(Dies ist die ungekürzte Fassung der Laudatio, die in Übersetzen Heft 01/2022 in Auszügen abgedruckt ist)
Liebe Besucher·innen von Le livre sur les quais, liebe Co-Juroren, liebe Nicole Taubes, liebe Nicola!
Der Inspizient hat dreimal mit dem Stab geklopft, fangen wir an.
Alle drei Jahre wird dieser Preis an Persönlichkeiten verliehen, die sich auf dem Gebiet der Literaturübersetzung durch besondere Leistungen auszeichnen. In diesem Jahr geht er für die Sprachrichtung Französisch-Deutsch an Nicola Denis.
In Thomas Bernhards Roman Alte Meister beobachtet Kunstliebhaber Atzbacher den Kunstkritiker Reger, wie er im Bordone-Saal des Kunsthistorischen Museums in Wien sitzend den Weißbärtigen Mann von Tintoretto beobachtet und mit Ausdauer und Wonne die bekannten Größen der abendländischen Kultur zerpflückt. Im Trio mit dem gesinnungstreuen Museumswärter Irrsingler lassen sie an keinem einzigen Werk der Malerei, Musik, Philosophie und Literatur auch nur ein einziges gutes Haar. Stifter – völlig überschätzt, Mozart – ein Blender, Goethe – ein Stumpfgeist, Heidegger – allein schon der Name bringt Reger zum Schäumen.
Im Januar 2021 saß – nicht im Bordone-Saal des coronabedingt geschlossenen Kunsthistorischen Museums in Wien, sondern in heimischer Quarantäne via Zoom verbunden – ein anderes Trio aus beflissenen Kritiker·innen zusammen, Barbara Villiger Heilig, Luzius Keller und ich, und betrachtete mit verkniffenen Mienen das bisherige von Nicola Denis übersetzte Werk. Doch ganz anders als für die drei Herren im Kunsthistorischen Museum in Wien, konnten wir die Stirnen kräuseln und die Münder verziehen, so viel wir wollten: Für uns gab es da einfach nichts zu zerreißen. Ganz im Gegenteil. Wir kamen einhellig zu dem Urteil, dass Nicola Denis in ihrem übersetzerischen Werk von bemerkenswerter Bandbreite stets sicher den richtigen Ton finde und idiomatische wie sprachstrukturelle Herausforderungen mit Brillanz zu meistern vermöge. Thomas Bernhard würde das sicher nicht gefallen.
Geboren wurde Nicola Denis in Niedersachsen, in Celle, und ging zu Beginn der 1990er Jahre nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in Paris nach Köln, um dort Germanistik, Kunstgeschichte und Romanistik zu studieren. In ihrer Abschlussarbeit des Magisterstudiums widmete sie sich den unterschiedlichen deutschsprachigen Übersetzungen von Molières „Le Misanthrope“. Zu Beginn der Nullerjahre erlangte sie die Doktorwürde mit einer komparatistischen Untersuchung der Übersetzungs- und Rezeptionsgeschichte von Molières „Tartuffe“ in Deutschland.
Dr. Nicola Denis arbeitet seit 2002 als freiberufliche Literaturübersetzerin und wurde vielfach vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert, mit zahlreichen Arbeitsstipendien, einem Tophoven-Stipendium für ihre Neuübersetzung von Balzacs Ursule Mirouët sowie zwei Exzellenzstipendien, zuletzt für ihre Übersetzung von Marie-Claire Blais‘ Roman Drei Nächte, drei Tage.
Mit ihrer Übertragung von Éric Vuillards Die Tagesordnung stand sie auf der Shortlist zum 10. Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt. Heute erhält für ihr Lebenswerk den Prix lémanique de la traduction.
