Meilensteine der Berufspolitik. Ein Übersetzen-Märchen

Es war einmal vor langer Zeit, da sah die Arbeit von Übersetzerinnen und Übersetzern völlig anders aus als heute. Allein mit ihrem Text saßen sie im stillen Kämmerlein und tippten auf ihrer Schreibmaschine, ohne Computer, ohne Internet. Seitdem vereinfachten ihnen zahlreiche technische Errungenschaften die Arbeit. Doch auch die zwischenmenschliche Vernetzung entwickelte sich über die Jahrzehnte stetig weiter. Am Anfang stand im Juni 1972 eine Vision Elmar Tophovens, die er in folgende Worte fasste:

Wenn man sich nun in irgendeiner Abenddämmerung eine Insel der Seligen, ein irdisches Elysium der Übersetzer vorstellt, so würde dort die Kunst des Hörens, Verstehens und Wiedergebens fremdsprachiger Literatur derart von den Älteren an die Jüngeren überliefert, daß nicht jeder einzelne Anfänger, wie so lange Zeit, immer wieder von vorne anfangen müßte, hellhörig zu werden. Die Arbeitserfahrungen, die eigentlichen Früchte der Arbeit, der von der Spreu gesonderte Weizen würde jeweils in der rechten Weise ausgesiebt werden. […] Eine strenge Auslese der Körnchen, die unumgänglichen Wortbildungen oder übersetzten Neologismen, würden dem Lexikographen zur Speisung des elektronischen französisch-deutschen und deutsch-französischen Sprachspeichers angeboten, um dafür immer dann, wenn Wörterbücher keinen Rat mehr geben, ganze Reihen von Äquivalenten mit Kontext-Beispielen abrufen zu können. […]

Was wurde aus dieser Vision? Geleitet von Elmar Tophoven und Klaus Birkenhauer nahm das Projekt konkrete Formen an, wie der Auszug aus dem Förderantrag von 1977 zeigte. Für das „Europäische Übersetzerkollegium“ in Straelen vorgesehen waren Apartments für Übersetzer sowie Vortrags- und Konferenzräume, aber auch eine Einliegerwohnung für das Hausmeisterehepaar. Das Herzstück indes war die Bibliothek mit Wörterbüchern und Nachschlagewerken (5.000 Bände).

Und so geschah es. Keine zwei Jahre später eröffnete das EÜK in vorläufigen Räumlichkeiten. Von der Gründungsveranstaltung, in deren Rahmen intensive Werkstätten mit deutschen, französischen und niederländischen Autoren stattfanden, berichtete Elmar Tophoven im April 1979.

[…] Ein Zettelkasten mit über tausend von allen Beteiligten beigetragenen Arbeitsnotizen konnte zu Rate gezogen werden, um die Gültigkeit einzelner Entscheidungsprozesse zu überprüfen. Die übersetzten Texte wurden vom Tonband abgespielt und Abschnitt für Abschnitt nochmal vorgenommen. […] Alle Erörterungen wurden von einem zweiten Magnetophon aufgenommen […]

Es versteht sich von selbst, daß man an einem Ort, wo ein Dutzend Übersetzer ihre Einsichten vermitteln, mehr vom geheimnisvoll erscheinenden Weben der Sprachen in den Blick bekommen kann, als jeder Einzelne es in der Isolation vermag.

Ein Anfang war gemacht. 40 Jahre nach seiner Gründung war die Bedeutung des EÜK unbestritten. Alles schwärmte von diesem besonderen Ort. So erzählte etwa Maria Csollány zum 20-jährigen Jubiläum 1998, dass sie sich nur schwer in eine Zeit vor dem EÜK mit seiner damals 90.000 Bände umfassenden Bibliothek zurückversetzen konnte. Die dort herrschende Atmosphäre verdeutlichte sie mit folgender Anekdote:

[…] als eine Kollegin und ich vor zwölf Tagen wieder einmal ins Kollegium kamen und –noch im Mantel – von den Anwesenden begrüßt wurden, stürzte uns aus der Küche eine belgische Kollegin entgegen: „Gut, daß ihr da seid. Sagt mal, kann man das Wort ‘vierschrötig’ nur auf den Körperbau oder auch auf geistige Eigenschaften anwenden? Das steht nämlich nicht im Wörterbuch!“ Wir waren zu Hause angekommen.

Doch nicht nur in diesem „Übersetzerzuhause“ fand ein reger Austausch statt. Den Grundstein legten ab 1968 jährlich die Esslinger Gespräche des VdÜ, bei denen erstmals die Idee entstand, Kolleginnen und Kollegen in akuter Wortnot aktiv zu unterstützen. Und so gab die Redaktion des Übersetzers im März 1972 die neu begründete „Aktion Kollege in der Klemme“ bekannt:

Anläßlich des 4. Esslinger Gesprächs haben die dort Versammelten beschlossen, einen Kameradschaftsnotdienst einzurichten, der das Spezialwissen einzelner vergesellschaftet und jedem Kollegen, der schuldlos in die Verlegenheit geraten ist, plötzlich etwas über das Vorkommen und die Geschichte Schriddescher Krebshaare oder über den Symbolwert von Zahnmuscheln bei den Yurokindianern wissen zu müssen, ein kleines ’Gewußt wo’ in die zitternde Hand drückt. […]

So half man sich also gegenseitig per Telefon und Post, bereits über Landesgrenzen hinweg und mit großem Erfolg. An Mailinglisten, Internet-Foren oder Facebook-Gruppen war noch nicht zu denken.

