Celan-Preis an Andrea Spingler

(Dies ist die ungekürzte Fassung der Laudatio, die in Übersetzen Heft 01/2022 in Auszügen abgedruckt ist)

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Andrea,

„Fremde Nähe“, das ist die Quintessenz eines Konzepts – man könnte auch sagen: Credos –, nach dem Paul Celan aus gleich sieben Sprachen übersetzte. Zu Lebzeiten durchaus mit dem Vorwurf einer „celanischen Manier“ seiner Übersetzungen konfrontiert, avancierte er doch schon bald nach seinem Tod zum Klassiker dieses Metiers. Die Sprache überhaupt, das Verhältnis der Sprachen zueinander, der Abgrund zwischen den Sprachen – das war es, was Celan beschäftigte und worin eine Nähe zu Heidegger, trotz seines insgesamt problematischen Verhältnisses zu ihm, sichtbar wird. Um es mit dessen ikonischen, immer wieder zitierten Worten aus den Heraklit-Vorlesungen von 1943 zu sagen: „Hier wird das Übersetzen zu einem Übersetzen an das andere Ufer, das kaum bekannt ist und jenseits eines breiten Stroms liegt. Da gibt es leicht eine Irrfahrt und zumeist endet sie mit einem Schiffbruch.“

Nun hat Celan – neben wenigen Ausflügen ins prosaische Gebiet – vor allem Lyrik übertragen, nach- und umgedichtet. Unsere Preisträgerin, Andrea Spingler, dagegen konzentriert sich auf Prosawerke, und dies ausschließlich aus dem Französischen. Ihr Weg führte sie in den frühen 80er Jahren von Sartre-Übersetzungen für Rowohlt zu Robbe-Grillet bei Suhrkamp, dessen Sprachspiele und Perspektivwechsel sie noch mehr begeisterten als Sartres existentialphilosophische Reflexionen. Und weiter ging es, über fast vier Jahrzehnte und mit verschiedenen Verlagen, mit Autoren wie Duras und Modiano ebenso wie mit Klassikern: Gide, Yourcenar, Alexandre Dumas. Besonders am Herzen aber lagen ihr glaube ich immer zeitgenössische vor allem Autorinnen: Unter anderem Pascale Kramer, Paule Constant, Yasmine Ghata, Maylis de Kerangal und zuletzt Marie-Hélène Lafon.

Wie aber steht es mit Andrea Spinglers Verhältnis zur Übersetzungstheorie? Danach gefragt, was sie bei Übersetzungen antreibe, sagt sie mit entwaffnender Lakonie: „Sätze machen, die funktionieren“. Ja, Andrea Spingler ist keine Theoretikerin ihrer Übersetzungskunst, oder zumindest hält sie ihre Theorie beharrlich geheim. Ich kenne nicht einmal Rechenschaftsberichte, eigene Nachlesen ihrer Arbeit, wie sie doch bei anderen bedeutenden Übersetzern nicht selten sind. So wie etwa Luzius Keller in seiner schönen Studie „Lire, traduire, éditer Proust“ freigiebig Auskunft erteilt über seine Prinzipien der Proust-Aneignung. Nein, Andrea Spingler nimmt ihre übersetzerische Fracht, setzt über und landet sie, ohne Schiffbruch, am anderen Ufer, wo ihre Autorinnen und Autoren das neue Land einer fremden Sprache trockenen Fußes und bester Laune betreten. So manche Stromschnelle hat sie dabei überwunden, aber sie selbst bleibt hinter dem bestmöglichen Auftritt und Erfolg der ihr Anvertrauten zurück, macht sich nahezu unsichtbar, hinterlässt keine theoretische Spur. Und damit ist sie zweifelsfrei in guter Gesellschaft. Dieter E. Zimmer, der große Nabokov-Übersetzer und Kritiker, hat einmal geschrieben: „Eine Übersetzungstheorie hatte ich nicht und sollte ich auch später nicht entwickeln (bei der Praxis des Übersetzens hilft sie genau so wenig wie die Thermodynamik bei der Zubereitung eines Rostbratens)“. Das könnte von Andrea Spingler stammen, wenn sie denn den Verzicht auf Theorie theoretisch begründen wollte. Man muss es einfach schmecken.

Einhellig in der Kritik ist das Lob von Andrea Spinglers sicherem Gespür für die Musikalität und Rhythmik eines Textes und der „Klarheit“ ihrer Übertragungen. Bei Dumas wird ihr entpathetisierter Duktus gelobt, entpathetisiert wohlgemerkt nicht im Vergleich zum Original, sondern im Vergleich zu unserer bisherigen Insel-Übersetzung, zwar schon älter, aber immerhin verfasst von keinem geringeren als dem, wenngleich nicht unumstrittenen, Ulysses-Übersetzer Georg Goyert. Sie beherrscht die knappe, viel Ungesagtes mitschwingen lassende Sprache einer Marguerite Duras genauso wie die kunstvolle Lakonie Agota Kristofs. Aber eben auch Maylis de Kerangals temporeiche Parataxen: man denke nur – wenn man es gelesen hat – an den furiosen Auftakt ihres Organspende-Romans „Die Lebenden reparieren“, eine Eloge auf das Herz des verunglückten Simon Limbres, die in einem einzigen verschachtelten Satz über mehr als eine Seite geht, ohne dass man auch nur einen Moment den Überblick verliert. Oder nehmen wir den besonderen Stil, die teils ungewöhnlichen Wendungen und kunstvoll austarierten Sätze einer Marie-Hélène Lafon, unter anderem in ihrem letzten Roman, „Die Annonce“, dessen Übersetzung ja einer der Anlässe für die Verleihung dieses Preises ist. An diesem Buch, erschienen im Rotpunktverlag, gefällt mir besonders, wie in dieser gewählten Sprache von eher einfachen Menschen erzählt wird, die selbst eben gerade wenig wortgewandt sind. Lafons Sprache ist hochgradig verknappt und präzise und verlangt, genauso verknappt und präzise übersetzt zu werden. Da muss man das richtige Wort finden, die innere Logik und den Rhythmus der Sätze erhalten.

Wie schafft man das? Schwer zu sagen – oder ganz einfach. Lesen, lesen, lesen gehört sicher dazu, und Andrea Spingler ist eine leidenschaftliche Leserin. Sicher auch Erfahrung im Umgang mit allen möglichen Arten von elaborierten Texten, aber ich denke, dass Andrea Spingler auch in ihren Anfängen mit Sartre schon gut war. Und selbstverständlich eine außergewöhnliche Sprachkompetenz in dem, was man „die Ausgangssprache“ nennt. Nur daraus entsteht das Gefühl für Originalität und Konventionalität der Sprache, aus der übersetzt wird, nur so entgeht man der „Originalitätsvermutung“, eher ein Anfängerfehler. Andrea Spingler lebt seit vielen Jahren mindestens zur Hälfte in Frankreich; und am liebsten würde sie ganz dort leben, wie sie mir gestanden hat.

Nun gestatten Sie mir noch ein paar Anmerkungen aus der Praxis im Verlag. Ich habe anlässlich dieser Laudatio natürlich darüber nachgedacht, warum ich so gern mit Andrea Spingler zusammenarbeite. Als Lektorin beschäftige ich mich eher weniger mit Grundsatzfragen, sondern halte mich an meine Erfahrung: Ich weiß, wer einfach gut übersetzt und mit wem ich schon gut zusammengearbeitet habe. Ganz wichtig: Dass man sich ohne große Worte versteht. Man tauscht sich aus, korrigiert sich hin und her, und oft findet die Übersetzerin oder der Übersetzer nach zwei passablen Lösungen dann die dritte und beste. Aber diese Findung setzt etwas voraus, was Andrea Spingler in hohem Maße auszeichnet: Das Gefühl der Unsicherheit, eine Professionalität des Selbstzweifels. Unsicherheit zu spüren und Selbstzweifel zu haben, das sagt sie von sich selbst, gute Kritiken und zahlreiche Auszeichnungen, die sie bekommen hat, hin oder her. Denn sie weiß, dass es (fast) immer nicht nur eine Möglichkeit gibt, in einer Übersetzung etwas auszudrücken, so wie es in der Ausgangssprache selten nur die eine einzige Möglichkeit gibt, etwas zu sagen. Dass jede Übersetzung eine Entscheidung gegen andere Möglichkeiten ist.

Einmal, am Anfang unserer Zusammenarbeit, habe ich Andrea Spingler gefragt, wie sich ihrer Erfahrung nach das Längenverhältnis zwischen französischem Original und deutscher Übersetzung darstellt. Beim Englischen kann man ja davon ausgehen, dass der deutsche Text bei einer literarischen Übersetzung 15-20 Prozent länger ausfällt, wofür es verschiedene sprachimmanente Gründe gibt: die reduzierten Wortlängen im Englischen ebenso wie die englischen Infinitive, für deren Übersetzung man im Deutschen häufig Nebensätze benötigt etc. Nun ging bei uns im Verlag das Gerücht um, dass auch bei einer französisch-deutschen Übersetzung der deutsche Text immer, wenngleich nicht erheblich, länger sei als der französische. Aber Andrea hat mich mit der entschiedenen Behauptung verblüfft, dass dem nicht so sei, und wenn doch, das nur daran liege, dass die Übersetzung versuche, den französischen Text zu erklären. Das sei aber gar nicht nötig und daher zu vermeiden. Tatsächlich habe ich feststellen können, dass sie eine Meisterin darin ist, dieser landläufigen Versuchung des Erklärens zu widerstehen.

Genau das führt uns zum Schluss noch einmal zu Celan zurück. In einem Brief an den seinerzeitigen Feuilletonchef der NZZ, Werner Weber, formulierte er suggestiv: „Bedenken Sie, sehr verehrter Herr Dr. Werner Weber, die Vielsilbigkeit, die Schwersilbigkeit des Deutschen im Vergleich mit dem Französischen! Dass es mir gelang, unter Hinzunahme einer einzigen Silbe auszukommen, d. h. das im Französischen Wort Gewordene noch einmal in seiner – dichterischen – Wörtlichkeit zu aktualisieren: das danke ich – verzeihen Sie die Emphase –, das danke ich … den Göttern.“ Eine selbstbewusste, geradezu gewalttätige Aussage, mit der Celan auf einer kongenialen Annäherung an das Fremde besteht. Und es ist in Richtung seiner lyrischen Dichtung gesprochen. Andrea Spingler würde sich einen solchen Hinweis auf die eigene Leistung sicher nicht herausnehmen, und doch beleuchtet Celans Diktum einen, vielleicht den wichtigsten Aspekt auch in ihren Übersetzungen: Die Wendung im Deutschen finden, die das, was im Französischen gesagt wird, trifft oder zumindest in einer gewissen Schwebe hält, ohne explanatives/explikatives Surplus, die Annäherung an das infinitesimale Eins-zu-Eins von Ausgangs- und Zielsprache. Aber damit sind wir fast schon wieder bei der Theorie. Und die ist, definitiv, nicht die Sache Andrea Spinglers, dieser Frau für die entschiedene Praxis.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und gratuliere Dir, liebe Andrea, ganz herzlich zum Paul-Celan-Preis und wünsche Dir und uns noch viele schöne Übersetzungsprojekte.