Schauen wir uns ihre Arbeit genauer an:
In besagter Neuübersetzung von Balzacs Ursule Mirouët (Matthes & Seitz, 2017) arbeitet Nicola die stilistischen Besonderheiten Balzacs, seine minutiöse Genauigkeit, gut sichtbar heraus: „Wenn man von Paris aus nach Nemours gelangt, geht es über den Canal du Loing, dessen Uferböschungen der hübschen kleinen Stadt zugleich als ländliche Festungswälle und idyllische Spazierwege dienen. Bedauerlicherweise wurden seit 1830 etliche Häuser diesseits der Brücke errichtet. Falls sich jene Art von Vorstadt ausdehnen sollte, wird die Physiognomie der Stadt ihre anmutige Eigentümlichkeit einbüßen. Im Jahr 1829 jedoch, als die Ränder der Straße noch unverbaut waren, konnte der Posthalter, ein großer und dicker Mann von etwa sechzig Jahren, der auf dem höchsten Punkt der Brücke saß, an einem schönen Vormittag trefflich überblicken, was man in der Sprache seines Metiers ein ordentliches Straßenband nennt.“
Ja, das ist trefflich. Und so wie dieses Straßenband sich vor den Augen des zufriedenen Postmanns entfaltet, liegt da vor unseren Augen das Werk von Nicola Denis. Ein Werk von beeindruckender Bandbreite. Da gibt es die Klassiker, den eben gehörten Balzac, Alexandre Dumas, heutige literarische Größen wie Olivia Rosenthal, Albena Dimitrova, Sylvain Tesson und Philippe Lançon, dann die Pioniere auf dem Gebiet der Dokufiktion wie Éric Vuillard und Olivier Guez, außerdem die Essayist·innen Pauline Harmange, Delphine Horvilleur, Anne Dufourmantelle, Philippe Muray, die Liste ist lang. Nicht zu vergessen Nicolas zahlreiche Übersetzungen im Bereich der Kunst und Kunstgeschichte sowie ihre eigenen, vornehmlich literatur- und übersetzungswissenschaftlichen Veröffentlichungen in Zeitschriften und Sammelbänden.
Wie gewissenhaft und minutiös Nicola Denis nicht nur übersetzt, sondern auch recherchiert, zeigt sich etwa daran, dass sie in Éric Vuillards Die Tagesordnung (Matthes & Seitz, 2018) die französische Bezeichnung „planeur“ nicht mit Lastensegler, sondern mit „Fieseler Storch“ übersetzt hat. Die Lastensegler dienten zur Anreise der Truppe, Mussolini und Skorzenys Abreise hingegen erfolgte in einem Fieseler Storch.
Der Matthes & Seitz-Verleger Andreas Rötzer lobt Nicola Denis als „eine jener Übersetzerinnen, die mit Herz und Verstand auch die schwierigsten Übersetzungen stilvoll und präzise meistern. Eine Übersetzerin, die sich nicht damit begnügt, den Text von einer Sprache in die andere zu bringen, was schon Leistung genug wäre, nein, sie erarbeitet sich die Texte auch noch philologisch, historisch und philosophisch und zählt damit zu den wenigen, die ich Entdecker-Übersetzer:innen nennen würde.“
Über die letzten Jahre ist zu beobachten, dass die Verlage, die Nicolas Hauptauftraggeber waren und sind, also exemplarisch Matthes & Seitz Berlin und der neu aufgestellte Aufbau Verlag in erfreulicher Weise gewachsen sind und ihre Publikationen zunehmend Anerkennung und Absatz fanden und finden. Nicola Denis‘ Übersetzungen haben dazu einen wesentlichen Beitrag geleistet, oder wie Johanna Links, die Lektorin für französischsprachige Literatur beim Aufbau Verlag, es formuliert, wisse sie, wenn Nicola zusage, einen Roman aus dem Französischen für sie zu übersetzen, dass „dank der Denis’schen Leidenschaft und Akribie“ alles gut werde.
Doch können philologischer Eifer und eingehende Recherche allein einen guten deutschsprachigen Text garantieren? Nein, diese Zutaten sind notwendig, doch wie bei einer guten Mayonnaise, sind es auch andere Faktoren, die bestimmen, ob die Transformation gelingt, „si elle prend ou si elle ne prend pas“.
Vielleicht braucht es ein Quäntchen Zauberei, ein kleines bisschen Hexerei? Die althochdeutsche Hage-zussa, die Vorläuferin unserer heutigen „Hexe“, ist ins Hochdeutsche übersetzt die Heckenreiterin. Der Hag ist ein altes Wort für Hecke und stand für die Grenze zwischen Wald (Wildnis) und dem Dorf (Zivilisation). Die Hage-zussa hatte zu beiden Welten Zugang und die Macht, durch Zauber, die Wirklichkeit zu beeinflussen. Die Heckenreiterin war einstmals also die hoch angesehene Schamanin unseres Kulturkreises. Wie komme ich drauf? In einem Web-Clip der Weltlesebühne aus dem Jahr 2020, in dem Nicola Denis ihre Übersetzung von Marie-Claire Blais‘ Roman Drei Nächte, drei Tage präsentiert, sitzt Nicola bei weit geöffnetem Fenster auf dem Fensterbrett, halb im Haus, halb draußen, und macht die Wellenbewegungen des 392 Seiten dicken Werks hörbar, das in lediglich 65 sehr, sehr lange Sätzen ein zukunftsweisendes Sittengemälde zeichnet, das, vor einem Vierteljahrhundert geschrieben, sich heute in vielen Punkten bestätigt sieht.
