Ginkgo-Biloba-Preis an Heike Flemming

(Dies ist die ungekürzte Fassung der Laudatio, die in Übersetzen Heft 01/2022 in Auszügen abgedruckt ist)

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Juror:innen des Übersetzerpreises »Ginkgo-Biloba«, liebe Heike Flemming!

Im Herbst 2019 wartete ich am Berliner Südkreuz auf den Intercity nach Frankfurt am Main und zog aus der Handtasche Szilárd Borbélys Berlin Hamlet in der Übersetzung von Heike Flemming. Der Band mit ausgewählten Gedichten aus den ungarischen Originalbänden Berlin Hamlet von 2003 und Halotti pompa, deutsch: Leichenprunk, von 2004 bzw. 2006 schlug mich sofort in Bann. Unterwegs nach Frankfurt begegnete ich lesend nicht nur dem historisch gewordenen Berlin meiner Studienzeit vor der Jahrtausendwende und Lektüren dieser Zeit wieder: Shakespeares Dramen, Franz Kafkas Briefe an Felice Bauer und Walter Benjamins Schriften. Es stellte sich erneut auch die von Theodor W. Adorno aufgeworfene Frage, ob nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben möglich sei, die Frage nach der Dialektik von Kultur und Barbarei, die Frage, ob der von Menschen hervorgebrachten Gewalt und dem daraus resultierenden Leid vermittels der Kunst überhaupt etwas entgegenzusetzen sei.

Der Nachhall der Lektüre war stark. Ich wollte mehr über Borbély, aber auch über die Arbeit erfahren, durch die Heike Flemming uns diese Gedichte nähergebracht hat, Gedichte, die sonst all denen hier nicht zugänglich wären, die kein Ungarisch verstehen, Gedichte, mit deren Übersetzung ins Deutsche auch Flemming in eine Tradition eingetreten ist, die der Lyriker und Übersetzer Paul Celan in der Rede anläßlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises im Jahr 1960 als »Meridian« bezeichnet hat: eine Denkfigur, die fragt, wie auf dem Weg der Kunst, mit den Mitteln der Sprache wider das Barbarische im Zivilisatorischen anzugehen sei, um zu einer Form der Begegnung vorzudringen, die so nur ästhetisch vermittelt erlebbar ist.

Diesen Weg zu gehen, ist Übersetzer:innen wie Autor:innen möglich. Wie Szilárd Borbély vermißt auch Heike Flemming nachdichtend Möglichkeiten von Sprache an den Grenzen des Sagbaren. Davon künden nicht nur ihre Übersetzungen, sondern auch ihre Nachworte zu Berlin Hamlet, zu Borbélys Roman Die Mittellosen und dem Prosaband Kafkas Sohn.

Heike Flemming spürt als Übersetzerin dem Utopischen in der Dichtung nach, der Möglichkeit, sich und anderen vermittels Sprache und in wechselseitiger Anerkenntnis der Fremdheit zu begegnen. Die Bewegungen ihres Übersetzens zeugen von dem Wunsch, Bedingungen und Bedingtheiten der menschlichen Existenz in der Sprache genauer zu fassen, auch und gerade da, wo es Sprechenden die Sprache zu verschlagen droht. Ich denke, daß sie in der Art eines Celan’schen Meridians zu einem Verständnis von Übersetzung als »Umweg von dir zu dir« gelangt – und bei ihrer Arbeit solche Begegnungen erfährt.

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Im Frühjahr 2020 schrieben Heike Flemming und ich uns E-Mails, da ein geplantes Treffen bei der Leipziger Buchmesse aufgrund der Pandemie nicht mehr stattfinden konnte. Daraus entstand ein Interview für die Zeitschrift »Sprache im technischen Zeitalter«. Ich fragte Heike Flemming nach ihrer Berufswahl. Sie erzählte, sie sei in der DDR geboren worden, ihre Mutter habe in Bratislava studiert. Man fuhr nicht nach Ungarn, aber oft in die Tschechoslowakei, nach Prag, Bratislava, in die Hohe Tatra, das Slowakische Paradies, die Zips, wo kulturelle, architektonische, atmosphärische Gemeinsamkeiten mit Ungarn erlebbar waren. Heike Flemming lernte an der Universität in Leipzig Ungarisch, später, in Wien, besuchte sie Vorlesungen an der Finno-Ugristik. Es folgten zwei Jahre Aufbaustudium in Ungarn, wo sie das erste Mal mit dem Übersetzen in Berührung kam und merkte, daß es ihr lag und Spaß machte. Kein Geringerer als László Krasznahorkai sorgte dafür, daß Heike Flemming erste Übersetzungen von Szilárd Borbélys Gedichten veröffentlichen konnte.

