und dem Wunsch des Über-Setzers, seine Aufgabe zu einem guten Ende zu bringen. Er denkt nicht daran, eine besonders gute Figur abzugeben, ist nicht mit sich, sondern mit seiner Sache beschäftigt.

Insofern eignete sich Christopherus, der Schutzpatron vieler ist, aller Reisenden und im übrigen auch der Buchbinder, auch als Patron der Übersetzer und Übersetzerinnen, die schlicht und einfach ihre Arbeit machen und dem Ruf der Literatur folgen, die im Zweifelsfall größer ist und mächtiger als sie selbst. Und in der sie doch ein Wasserzeichen hinterlässt.

Eva, liebe Fährfrau, hol über, ich gratuliere von Herzen zu diesem schönen Preis. Ahoi, weiter so!

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Auf leisen Sohlen durch die Sprache. Laudatio für Lisa Mensing

„Ich wagte kaum zu atmen in all dieser Lautlosigkeit…“ (Robert Walser)

„Die Worte sind wie Haut auf einem tiefen Wasser“. Beim Nachdenken über die Protagonistin des Erzählwerks, Romans (oder Berichts? Tagebuchs?), Birkenschwester, übersetzt von Lisa Mensing aus verschiedenen, auf dem Umschlagtext als „Niederländisch“ ausgewiesenen Sprachen, fiel mir der Aphorismus des Wiener Philosophen Ludwig Wittgenstein wieder ein. Denn in dem Roman begegnen wir einer Frau, die um ein Mädchen namens Tully trauert, das ihre Schwester war, ihre Birkenschwester, wie uns der Titel des Werkes ins Bild setzt. Tully, von Geburt an taubblind, wird von ihrer Schwester und Ich-Erzählerin Mari erst durch ihr tastendes Dasein, dann in ein stilles Sterben begleitet: Ein langer, ein schmerzhafter, ein erkenntnisreicher, ein abenteuerlicher Prozess.

Mag sein, dass das alles ist, was wir einstweilen vorausschicken müssen, denn der Inhalt dieses Buches lässt sich nur in Ansätzen nacherzählen, ebenso wie die einschneidende Erfahrung, die die Erzählerin mit ihrer „Birkenschwester“ gemacht hat, nicht einfach geteilt oder mitgeteilt werden kann. Aus der Intimität der nicht verbalen Welt, in der sie stattfand, musste sie zudem erst in unsere semiotischen Zeichen übersetzt werden. Caro von Thuye hat diesen ersten Übersetzungsschritt für uns bewerkstelligt, Lisa Mensing den zweiten, wodurch sie uns als deutschsprachige Urheberin einer Geschichte entgegentritt, deren Ausgangssprache weitaus geheimnisvoller anmutet, als jede Fremdsprache es sein könnte. Denn das Meiste von dem, was die traumatisierte Heldin mit ihrer Schwester erlebt hat, findet nicht auf der symbolischen Ebene statt. Im Versuch, es dennoch aufzuschreiben, stößt die Chronistin zwei Mal an ihre Grenzen: Die Grenzen der Sprache, die uns, noch einmal dank Wittgenstein, als „Grenzen unserer Welt“ entgegentreten, und die Grenzen dessen, was der literarischen, vorher noch zeichenhaften Darstellung enträt. Etwas weniger umständlich gesagt: Was hier Sinn stiftet, ist nicht unbedingt das, was auch grammatikalisch Sinn ergibt.

Der Übersetzerin von Birkenschwester geht es dabei zunächst wie der Autorin. Als Schreibende verfügt sie über ein Wörterbuch für das Sprachliche, aber ihr ist bewusst, dass sie auch aus dem Wörterbuch für das Nichtsprachliche schöpfen muss, jenem, das niemals neben den Schreibenden, sondern in den Schreibenden liegt. Und wie bei den meisten ernstzunehmenden Sprach-Schöpferinnen erwacht ihr Forscherdrang vor allem dann, wenn es gilt, auch das zur Sprache zu bringen, was sich dieser anscheinend entzieht. Nicht wenig mithin, denn ebenso wie die Kommunikation zwischen den beiden Protagonistinnen des Romans nur anhand von Berührungen und Gesten gelingt, ist das Übersetzen dieser Kommunikation nur über ein umfassendes Begreifen und Erfühlen des Vorgeschriebenen möglich.

