Dank Straelener Übersetzerpreis

Dankesrede vom 14. September 2021

Sehr verehrte Frau Dr. Hendricks, sehr geehrter Herr Prof. Sternberg, sehr verehrte Frau Fretter, sehr geehrter Herr Dr. Behrens, verehrte Jury, lieber Jan Konst, liebe Mitpreisträgerin, liebe Gäste!

Als mich Mitte März ein Anruf von der Kunststiftung NRW erreichte und eine freundliche Dame mir mitteilte, ich bekäme den diesjährigen Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW, fiel ich erst mal aus allen Wolken. Schließlich ahnte ich, wie viele Übersetzer*innen sich jedes Jahr für diesen renommierten Preis bewerben bzw. wie viele herausragende Übersetzungen von Verlagen dafür eingereicht werden. Außerdem lag die Frage meiner Lektorin Sabine Erbrich vom Suhrkamp Verlag, ob ich einverstanden sei, wenn sie meine Übersetzung Was man sät von Marieke Lucas Rijneveld für diesen Preis einreichen würde, bereits so viele Monate zurück, dass mir die ganze Angelegenheit, ehrlich gesagt, gar nicht mehr so präsent war. Vielmehr legte ich gerade allerletzte Hand an meine Übersetzung des zweiten Romans von Marieke Lucas Rijneveld, die noch in diesem Monat unter dem Titel Mein kleines Prachttier bei Suhrkamp erscheinen wird. Und an diesem Roman hatte ich mir so sehr die Zähne ausgebissen, dass die Arbeit an Rijnevelds Debüt ein wenig in den Hintergrund getreten war. Aber nur kurzzeitig. Dann fiel mir sehr genau wieder ein, wie ich zu diesem Buch bzw. dieses Buch zu mir gekommen war. Die Anfrage des Suhrkamp Verlags, ob ich den Debütroman der jungen, damals erst 27-jährigen niederländischen Autorin Marieke Lucas Rijneveld übersetzen würde, der in den Niederlanden gerade Furore machte, erreichte mich zu einem Zeitpunkt, als ich so langsam daran dachte, beruflich kürzerzutreten und vor allem keine neuen Autor*innen mehr anzunehmen. Immerhin hatte ich das offizielle Renteneintrittsalter schon längst überschritten. Ich machte dann aber aus Neugier den „Fehler“, das Buch zu lesen, und schon waren alle guten Vorsätze dahin. Dieses so besondere Debüt der jungen Autorin ging mir derart zu Herzen und reizte mich aus übersetzerischer Sicht so sehr, dass ich nicht lange überlegte, sondern zusagte. Zum Glück gab es die öffentliche Diskussion damals noch nicht, ob farbige, linksgerichtete, homosexuelle, hundefreundliche Autor*innen nur von farbigen, linksgerichteten, homosexuellen, hundefreundlichen Übersetzer*innen adäquat übersetzt werden können, zumindest war sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht so voll entbrannt, dass sie auch an mein Ohr gedrungen wäre und mich in meiner Entscheidung beeinflusst hätte. Nach diesen Kriterien hätte ich, mit meinen gut über siebzig Jahren, niemals das Werk einer noch nicht mal dreißigjährigen Autorin übersetzen dürfen. Ironie der Geschichte: Marieke Lucas Rijneveld wurde zweieinhalb Jahre später selbst Opfer dieser Diskussion: Als bekannt wurde, dass sie den Auftrag angenommen hatte, das Gedicht von Amanda Gorman ins Niederländische zu übertragen, das diese zur Amtseinführung des neuen amerikanischen Präsidenten geschrieben und vorgetragen hatte, erhob sich ein derartiger Shitstorm in den Medien, dass sie den Auftrag schließlich zurückgab. Man warf ihr vor, als Nicht-Farbige nicht in der Lage zu sein, Gormans Gedicht adäquat übersetzen zu können. Die Tatsache, dass Rijneveld selbst eine vielgerühmte und preisgekrönte Lyrikerin ist, wenngleich zugegebenermaßen ohne einschlägige Übersetzer*innenerfahrung, vermochte erstaunlicherweise den Vorwurf nicht zu entkräften, sie könne sich aufgrund ihres so unterschiedlichen kulturellen und sozialen Hintergrunds niemals gut genug in die Denk-, Erfahrungs- und Gefühlswelt einer jungen farbigen Lyrikerin hineinversetzen.

Nimmt man diese Kriterien als Maßstab, so hätte ich also den Auftrag, den Roman einer siebenundzwanzigjährigen, streng kalvinistisch erzogenen, auf einem Bauernhof aufgewachsenen, nach eigenen Aussagen non-binären Frau zu übersetzen, niemals annehmen dürfen. Ich vertrete in dieser Frage allerdings einen anderen Standpunkt, und der Suhrkamp Verlag tat und tut es offenbar auch. Für mich steht Professionalität an erster Stelle, für mich zählt, ob eine Übersetzer*in ihr Fach beherrscht, ob sie in der Lage ist, das Original in jeder Bedeutungs- und Konnotationsnuance zu erfassen und dann so in ihre Muttersprache umzusetzen, dass eine Wirkungsäquivalenz entsteht. Wenn sie das kann, darf sie meinetwegen gern grünhäutig sein, blaue Haare und rosa Augen haben, darf politisch anderer Meinung sein, eine andere sexuelle Orientierung haben, und sie darf auch deutlich älter oder jünger sein als die Autor*in des Buches, das sie übersetzen soll. Eine Übersetzer*in sollte sich mit jedem Buch in eine komplett neue Welt hineinversetzen können, sollte fremde Gedankengänge nachvollziehen können und, ähnlich einem Chamäleon, das sich farblich an seine jeweilige Umgebung anpasst, in der Lage sein, das auf der sprachlichen Ebene zu tun. Übrigens kenne ich meine eigenen Grenzen, ich würde beispielsweise niemals einen Roman übersetzen, der komplett im gerade gängigen Jugendjargon verfasst ist. Und mir fallen noch eine Menge Dinge ein, von denen ich unbedingt die Finger lassen würde. Im Falle von Was man sät galt es, die Gedanken und Gefühle, die Ängste und Sorgen der zehnjährigen Protagonistin nachzuempfinden und im Deutschen so nachzubilden, dass sie beim deutschen Leser die gleichen emotionalen Reaktionen hervorrufen wie beim Leser der Originalversion; es galt, in der oberflächlich betrachtet nüchternen, fast kahlen Ausdrucksweise der kleinen Jas deren seelische Nöte mitschwingen zu hören und im Deutschen ebenfalls unterschwellig zum Ausdruck zu bringen, diesen ganz besonderen, todtraurigen Jugendlichen-Ton zu treffen; darüber hinaus landwirtschaftliche Fachbegriffe zu recherchieren und deutsche Entsprechungen zu finden – hier lassen die vorhandenen Wörterbücher leider sehr zu wünschen übrig –, was mir zum Teil dadurch erleichtert wurde, dass im Internet zu fast allem eine kompetente Stimme zu finden ist. Nie werde ich den erstaunten Blick meines Mannes vergessen, der gerade in mein Arbeitszimmer trat, als ich mir auf YouTube einen Film über die künstliche Besamung einer Kuh anschaute, vorgeführt von einem begeisterten jungen Landwirt, der sich einen bis zur Schulter reichenden Plastikhandschuh überstreifte, bevor er sich ans Werk machte, das er gleichzeitig freundlicherweise ausführlich kommentierte.