Doch in all der Zeit kamen auch das gemeinsame Tagen, Lernen und der persönliche kollegiale Austausch nicht zu kurz. Das Wolfenbütteler Gespräch als Arbeitstagung und Lernort mit geselligem Beisammensein bezeichnete Andrea O’Brien 2015 in ihrem Beitrag als „Zeit der Zärtlichkeit“:

Als ich in aller Herrgottsfrühe meinen Rollkoffer zur U-Bahn-Station zerrte, wischte der freundliche Italiener an der Ecke gerade die Tische vor der Eisdiele ab. »Urlaub?« fragte er mit Blick auf mein Gepäck. »Nee, Tagung«, rief ich zurück und zog weiter. Seine mitleidige Miene warf bei mir die Frage auf, wie der gute Mann sich die von mir angedeutete berufliche Zusammenkunft wohl vorstellen mochte. Vielleicht dachte er an Ärztekongresse, Rechtsanwaltskonferenzen oder Bibliothekarstagungen. Ich kicherte. Wenn der wüsste!

Schon auf dem Bahnsteig in München traf ich, immer noch verdammt früh am Tag, auf eine Gruppe Kollegen und nahm umgehend erste Kuschelkontakte auf. Nach einem Jahr mit nur sporadischen kollegialen Umarmungen war mein Tank fast leer, und wie wir alle wissen: Keiner kuschelt so gut wie ein Literaturübersetzer.

Literarische Übersetzerinnen und Übersetzer mussten stets um die rechtliche und finanzielle Sicherheit ihrer Arbeit kämpfen. Deshalb setzte sich der VdÜ für die Anerkennung literarischer Übersetzer als Autoren und Urheber ein, genau wie für ihre auskömmliche Vergütung. Mit dem Börsenverein des deutschen Buchhandels erarbeitete man 1982 einen Normvertrag, der zuletzt 2019 erneuert wurde.

Dennoch benötigten Literaturübersetzerinnen und -übersetzer weiterhin finanzielle Unterstützung. Und so kam es bereits 1966 zur Gründung des Freundeskreises literarischer Übersetzer. 31 Jahre später regte schließlich dessen damalige Präsidentin Rosemarie Tietze die Gründung des Deutschen Übersetzerfonds an, der die Arbeit und Sichtbarkeit literarischer Übersetzerinnen und Übersetzer auf vielfältige Art und Weise fördern sollte. Seinen 20. Geburtstag beging der DÜF 2017 mit einem Gespräch zwischen Maria Hummitzsch und Rosemarie Tietze:

Von den ersten Anfängen des DÜF wusste Rosemarie Tietze lebhaft zu berichten. Wie sie zum Beispiel 1997 als Präsidentin des „Freundeskreises zur internationalen Förderung literarischer und wissenschaftlicher Übersetzungen“, eines Vereins mit 25 Mitgliedern, den Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Roman Herzog, kontaktierte („quasi von Präsident zu Präsident“) und dieser tatsächlich ihrer Einladung folgte. Oder wie 1998 das Innenministerium dem Fonds „aus Restmitteln … eine dreistellige Summe“ für den Stipendientopf versprach und sich herausstellte, dass damit ein dreistelliger Tausenderbetrag gemeint war, nämlich 100.000 DM. Stipendien konnten somit vergeben werden, allerdings erst, nachdem zur Aufbringung der Portokosten – für welche die Fördermittel ja nicht vorgesehen waren – eine Kollekte im Kollegenkreis veranstaltet worden war. […]

Indes dachten beide die Erfolgsgeschichte des DÜF weiter in die Zukunft bis zur Einführung eines Grundeinkommens für Literaturübersetzerinnen und Literaturübersetzer. Eine Utopie, nach der man nur gemeinsam streben könne, wie Maria Hummitzsch es formulierte: mit Beharrlichkeit und kollegialer Solidarität.

Und dies ist das vorläufige Ende unserer Geschichte voller übersetzerischer Selbsthilfe, Zusammenarbeit und Unterstützung. Es ist eine Geschichte der Heldinnen und Helden wie Rosemarie Tietze, Elmar Tophoven und Klaus Birkenhauer, aber auch der Kollegialität im Kleinen, ob als Retter für Kollegen in der Klemme, bei Seminaren oder persönlichen Begegnungen im EÜK und in Wolfenbüttel.

Und so übersetzen sie glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage …