Straelener Übersetzerpreis an Helga van Beuningen

(Dies ist die ungekürzte Fassung der Laudatio, die in Übersetzen Heft 01/2022 in Auszügen abgedruckt ist)

Was man sät. Und was man erntet

Sehr geehrte Damen und Herren,

sehr geehrter Dr. Sternberg, Sehr geehrte Frau van Beuningen, sehr geehrte Frau Kroll,

Als vor drei Jahren Was man sät von Marieke Lucas Rijneveld in den Niederlanden unter dem Originaltitel De avond is ongemak erschien, waren die Reaktionen nahezu einhellig begeistert, ja, fast überschwänglich begeistert. „Ein halluzinatorisches Debüt“, schrieb De Groene Amsterdammer, und fügte hinzu: „Was für eine schriftstellerische Kraft, was für ein Bilderreichtum, was für ein sprachlicher Mut!“ Der Rezensent des Literaturmagazins Tzum urteilte: „Der Roman kommt mit einem Hammerschlag, der noch lange nachhallt.“ Das Romandebüt der 1991 in Brabant geborenen Autorin wurde nicht nur von Fachleuten positiv bewertet. Auch die breite Öffentlichkeit äußerte sich zustimmend. Die niederländische Originalausgabe zählt bereits mehr als fünfundzwanzig Auflagen, und der Titel wurde – wenn ich richtig gezählt habe – in siebenunddreißig Länder verkauft. Einige Übersetzungen sind noch in Arbeit, aber mittlerweile kann man De avond is ongemak / Was man sät in mehr als fünfundzwanzig Sprachen lesen.

Dass es den Roman auch auf Deutsch gibt, ist Helga van Beuningen zu verdanken, deren Übersetzung gut ein Jahr später im Suhrkamp Verlag erschien. Und dass der Verlag gerade diese Übersetzerin mit dem Auftrag betraut hat, sagt viel über ihre Stellung im breiten und hochprofessionellen Feld der literarischen Übersetzer*innen vom Niederländischen ins Deutsche aus. Für einen Roman, der ein Jahr später dank des International Booker Prize 2020 auch den Durchbruch außerhalb des niederländischsprachigen Raums schaffen sollte, muss der Verlag damals eine(n) angesehene(n) und hervorragende(n) Übersetzer*in gesucht haben. Die Wahl fiel auf Helga van Beuningen. Wer ihr Werk kennt und weiß, wie groß ihre Verdienste auf dem Gebiet des deutsch-niederländischen Literaturtransfers sind, wird nicht überrascht sein.

Helga van Beuningen ist seit den 1980er Jahren als Übersetzerin aus dem Niederländischen tätig. Ihr Werk spiegelt eindrucksvoll die wachsende Popularität der niederländischen Literatur in Deutschland wider. Vor den 1990er Jahren war diese hier relativ unbekannt, und es gab wohl kaum ein allgemeines Interesse am literarischen Zeitgeschehen in den Niederlanden und Flandern. Deutsche Leser*innen interessierten sich allenfalls für bestimmte Bereiche der literarischen Produktion, die etwas zu bieten hatten, was im deutschen Sprachraum nicht, in geringerem Maße oder nur in anderer Form vorhanden war. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Werk der feministischen Autorin Anja Meulenbelt, die in den 1970er Jahren in den Niederlanden einen wesentlichen Beitrag zur Revision der damals gängigen Rollenmuster für männliches und weibliches Verhalten leistete. Ende der 1980er Jahre übersetzte Helga van Beuningen einige ihrer Titel, darunter den Roman De bewondering / Bewunderung, der 1988 bei Rowohlt erschien.

Die niederländische Literatur verdankt ihren Durchbruch im deutschen Sprachraum im Wesentlichen drei Verlagen, die kurz vor 1990 jeweils einen prominenten zeitgenössischen Autor aus den Niederlanden beziehungsweise Flandern in ihr Programm aufgenommen haben. Es sind der Klett-Cotta Verlag, der Hugo Claus verlegt hat, der Carl-Hanser Verlag, der Harry Mulisch bekannt gemacht hat, und der Suhrkamp Verlag, der sich für Cees Nooteboom entschieden hat. Gerade der letztgenannte Autor hat das Ansehen der niederländischsprachigen Literatur in Deutschland lange Zeit geprägt. 1991 lobte Marcel Reich-Ranicki in der ZDF-Fernsehsendung Das Literarische Quartett Nootebooms Roman Die folgende Geschichte als: „Vielleicht das wichtigste Buch, das ich in diesem Jahr gelesen habe. Ich bin tief beeindruckt von diesem Cees Nooteboom. Dass die Holländer so einen Autor haben!“

Jemand, der dies vor Reich-Ranicki erkannte, war, meine Damen und Herren, Helga van Beuningen. Sie übersetzte Nootebooms Novelle im Jahr 1991 und wurde in den nachfolgenden Jahren zur festen deutschen Übersetzerin des Autors. Sie übertrug mehr als vierzig seiner Werke ins Deutsche und zeichnete damit quasi im Alleingang für seine gesammelten Werke, die im Suhrkamp Verlag auf Dünndruckpapier in zehn Bänden erschienen sind. Das sagt nicht nur etwas über die Schaffenskraft von Helga van Beuningen aus, sondern auch über den Stellenwert dieses niederländischen Autors in Deutschland. Während sein Amsterdamer Verlag bis heute von einer mehrbändigen Ausgabe des Gesamtwerks absieht, schreckt der deutsche Suhrkamp Verlag vor einem solchen Prestigeprojekt nicht zurück. Viele tausend Seiten Übersetzungsarbeit haben Helga van Beuningen zur vielleicht weltweit größten Kennerin des Nooteboomschen Werkes gemacht, das in ihren Worten und Formulierungen den Weg auf den hiesigen Buchmarkt und somit eine große Leserschaft im deutschen Sprachraum gefunden hat.

Helga van Beuningen ist keine Übersetzerin einzelner literarischer Werke, sondern literarischer Oeuvres. Man kann auf eine ganze Reihe niederländischer Autor*innen verweisen, für deren deutsche Ausgaben die Übersetzerin verantwortlich zeichnet, nicht nur die des Suhrkamp Verlags, sondern auch anderer führender Literaturverlage wie Hanser, Luchterhand, Kiepenheuer & Witsch sowie S. Fischer Verlag. Dabei handelt es sich durchweg um Autor*innen, die im niederländischen Sprachraum nicht weniger renommiert sind als die deutschen Verlage, in denen sie erscheinen, Autor*innen, die darüber hinaus eine Schlüsselrolle bei den Gastlandauftritten der Niederlande und Flanderns auf der Frankfurter Buchmesse 1993 bzw. 2016 spielten. Erwähnen möchte ich hier – und ich könnte problemlos weitere Autor*innen nennen – die Werke von Margriet de Moor, Marcel Möring und A.F.Th. van der Heijden.

Vor allem die Übersetzungen der umfangreichen Romanzyklen „Die Zahnlose Zeit“ und „Homo Duplex“ Van der Heijdens verdienen größten Respekt. Nicht nur wegen des Umfangs seines Werks, das als Schreiben „in die Breite“ bezeichnet wird, sondern vor allem wegen des Schwierigkeitsgrads. Van der Heijden ist vielleicht der größte Stilist der zeitgenössischen niederländischen Literatur und bekannt für einen ausgefeilten, bildhaften Stil, dessen Metaphern sich manchmal über mehrere Absätze hinziehen. Sie fordern das Äußerste von einer Übersetzer*in, die in der Zielsprache nach gleichwertigen, aber natürlich immer leicht abweichenden Bildkomplexen suchen muss. Wenn ich Van der Heijden in der deutschen Übersetzung von Helga van Beuningen vor mir habe, vergesse ich, dass ich den Autor nicht im Original lese. Es ist, als würde er mit seinen eigenen Worten zu mir sprechen, und der Ton des Textes, der nicht unbedingt eine wörtliche Übersetzung ist, steht dem des Ausgangstextes in nichts nach. Für Übersetzer*innen ist das vielleicht das höchst Erreichbare: einen Autor in einer anderen Sprache sprechen zu lassen, ohne, dass ein erfahrener Leser wie ich überhaupt merkt, eine Übersetzung zu lesen.

Der Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW, der Helga van Beuningen heute verliehen wird, ist nicht ihre erste Auszeichnung. Sie hat bereits den Martinus-Nijhoff-Prijs (1992), den Helmuth-M.-Braem-Übersetzerpreis (2004) und den Else-Otten-Preis (2006) erhalten. Der Straelener Übersetzerpreis wird Helga van Beuningen nicht nur für ihr Gesamtwerk verliehen, sondern insbesondere für die Übersetzung von Marieke Lucas Rijnevelds De avond is ongemak / Was man sät. Die Jury lobte die Art und Weise, in der die Übersetzerin eine authentische und glaubwürdige Stimme für die 10-jährige Protagonistin Jas gefunden hat. Helga van Beuningen „verleiht ihr die Sprache eines Kindes, das seine Umwelt gnadenlos genau wahrnimmt. Die Verwirrung der Kinder, die von den Erwachsenen in ihrer seelischen Not alleingelassen werden, schlägt um in Grausamkeit: Mit einer geradezu furchtlosen Genauigkeit übersetzt Helga van Beuningen die verstörenden Szenen und die oft drastische Metaphorik.“

Marieke Lucas Rijneveld nimmt die Leser*innen mit in ein Milieu, das den Niederländer*innen vertraut sein dürfte: eine streng calvinistische, introvertierte Gemeinschaft. Ort der Handlung ist ein Bauernhof irgendwo in der Provinz, auf dem das Mädchen Jas mit ihren Eltern und den Geschwistern lebt. Der Tod des ältesten Bruders, der beim Schlittschuhlaufen tödlich verunglückt, bringt das Gleichgewicht der Familie, in der der herrschsüchtige, sehr religiöse Vater das Sagen hat, durcheinander. Eine Konstellation, die in der niederländischen Literatur häufig thematisiert wurde, wie die Werke von Autoren wie zum Beispiel Jan Wolkers (Terug naar Oegstgeest / Zurück nach Oegstgeest), Maarten ‚t Hart (Het woeden der hele wereld / Das Wüten der ganzen Welt) und Jan Siebelink (Knielen op een bed violen / Im Garten des Vaters), die ebenfalls auf Deutsch vorliegen, zeigen. Rijneveld malt das streng christliche Milieu mit denselben sprachlichen Mitteln wie diese drei Autoren, und Helga van Beuningen musste alle Arten von Bibelzitaten und religiösem Jargon berücksichtigen. Ich werde, meine Damen und Herren, hier nicht zeigen, dass ihr das hervorragend gelungen ist, denn ich möchte – auch auf die Gefahr hin, dass das Folgende etwas zu technisch wird – auf etwas anderes eingehen.

Das Niederländische, und sogar das literarische Niederländisch, nimmt sich regelmäßig mehr Freiheiten als das Deutsche. In meiner Muttersprache genügt es, Dinge zu beschreiben und anzudeuten, die man im Deutschen oft konkreter benennen muss. Ich möchte Ihnen ein Beispiel aus De avond is ongemak / Was man sät geben. Die 10-jährige Jas beschreibt, wie ein Nachbar ein Vogelnetz über die Erdbeerpflanzen gespannt hat, damit die Möwen und Stare sie nicht „opvreten“, wörtlich „fressen“ oder „auffressen“. Natürlich wissen die Niederländer*innen, dass die Vögel keine Pflanzen fressen, sondern die daran hängenden Erdbeeren. Die Formulierung von Rijneveld zeigt jedoch, dass man dies im Niederländischen nicht so genau festlegen muss, weil sich jeder vorstellen kann, was gemeint ist. Das Deutsche erfordert mehr Präzision, und Van Beuningen übersetzt daher nicht wörtlich, sondern entscheidet sich für: „damit die Möwen und Stare sie [d.h. die Pflanzen] nicht kahlfressen“.

Ein zweites Beispiel. Rijnevelds Ich-Erzählerin beschreibt, wie sie die Erdbeerpflanzen zur Seite schiebt („opzij duwt“), um die besten Früchte zu pflücken. Auch hier wissen die Niederländer*innen, dass man auf der Suche nach Erdbeeren die Pflanzen nicht einfach wegschieben muss, sondern zwischen den Blättern suchen sollte. Van Beuningen präzisiert erneut Rijnevelds Formulierung. In ihrer Version drückt Jas daher die Pflanzen nicht weg, sondern heißt es, dass sie „die Blätter zur Seite schiebt“. Was Marieke Lucas Rijneveld auf Niederländisch sät, erntet Helga van Beuningen in ihrer deutschen Übersetzung auf eine ganz eigene Weise, die nicht nur von großem sprachlichen Geschick und einer profunden Kenntnis beider Sprachen zeugt, sondern auch von einer Arbeitsweise, die sich durch bewundernswerte Sorgfalt auszeichnet. Im Deutschen entsteht dadurch ein neues, eigenständiges Kunstwerk, das mit der nötigen Distanz zum Original überzeugt und eine eigene Existenzberechtigung erhält.