Erfühlen, echt jetzt? Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich meine durchaus nicht das posthermeneutische, essentialismusverdächtige Gebot der „Einfühlung“, das eine Zeitlang durch die Übersetzungswissenschaft geisterte und das sich der Auseinandersetzung mit der Materialität von Sprache und Stimme durch das Anschmiegen an eine Stimmung entzieht. Ich meine auch nicht die „Barrierefreiheit“ oder „Leichte Sprache“, die zurecht alle Vorsichten walten lässt, um niemanden von der Teilhabe an wichtigen Informationen auszuschließen. Was ich betonen will, ist, dass wir es hier mit einer Übersetzerin zu tun haben, deren Gefühl für Entsprechungen sich nicht nur auf die Bedeutungs-, sondern auch auf die individuelle Sinnsphäre der Wörter erstreckt.

Birkenschwester, so viel wissen wir mittlerweile, ist ein Roman über wortlose Empathie, über Sprache und ihr Versagen, was im Zusammenhang mit dem dennoch stattfindenden Erzählen und Übersetzen eine Art performativen Widerspruch ergibt: Musste die Übersetzerin, um die Wendungen des Buches auch ethisch adäquat zu übertragen, selbst stumm oder gehörlos sein? Natürlich nicht, sonst hätte sie die Aufgabe schwerlich übernehmen können. Aber vermutlich hat sie sich in seine Lebenswelt hineingedacht, vielleicht blinde oder taubblinde Menschen beobachtet, ihren Bewegungen abgelauscht oder abgeschaut, was nur über Umwege zur Sprache gebracht werden kann. Und hat dabei, aber das ist schon meine Interpretation, vielleicht aus einem anderen Winkel hinter die Wörter und ihre Bedeutungen geblickt: „Denn wenn die Wörter nur eine Bedeutung, die des Wörterbuches, hätten, wenn eine zweite Sprache nicht die ‚Gewißheiten der Sprache‘ verwirren und befreien würde, gäbe es keine Literatur“. (Roland Barthes)

Die Ausgangsbedingungen für Schreibende und Übersetzende sind hier durchaus miteinander zu vergleichen. Beide sollten misstrauisch werden, wenn sie sich einer Sprache gegenübersehen, die an der Sache vorbeigeht; beide sind idealerweise Anwältinnen dieser nicht-sprachlosen Sprache, für die im Bedarfsfall auch gekämpft werden muss. Denn das verbale Verstehen, das macht Caro Van Thuyne, gleichsam aus ihrem fiktiven Ich heraustretend, an einer Schlüsselstelle ihres Buches deutlich, ist vielleicht überbewertet. Zu entdecken wäre ein prozessuales, mehrdimensionales, sinnlich rezeptives Verstehen; ein Verstehen als Mitgehen, das neben dem kognitiven, also zu Kopf gestiegenen Wissen noch weitere Antennen und Organe aktiviert, von deren Existenz wir nur ahnen können. Ein solches Verstehen scheint sich weniger als Ergebnis denn als Ereignis zu konstituieren; in seiner das Körpergedächtnis aktivierenden Methode der „Symbolisierung“ ist es durchaus nicht mit den uns bekannten Sprachgebärden und Gebärdensprachen zu verwechseln. Aber ehe wir uns dieser geheimnisvollen Welt und ihren Ausdrucksmöglichkeiten nähern, hören wir wie Lisa Mensing ihre Instrumente handhabt, wie sie sie gestimmt hat und was sie mit ihnen erreicht:

Als du aus dem Krankenhaus nach Hause kamst, war das Tier immer noch da. Anscheinend war es sogar gewachsen, es passte gerade noch so unter die Decke, konnte nicht einmal den Kopf heben. (…) Ein laut schnaufendes, stinkendes, polterndes, wummerndes, brüllendes Mastodon.

In dieser Szene schildert Caro Van Thuyne, schildert Lisa Mensing eine Begegnung der anderen Art, so beunruhigend plastisch aus der Vorstellung gezeichnet, wie es nur die Angst einem eingeben kann. Was für ein seltsames Tier hat sich in das Zimmer der Heldin geschlichen? Es ist, so werden wir nach und nach begreifen, die Trauer, und schön sieht sie wahrlich nicht aus mit ihren „gemeinen Dreicksaugen. Den massiven Stoßzähnen. Dem wütenden Schwanz. Die Haut in langen ledrigen Falten vom ausgemergelten Bauch herabhängend. (…) Es flappte und spannte die kolossalen Ohren, trompetete und blies kräftig durch den bedrohlich schwingenden Rüssel. (…) Du dachtest, das sei das Ende…“

Nun, im Buch ist das mitnichten das Ende, wir befinden uns erst auf S. 17 des Romans. Doch so sprachmächtig, so sprachwach und so sprachargwöhnisch geht es weiter. Weiter mit der Trauer, der unkontrolliert wachsenden, unbezähmbaren, nicht wegzudrückenden; weiter mit dem ungleichen Kräftemessen; weiter in dem Versuch, eine Sprache zu finden, die der Trauer angemessen ist. Denn die Trauer, die so oft mit Sprachlosigkeit gleichgesetzt wird, wird uns hier als durch und durch eigenständige Akteurin präsentiert. Und als solche fördert sie nicht nur etwas zutage, sondern sie hat auch etwas zu sagen.

Noch einmal: Wir befinden uns hier auf den ersten Seiten des Buches, doch an diesem Punkt hat die Übersetzerin bereits ihr ganzes Repertoire entfaltet. Sie hat es entfaltet, aber sie wuchert nicht damit. Sie hält Maß, wenn es sein muss, und sie hält zurück, wofür die Zeit noch nicht gekommen ist. Wie zart und abwägend sie dabei verfährt, darüber haben wir in der Jurysitzung – also einem Format, bei dem ebenfalls viel geredet und wenig geschwiegen wird – gestaunt und uns gefreut. Wir haben unsere Eindrücke verglichen und nach und nach festgestellt, dass uns diese Übersetzung auf ihren 218 Seiten viel mehr zu lesen gibt als nur das, was schwarz auf weiß geschrieben steht. Dass die Sprache, in der sie verfasst ist, in ständiger Schwingungsbereitschaft verharrt, förmlich mit Sprunggelenken versehen. Dass die Übersetzerin vermag, auf leisen Sohlen zu wandeln, wie um den Raum des lautlosen Einverständnisses nicht zu stören, dass sie aber auch für einen krachenden Gestus gut ist, wenn es gilt, Unaufmerksame zu wecken. Dass wir uns mit ihr selbst durch wortlose Gefilde bewegen können, durch dieses Weiß, mit Vermutungen, Assoziationen, Anklängen gefüllt, das sich in den Zeilenhonoraren so wenig niederschlägt; dieses Weiß, das alle Bedeutungen anzieht und alle Deutungen aufnimmt.

Denn die Setzungen von Lisa Mensings Prosa, nun dürfen wir zu unserem Wittgenstein-Satz zurückkehren, sind wie Haut auf einem tiefen Wasser. Sie fesseln uns mit einem festen, sicheren Ton, der doch Doppelbödigkeiten zulässt. Sie legen ein fabelhaftes Gespür für Syntax an den Tag, eine Ökonomie der Syntax, könnte man sagen, die zusammen mit den schon genannten Punkten dafür verantwortlich ist, dass die Sätze wundersam in sich ruhen und das Narrativ trotzdem fortspinnen. Das Wortmaterial stabilisiert Mensing bedachtsam, sodass Poesie darin nisten kann; und hält es zugleich in Bewegung, wie das Gemüt eines Menschen hinter seinem Gesichtsausdruck beweglich bleibt. Mensings Wortfügungen sind nicht an der Oberfläche gearbeitet, sondern – stille Wasser sind tief – wie durch ein Senkblei mit ihren unsichtbaren „Gründen“ verbunden. Sie lässt sie leicht und unbeschwert fallen, wenn der Duktus der Erzählung das erfordert, und sie lässt sie im Dunkeln wurzeln wie Wasserrosen. Manchmal deutet sie die Tiefe auch bloß an, während sie oben die Spannung hält. Ihre Lösungen sind präzise, entschieden, rezeptiv.

Ich muss Ihnen nicht sagen, welch tiefgreifende Bewandtnis es mit den genannten Text-Eigenschaften hat, in einer Zeit, in der die Wörter zunehmend nicht nur von ihren unsichtbaren Gründen, sondern auch von ihren hervorbringenden Gehirnen getrennt sind. Auch auf solche Fragen hält Birkenschwester Antworten bereit, in einer Sprache, die dem verwandt ist, was die große österreichische Dichterin Ilse Aichinger „lautloses Bezeichnen“ genannt hat, oder eine „Bezeichnung“, die „durch Lautlosigkeit gedeckt“ ist. Lautlosigkeit, das meint nicht das Gegenteil von Sprache, Stimme oder Geräusch, es ist vielmehr eine besondere Qualität von Sprache, die von den Schreibenden an die Sprache herangetragen werden muss. Und die sprachliche Praxis, die sich aus dieser ethischen Umsicht und Vorsicht ergibt, kann nur eine sein, die vor dem Verstummen nicht nur nicht kapituliert, sondern mit anderen Sprachformen kooperiert. Denn das Problem ist ja nicht, lassen Sie es mich ein wenig provokanter formulieren, die Beeinträchtigung des Sprechens als solche, und schon gar nicht die sogenannte Unverständlichkeit, vor der sich immer noch viele Leute fürchten, sondern fast immer die Taubheit, Stummheit und Gesichtslosigkeit der Sprache, aus der uns die Literatur – hierfür haben uns Autorinnen wie eben Aichinger oder Ossip Mandelstam die Augen geöffnet – aufschrecken lässt, bisweilen sogar „in der Mitte des Wortes“ (O. Mandelstam). Genau hier aber sind die Übersetzerinnen gefragt, denen es nicht allein abverlangt ist, die Worte in ihren Zusammenhängen neu zu ordnen, sondern auch, sie aus ihren falschen Zusammenhängen herauszulösen.