Im Mailwechsel wollte ich verstehen, mit welchen Herausforderungen man umgehen muß, wenn man Borbély übersetzt. Heike Flemming erklärte mir zunächst exemplarisch Besonderheiten des Ungarischen wie diese: das Ungarische könne morphologisch sehr verdichtet formulieren, es agglutiniere, packe viele Informationen in ein Wort, indem es sie an den Wortstamm anfüge. Darin liege auf pragmatischer Ebene eine Schwierigkeit des Übersetzens. Sie erklärte, daß Dinge, die man im Deutschen in drei oder vier Wörter auflöst, sich im Ungarischen in einem Wort sagen lassen: »Szeretlek« – »Ich liebe Dich«. »Szerethetlek« – »Ich kann dich lieben«. Im Falle von Gedichtzeilen, schrieb sie, sei das ein Problem, etwa im Gedicht IV. aus Borbélys Sequenzen zur Karwoche. Dort lautet die erste Zeile der dritten Strophe auf Ungarisch: »Nem sírt, mikor kínoztak.« Auf Deutsch müsse man übersetzen: »Er weinte nicht, als sie ihn schikanierten.« Vier gegen sieben Wörter. Herausforderungen über Herausforderungen, noch ehe sich semantische Fragen stellen. Da wird es noch komplizierter.

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Heike Flemmings Übersetzungen von Berlin Hamlet und Halotti Pompa führen uns im ersten Teil ihres Bandes Berlin Hamlet das Bild einer Stadt vor Augen, die es nicht mehr gibt: das Berlin der Nachwendezeit, in dem sich der am 1. November 1964 in Fehérgyarmat geborene Autor für längere Zeit aufhielt, ein Berlin, in dem die Gentrifizierung noch nicht im Alltag und Wortschatz der Bewohner angekommen war, eine Stadt, deren Mitte damals aus sehr viel Brache bestand und die, wenngleich befreit aus ihrer Insellage, noch voller verschlafener, verwilderter, verwahrloster und verwunschener Ecken war. Wer sich an dieses Berlin erinnert, wird es in Borbélys Gedichten aufgehoben finden, etwa in [Heidelberger Platz] oder in [Hermannstraße]. Ob Heike Flemming diese Orte aufgesucht hat? Es ist nicht entscheidend. Wenngleich sich zahlreiche Gedichte auf eine bestimmte historische Zeit und auf benenn- und begehbare Orte beziehen, überlagern sich die Zeitschichten darin, werden mit den realen Orten zugleich utopische aufgerufen.

In Borbélys Gedichten verbinden sich Realien der späten 1990er-Jahre mit denen eines Berlins von Franz Kafka, Walter Benjamin, Gustaf Gründgens und Heinrich von Kleist, es entsteht ein Berlin, das es so nie gegeben hat, ein Berlin der Einsamen, der Flaneure und Melancholiker, voller rastloser Hamlet-Figuren, »Prinz oder Clown«, wie es in dem Gedicht [Fragment IV.] heißt. Es entsteht zugleich ein Berlin der Gewaltsamkeit, das von der Wannseekonferenz weiß, an die das Gedicht [Wannsee] gemahnt:

Fünfzehn Männer unterhielten sich am zwanzigsten Januar
neunzehnhundertzweiundvierzig in einer der Villen am Großen Wannsee
im Dunst von bitterem Zigarettenrauch und starkem Cognac.
Der herbe Geruch erinnerte gar nicht an Blut.

Und bald gehen bei der Erfurter Firma Topf & Söhne
unerwartete Bestellungen ein. […].

Mit diesem Gedicht tritt man ein in den Zusammenhang von Leid und Gewalt, der Borbélys Schreiben entscheidend prägt. Am 20. Januar 1942 wurde die sogenannte »Konferenz zur Endlösung der Judenfrage« am Wannsee abgehalten. Die Erfurter Firma Topf & Söhne stellte die Öfen für die Krematorien des Vernichtungslagers Auschwitz her. Der 20. Januar bzw. »20. Jänner« wird auch von Paul Celan in der Büchner-Preis-Rede erwähnt, dort zunächst im Zusammenhang mit der Erzählung »Lenz« von Georg Büchner, die mit dem Satz »Am 20. Jänner ging Lenz durchs Gebirg« beginnt; aber mit der Nennung des Datums spielt Celan auf die Wannseekonferenz an, wie Marlies Janz zuerst gezeigt hat.