Ein weiterer Knackpunkt waren die unzähligen Bibelzitate in diesem Roman. Früher, als es noch kein Internet gab – hier fällt mir die entgeisterte Frage einer jungen Kollegin ein, die wissen wollte, wie um Himmels willen wir in Vor-Internet-Zeiten bloß übersetzen konnten –, musste man bei Bibelzitaten umständlich Bibelkonkordanzen zu Rate ziehen, manchmal ewig suchen und blättern, bevor man fündig wurde. Heute tippt man das Zitat einfach bei Google ein und erfährt mit einem Klick, in welchem Buch der Bibel das gesuchte Zitat steht. Das klingt einfach, aber ganz so einfach ist es leider nicht immer. Schon zu Zeiten, als des Griechischen und Hebräischen kundige Menschen sich über Bibeltexte beugten, um sie in ihre Muttersprache zu übersetzen, wurde offenbar, wie unterschiedlich das Verständnis einer fremden Sprache sein kann. Es ist unglaublich, wie stark die Versionen einer niederländischen und einer deutschen Bibel manchmal voneinander abweichen können, was dann zu Problemen führt, wenn das Bibelzitat nicht nur im Buch steht, um zu demonstrieren, wie fromm und bibelfest die Protagonist*in – und die Autor*in – ist, sondern weil sie an einem bestimmten sinntragenden Kernbegriff einen weiterführenden Gedankengang aufhängt. Und wenn die deutsche Bibelfassung statt dieses Kernbegriffs einen völlig anderen enthält, steht man ziemlich ratlos da. Aber auch dann bietet das Internet zum Glück manchmal einen Ausweg, und zwar indem es nicht nur die uns vor allem geläufige Lutherübersetzung anbietet, sondern noch eine ganze Reihe anderer Versionen: die Einheitsübersetzung, die Elberfelder Bibel, die Zürcher Bibel, die Neue Genfer Übersetzung, um nur einige zu nennen. Wenn man ganz großes Glück hat, führt eine dieser weniger bekannten Bibelfassungen den gesuchten Kernbegriff auf; falls nicht, kann man erwägen, ihn in einer eigenen Formulierung einzuschmuggeln, aber das sind zugegebenermaßen Notlösungen. Mit den genannten Beispielen wollte ich nur versuchen, Ihnen einen ganz kleinen Einblick in die sprach- und sachbezogenen Probleme zu geben, mit denen Literaturübersetzer*innen sich konfrontiert sehen.

Es ist eine einsame, schlecht bezahlte, oft sehr mühsame Tätigkeit, die sich zumeist völlig im Schatten abspielt. Das gebildete Lesepublikum kennt „seine“ Autorinnen und Autoren, in den seltensten Fällen jedoch auch die Namen der Frauen und Männer, die ihnen ihre Stimme geben. Vor fast dreißig Jahren durfte ich meinen ersten großen Preis entgegennehmen und bezeichnete damals in meinem Dankwort den Literaturübersetzer als Sherpa des Literaturbetriebs, da er, ähnlich dem Sherpa in der Bergsteigerwelt, den Autor/die Autorin unter großen Mühen zum Gipfel führt, selbst aber in der Regel anonym bleibt und vom Ruhm nichts abbekommt. Das muss auch nicht sein, Ruhm ist eine fragwürdige Sache, und viel wichtiger und nachhaltiger ist eine angemessene Anerkennung unserer Leistung. Als eine solche Anerkennung verstehe ich den Preis, der mir heute zuteil wird. All meine Mühe, meine Erfahrung, meine engagierte Auseinandersetzung mit dem Text – und streckenweise auch mein Frust – haben letztendlich offenbar zu einem Resultat geführt, das eine fachkundige Jury dazu bewogen hat, meine Arbeit mit einem so großen und renommierten Preis wie dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW auszuzeichnen. Ich kann gar nicht genug betonen, wie wichtig diese ideelle, aber auch materielle Unterstützung für uns Literaturübersetzer*innen ist. Dafür möchte ich der Kunststiftung NRW, der Jury, dem Europäischen Übersetzer Kollegium, bei dem wir hier zu Gast sein dürfen und das in Gestalt seiner Geschäftsführerin Frau Dr. Regina Peeters und ihres engagierten Teams diese Feier organisatorisch möglich gemacht hat, von ganzem Herzen meinen Dank aussprechen.