Lisa Mensing, die heute für Birkenschwester mit dem Förderpreis ausgezeichnet wird, geht diesen Weg mit bewundernswerter Konsequenz. Die Semantik ihrer Texte ist nicht nur mit dem „Sinn“, sondern tatsächlich mit den Sinnen verknüpft. Übersetzend kommt sie mir bisweilen vor wie eine Gleichgewichtskünstlerin, die sich über ein dünnes Seil bewegt, das mehr durch atmosphärische Zustände als durch konkrete Handlungsabläufe gespannt ist. Sie registriert die Stimmungen und Nuancen, die in der Diktion des Originals mitschwingen und verliert dabei nie die „Lautlosigkeit“ aus den Augen, der sie verpflichtet ist. Im Erfühlen macht sie die Fülle sichtbar; im Sinnen das Entsinnen. Auf der Gratwanderung von nachschaffender Genauigkeit und öffnender Hingabe (von Wissen und Vertrauen) hat sie von Anfang an ihr Maß gefunden.

Aber noch einmal, wie geht das zusammen, wie geht das zu? Eine Sprache, die die eigene Beschränktheit in ihren Horizont mit hineinnimmt? Meine Antwort ist: Es hat auch mit inneren Bildern zu tun. Denn fast in jeder Übersetzung gibt es den Punkt, wo das Original so weit verinnerlicht wurde, dass die Verhältnisse von Standbein und Spielbein sich umkehren. Dann werden wir frei, weil das innere Bild sich gefestigt hat; und unsere Sprache wird sicher und fest, weil das innere Bild sie trägt. Eine Stelle aus Birkenschwester scheint wie gemacht, um dieses motorische Prinzip zu illustrieren:

Der Rhythmus des Einen-Fuß-vor-den-anderen Setzens zog sie einfach aus der Zeit, so erklärte sie mir das. Vor allem brauchte sie diesen metronomischen Rhythmus, sagte sie, und die Stille und die Isolation. Nur noch Füße zu sein, nur noch der Rhythmus der schreitenden Augen zu sein, zu schauen und sonst nichts.

Diese Worte sind Auftrag und Einladung zugleich, sowohl für uns Leserinnen als auch für die ungleich involviertere Übersetzerin. Denn auch sie geht mit dem „metronomischen Rhythmus“ mit, auch sie war vielleicht auf „die Stille und die Isolation“ angewiesen, um in ihn hineinzufinden. Auch sie musste „schreitenden Auges“ vorangehen und auch sie hatte die Aufgabe, den Text aus seiner Zeit in die Eigenzeit der Literatur und Übersetzung (zusammen: „Literaturübersetzung“) hinüberzuretten. Auch sie musste die Tempi, die Beschleunigungen und retardierenden Effekte dosieren, sich vielleicht mit der „Technik des vierhändigen Sprechens“ auseinandersetzen, über das Caro Van Thuyne in ihrem Nachwort schreibt: „Die vier Hände sind in solchen Momenten oft merkwürdig ineinander verschlungen, was für Sehende verwirrend sein kann, aber das taubblinde Kind ‚durchschaut‘ (durchspürt) das alles.“

Könnte das auch ein Bild für den Spür-Sinn der Übersetzenden sein, in seinem (empfindlichen) Moderieren von Zeit, Wort und Bewegung? In seiner Eigenschaft, das Empfinden in die Sprache und ihre Gesten zu legen, anstatt es im eigenen Auftrag zu kultivieren? Denn die Rede der Übersetzenden besetzt nicht, sie schlüpft in das Innere der Wörter und dehnt ihren Möglichkeitsraum aus. Und wenn wir, im Moment vielleicht noch stärker als sonst, die Erfahrung machen, dass Sprach- und Weltlosigkeit zunehmen, dann tun wir gut daran, uns denen anzuvertrauen, die sich der Sprache weniger bemächtigen, als sie nachschaffend in einem neuen Lebensraum zu beheimaten. Kein Wort, kein Sterbenswörtchen soll verloren gehen!

Lisa Mensing, der hellhörigen Übersetzerin aus literarischen und anderen Sprachen, sei im Namen der Jury des Straelener Förderpreises ganz herzlich gratuliert.