Viele der Gedichte von Szilárd Borbély schichten, amalgamieren und reflektieren ihre historischen Bedingtheiten; ihnen ist, mit Celan, ihr »20. Jänner eingeschrieben«, sie bleiben »der Daten eingedenk«. Dies und den bereits benannten Zusammenhang von Leid und Gewalt vollzieht Heike Flemming übersetzend wie kommentierend immer mit, auch, wenn sie im Nachwort von Berlin Hamlet Bezüge zu ungarischen Dichtern wie Attila Jószef oder Ernő Szép herstellt und Borbélys Gedichte in literarische Traditionen einordnet, oder wenn sie auf Imre Kertesz’ Nachdenken über den Holocaust verweist.

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Geschichte, Gewalt und Leid sind im Werk Borbélys zentral. Neben den Gedichten der ungarischen Originalausgabe von Berlin Hamlet enthält die deutschsprachige Ausgabe ausgewählte Gedichte von Halotti Pompa, Leichenprunk. Auf dem Umschlag der ungarischen Ausgabe ist ein Gemälde des italienischen Renaissancemalers Andrea Mantegna zu sehen: die um 1490 entstandene »Beweinung Christi«, bekannt auch als »Cristo in scurto«. Der »verkürzte Jesus« zeigt den toten Christus aus einem ungewohnten Blickwinkel, aus nächster Nähe und in extremer perspektivischer Verkürzung. Sein wie gestaucht wirkender Leichnam liegt erstarrt auf dem kalten Stein einer Marmorbank, ein Polster stützt den Kopf, Christi Unterkörper ist bedeckt von einem fein gefältelten Leichentuch. Die Wundmale erscheinen plastisch, geradezu drastisch frisch. Aus dem Gesicht mit den geschlossenen Augen ist jeglicher Affekt verschwunden. Zur Linken des Leichnams haben sich Trauernde versammelt, deren Gesichter im Profil zu sehen sind. Mantegnas Gemälde rührt in seiner Detailliertheit an unsere Schmerzgrenzen – durch die Schroffheit der Darstellung, die scharfe Linienzeichnung, vor allem aber durch die Verkürzung der Perspektive. Sie erweckt den Anschein, daß im Leichnam Christi sich der Schmerz extrem verdichtet.

Seit ich auf das Bild aufmerksam geworden bin, denke ich es als Paratext zu Borbélys Schreiben mit. Schmerz, Leid und Trauer sind in Mantegnas Gemälde wie in Borbélys Texten gleichermaßen diskret und doch überdeutlich, zusammengedrängt in einer Weise, die den Schmerz im Betrachter ebenfalls regelrecht zusammendrängt: eine ruhige, jedoch gespannte Ver-Dichtung.

In Heike Flemmings Übersetzung von Leichenprunk findet sich in der ersten Abteilung Sequenzen zur Karwoche das folgende Gedicht:

Er starb. Und tot glaubten ihn alle,
die früher ihn geliebt.
Der Leib, er stank und war voll Blut,
als man ihn in die Erde ließ,

ein paar Freunde und Verwandte.
Und keiner war dabei,
der hätte sagen können,
was die Auferstehung sei

des Leibs, an der noch
lange nicht nur Christus starb.
Den man wiederkehren sah,
ein paar Jünger. Sicher jedoch
nicht, dass dies endgültig ist.
Das heißt, des Todes Faktum.
Gewiss ist lediglich,
dass sich das Augenlicht

verliert. Grau wird die Haut. Und faltig
und bei Berührung steif
wie Tuch. Und etwas fehlt,
doch findest du nicht

das eine Wort, zu flüstern ihm ins Ohr.
Vielleicht erinnerte er sich:
Der Abglanz eines vergangenen, vor-
herigen Lebens käme

nun unter uns: ein ewiger Christus,
der gestorben. Ohne Geist,
nur Fleisch, und als Sprache stinkt er
in uns. Im Mund das Wort: Korpus,

nunmehr das Sein des Ewigen
Tods. In meinem leiblichen
Auge. Und ich sehe dort,
wenn ich es schließe: meinen Tod.

Das Gedicht, das im Kontext der christlichen Passionsgeschichte steht, schildert den Tod eines Mannes, der Christus ähnelt, und von seinen Freunden, den Jüngern, begraben wird.

Wer es liest, wird Teil einer Trauergemeinde, deren Gewißheit, der Tod sei nicht das Ende, infrage gestellt ist. Das Gedicht schraubt diesen Zweifel immer weiter:

Ein Ich tritt auf und adressiert ein nicht näher bestimmtes Du, Worte zu finden, die eine Wiederbeseelung der Leiche möglich machten. Es gibt aber, so das Gedicht, keine Worte dafür, vergangenes Leben erinnernd so zu verlebendigen, daß ein »ewig toter Christus« als fleischgewordene, als »stinkende Sprache« in uns auferstünde, mit dem Wort »Korpus« im Mund. Ich lese das »Stinken« hier als Anspielung auf einen weiteren Vers aus dem Johannesevangelium, die Erweckung des Lazarus, in dem der Tod in Form des Leichengeruchs überdeutlich ins Bewußtsein der Beteiligten tritt:

Jesus sagte: Nehmt den Stein ab! Da antwortete ihm Martha, die Schwester des Verstorbenen: HERR, er stinkt schon; denn er liegt seit vier Tagen.

Das lateinische Wort »corpus« hat viele Bedeutungen, es meint nicht nur den Resonanzkörper eines Instrumentes, nicht nur den Leib des Gekreuzigten, wie er auf Mantegnas Bild zu sehen ist, sondern auch eine Sammlung von Texten einer bestimmten Sprache oder Gattung. Das Gedicht ließe sich vor diesem Hintergrund auch als poetologisches lesen. Der »Corpus stinkt«, die Worte der Gedichte sind paradoxerweise zugleich tot und als stinkende dennoch präsent, in gewisser Weise also als lebendig gedacht, gebunden durch Körperlichkeit und deren Verwesung. Im Johannesevangelium, Kapitel 1, heißt es:

Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Dieses war im Anfang bei Gott. […] Und das Wort ward Mensch (bei Luther: Fleisch) und wohnte unter uns; und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des Eingeborenen vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.

Die Bezugnahme des Gedichts auf das Johannesevangelium ist hier als theologische Negation vollzogen. Bei Borbély ist das fleischgewordene Wort nicht mehr in seiner Herrlichkeit zu denken: Es erscheint als etwas Ekelerregendes, Verwesendes, Todgeweihtes. Der Korpus, verstanden als das Werk des sprechenden Ichs, wäre dann ebenfalls Künder des Todes. Die sichtbaren Buchstaben, Zeichen auf Papier, die zu Versen auf Papier geworden sind, zeugen letztlich immer vom Tod.

Das Ich in Borbély Gedichten ist auch in Berlin Hamlet schon vom bohrenden Zweifeln am Wort durchdrungen. In [Fragment VI.], das aus der Perspektive Hamlets spricht, finden wird Verse, die diese tiefen Zweifel deutlich artikulieren:

Ich habe kein Zuhause,
ich tausche die Stationen meines Wanderns gegen Worte.
Ich bin nicht frei, solange das Versteckspiel meiner Rede
Missverständnisse gebiert. Denn meine Worte, zwischen
denen ein Geist wohnt, müssen das Gewohnte
zertrümmern.
[…]
Ich glaube nicht an Dichtung
[…]
Meine Poetik ist,
falls ich eine habe, die der Gereiztheit.

*

Mit dem »Corpus« der stinkenden Sprache, mit einer »Poetik der Gereiztheit«, mit diesem »Anti-Credo« an die Dichtung hatte Heike Flemming umzugehen, als sie Borbély übersetzte. War es da ein Glück, daß sie den Autor persönlich kannte? Im Nachwort zu Die Mittellosen erzählt sie von der ersten Begegnung im Jahr 2007: sie wollte Übersetzungen seiner Gedichte veröffentlichen und bat um Einverständnis. Heike Flemming spricht von der Ungezwungenheit, der wechselseitigen Anteilnahme, dem aufrichtigen Interesse und von der Freundschaft, die entstand. Diese Freundschaft hat Heike Flemming das Übersetzen sicherlich hin und wieder erleichtert, wenn es darum ging, nach einem bestimmten Wort, einer Phrase oder einem Kontext zu fragen, wenn das Drängende, Ge- und Bedrängte die Arbeit des Übersetzens erschwerte.