Neben Helga van Beuningen wird, meine Damen und Herren, heute auch Anna-Nina Kroll geehrt. Sie wird mit dem Förderpreis zum Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW für das Jahr 2021 ausgezeichnet. Sie erhält den Preis für ihre Übersetzung des 2018 mit dem Man Booker Prize ausgezeichneten Romans Milkman von Anna Burns, der 2020 unter dem Titel Milchmann im Tropen Verlag erschien. Die Jury des Straelener Übersetzerpreises urteilte, dass Anna-Nina Kroll „in ihrer Übersetzung ausgezeichnet den Ton einer jungen Ich-Erzählerin [trifft], die mit viel Witz und sprachlicher Experimentierfreude gegen Terror und Verrohung anredet, gegen die Tabus und die Sprachlosigkeit ihrer Gesellschaft. Die Übersetzerin gestaltet diesen eigenwilligen Redefluss auf den 450 Seiten des Romans einfallsreich und stilsicher.“ Auch die Kritiker reagierten positiv. Deutschlandfunk Kultur schrieb zum Beispiel: „Was für eine fabelhafte Übersetzung! Anna-Nina Kroll hat der 18-jährigen Erzählerin des Romans Milchmann auch im Deutschen genau die ambivalente Mischung aus Schnoddrigkeit und Unschuld verpasst, mit der die nordirische Autorin Anna Burns sie erdacht haben muss.“

Die Niederländerin Marieke Lucas Rijneveld und die Nordirin Anna Burns sind die Exponentinnen eines mehrsprachigen Europas. Ein Europa, das versucht, eine politische und wirtschaftliche Einheit zu sein, auch wenn der Brexit in Großbritannien und ähnliche, aber glücklicherweise erfolglose Initiativen in anderen Ländern dies nicht immer einfach machen. Ein Europa, das eine Wertegemeinschaft sein will und sich auf von allen Beteiligten anerkannte Grundwerte stützt. Und ein Europa, das sich auf eine gemeinsame kulturelle Vergangenheit bezieht, die keine einheitliche, homogene Entwicklung voraussetzt, sondern für Vielfalt und Verschiedenheit steht. Vielleicht ist es auch gerade das, was uns zu Bürgern Europas macht: Vielfalt und Verschiedenheit.

Auch unter diesem Gesichtspunkt gewinnt die europäische Mehrsprachigkeit an Bedeutung. Literatur in den Dutzenden von Sprachen des Kontinents: Das ist ein Reichtum, den wir dank kultureller Vermittler*innen, die zwischen den Sprachen und Kulturen stehen, kennenlernen können. Dank Übersetzer*innen wie Helga van Beuningen und Anna-Nina Kroll, die dem deutschen Publikum einen Zugang zu einem streng christlichen Umfeld in der niederländischen Provinz und den sozialen Unruhen in einer imaginären Stadt, die an Belfast in Nordirland erinnert, bieten. Übersetzer*innen, die für ein deutsches Publikum die Schönheit der Sprache von Marieke Lucas Rijneveld und Anna Burns erlebbar machen.

Der Straelener Übersetzerpreis 2021 wird heute an eine Übersetzerin verliehen, die sich in einer fast vierzigjährigen Karriere mehr als verdient gemacht hat. Helga van Beuningen hat exzellente Arbeit geleistet, und ihre Bedeutung für die niederländischsprachige Literatur im deutschen Sprachraum kann kaum überschätzt werden. Der Straelener Förderpreis 2021 geht an die Übersetzerin Anna-Nina Kroll, deren bisherige Leistungen erwarten lassen, dass sie nach einer hoffentlich genauso langen Karriere die gleiche Position wie Helga van Beuningen heute erreichen wird. Es ist mir daher eine große Ehre, nicht nur die Bedeutung der Arbeit von Helga van Beuningen und Anna-Nina Kroll hervorzuheben, sondern auch zu betonen, dass ich von der hohen literarischen Qualität von Was man sät und Milchmann, Übersetzungen die zu Recht den Preis der Jury des Straelener Übersetzerpreises erhalten haben, überzeugt bin. Nachdem ich mich bei Ihnen, meine Damen und Herren, für Ihre Aufmerksamkeit bedankt habe, möchte ich daher abschließend Helga van Beuningen und Anna-Nina Kroll von ganzem Herzen gratulieren.