Die Aufgabe, das in der ungarischen, hier »stinkenden Sprache« aufgehobene, zugleich kaum in Sprache zu fassende Leid und die Zweifel hinüberzutragen ausgerechnet in eine historisch so belastete Sprache wie die deutsche, dürfte damit kaum leichter geworden sein. Zudem stehen die Gedichte mit einem höchst traumatischen Ereignis in Borbélys Leben, auf das er in Nebenstränge eines Verbrechens (Egy gyilkosság mellékszállai, 2008) zu sprechen kommt, das ebenfalls in der deutschsprachigen Ausgabe von Berlin Hamlet mit aufgenommen ist: Im Jahr 2000, am Weihnachtsfest, wurden Borbélys Eltern in ihrem Dorf in Nordostungarn von Einbrechern ausgeraubt. Bei diesem Überfall wurde seine Mutter Ilona mit einer Axt erschlagen, sein Vater Mihály überlebte schwer verletzt. Er starb Jahre später nach mehreren Aufenthalten in der Psychiatrie. Seinen Eltern widmete Borbély sowohl Berlin Hamlet als auch Leichenprunk.

*

Noch einmal gefragt: Wie übersetzt man solche Gedichte? Ich habe mehrfach Paul Celan zitiert, der in seiner Büchner-Preis-Rede über die Aporien und Möglichkeiten der Kunst, der dichterischen Sprache »auf Grund von Auschwitz« (Peter Szondi) nachgedacht hat, und damit Theodor W. Adornos Frage nach einer Lyrik nach Auschwitz von anderer Seite gestellt hat. Wie Adorno, der später in der Negativen Dialektik bemerkte

Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe sich kein Gedicht mehr schreiben. Nicht falsch aber ist die minder kulturelle Frage, ob nach Auschwitz noch sich leben lasse, ob vollends es dürfe, wer zufällig entrann und rechtens hätte umgebracht werden müssen

hat auch Celan dies Legitimation von Lyrik nach Auschwitz schreibend und übersetzend lange behauptet, ehe er sich 1970 das Leben nahm. Auch Walter Benjamin und Jean Améry haben dies getan. Und auch Szilárd Borbély konnte irgendwann dem Druck nicht mehr standhalten, der sich bei ihm von anderer Seite her aus seiner Auseinandersetzung mit der Dialektik von Kultur und Barbarei herrührte. Er hat, so erzählt Heike Flemming, unter der politischen Situation in Ungarn sehr gelitten. Wie sehr würde er heute an und unter ihnen leiden? Er litt unter dem Raubmord an seinen Eltern, zudem unter Depressionen.

Wie Celan, Benjamin und Améry hat Borbély schließlich den Freitod gewählt, um dem Leid zu entkommen. Ich bin versucht, seinen, ja, alle diese Suizide in ihrer Entsetzlichkeit doch als Akte der Freiheit zu verstehen, als Entschluß, sich aus freien Stücken der Verzweiflung und Druck nicht mehr auszuliefern, eine Freiheit, über die Jean Améry in Hand an sich legen nachgedacht hat. Ein Moment dieser Freiheit spricht aus den die Schriften aller genannten Zweifelnden, es ist ein Moment, der durch die Schrift über deren Tod hinaus bestehen bleibt, das vermittels der hinterlassenen Werke als ein »Trotzdem!« besteht.

Heike Flemming verschafft mit ihren Übersetzungen von Szilárd Borbély einer literarischen Stimme Hallraum, die die Fragilität der Existenz, einen Prozeß des letztlich an der Welt Verzweifelns in Sprache gefaßt hat und doch auf Freiheit pocht, die Begegnung sucht.

Sie übersetzt mit schwerem Gepäck, jedoch entschieden, und sie hat mit Klugheit, Konzentration und Kraft die poetischen Zeugnisse eines geschichts- und traditionsbewußten und zugleich skeptischen Melancholikers ins Deutsche geholt. Sie bringt uns ein Werk nahe, das grundstürzende Erfahrungen des Lebens, Denkens und Schreibens auslotet, ein Werk, das seine Leser:innen der Verletzlichkeit, des Leidens an Gewalt und Willkür und der Möglichkeit des Mit-Leidens gewahr werden läßt. Sie beantwortet auch die Frage, ob es möglich sei, der von Menschen hervorgebrachten Gewalt und dem daraus resultierenden Leid vermittels der Kunst etwas entgegenzusetzen. Wer Heike Flemmings Übersetzungen von Szilárd Borbély liest, findet die Antwort: Ja, es ist möglich.

Dank an Heike Flemming, die übersetzend so viel eingesetzt hat: für ein Werk, von dessen Strahlkraft sie überzeugt ist, für einen Freund, den sie an die Depression, an seine bodenlose Melancholie, Feinfühligkeit und unerträgliche Sehnsucht verloren hat.

Und Dank an dieser Stelle an die Jury des Übersetzerpreises Gingko-Biloba, die das würdigt, indem sie Heike Flemming diese Auszeichnung zuspricht.