Zentrale Fragen des von Nicola im Deutschen fein austarierten und auf Kurs gehaltenen Textes sind die menschliche Gemeinschaft und Solidarität, Themen, mit denen Nicola sich auch über die unmittelbare Textarbeit hinaus auseinandersetzt. So untersucht sie im Oktober 2019 im Merkur in ihrem Beitrag „La méthode Vuillard. Oder der Versuch einer mündigen Geschichtsschreibung“ inwiefern sich Mentalitätsunterschiede zwischen Deutschland und Frankreich hinsichtlich des „kollektiven“ Denkens an der Sprache erkennen lassen: „Das sinntragende Pronomen für dieses fragile und zugleich mächtige Kollektiv ist [in Frankreich] »on« (deutsch „man“), ein unscheinbares, im Französischen kaum hörbares Wort der Umgangssprache, das eine selbstverständliche Solidarität zum Ausdruck bringt“.
Solidarität und Gemeinsinn sind fraglos auch die Haupttriebfedern für Nicola, seit 2004 in dem kleinen französischen Dorf, das ihre Wahlheimat geworden ist, an der Gestaltung der „Fête de la Terre“ mitzuwirken. Jahr für Jahr kommen Anfang September mehr und mehr Menschen nach Fontaine-Daniel im westfranzösischen Département Mayenne. Ein ökologischer Bauernmarkt ist fester Bestandteil der gesellschaftlichen Zusammenkunft, der ökologische Aspekt spielt eine wichtige Rolle, aber auch philosophische Vorträge, Musik und Kunstveranstaltungen gehören zum Festgeschehen dazu. Jedes Jahr steht das Fest unter einem anderen Motto und namhafte Vortragende und Kunstschaffende sorgen für seine Strahlkraft – weit über die Pays de la Loire hinaus. Heute kümmert sich ein Verein um die Vorbereitung und Durchführung der „Fête de la Terre“, Nicolas Beitrag, gerade in den Anfängen, ist jedoch nicht zu unterschätzen. Wie sie auch dafür noch die Zeit findet?
Die Frage stellt sich mir, weil ihr Tempo beim Übersetzen atemberaubend ist. Kaum ein Herbst oder Frühjahr, in dem sie nicht mehrere Titel bei verschiedenen Verlagen veröffentlicht. Oft sind es die Zugpferde der Verlagsprogramme. Mit leichtfüßiger Sprachmacht ziehen ihre Übersetzungen einen ganzen Tross anderer Titel mit. „Disziplin“ ist ein Begriff, den ich mit Nicola assoziiere, aber keine starre Disziplin, vielmehr eine mit Leben gefüllte Kraft, die mit größter Genauigkeit und aber auch Wendigkeit und Eleganz den Rhythmus beibehält und „läuft und läuft und läuft“.
Ein tragender Rhythmus und ein hohes Maß an Musikalität stecken in Nicolas Übersetzungen, auch wenn die Themen grausig und gräulich, die Texte belastend und befremdlich sind. Kein schweres Thema hat sie bei ihren literarischen Übersetzungen ausgespart, beziehungsweise sich erspart. Neben Das Verschwinden des Josef Mengele von Olivier Guez und Kongo von Éric Vuillard ist ein bezeichnendes Beispiel dafür Philippe Lançons Roman Der Fetzen (Klett-Cotta, 2019) über den von ihm miterlebten Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo.
„Ich glaube nicht, dass ich hätte schreiben wollen, »als wäre es der letzte Satz meines Lebens«. Wenn sich das Folgende per Unfall ereignet, hat man ohnehin keine Zeit, sich sein Kostüm, seine Gesten und seine Schlussworte zurechtzulegen. Diese belanglosen, tendenziell verächtlichen und selbstgerechten Sätze habe ich geschrieben, als würde das Leben weitergehen. Insofern empfinde ich ein gewisses Mitgefühl mit ihrem Urheber: Es sind die letzten Worte eines gewöhnlichen Journalisten und leichtfertigen Menschen. Geschrieben vor dem Attentat, das währenddessen vorbereitet wird.“
Nicola Denis ist eine Dame. Das Alter einer Dame geht niemanden etwas an, und doch ist sie zur Ehrung ihres Lebenswerks offensichtlich recht jung. Aber ganz egal wie jung sie genau ist, bei eingehender Betrachtung ihrer übersetzerischen Leistungen zwängt sich der Schluss auf, dem selbst ein Thomas Bernhard beipflichten müsste: Nicola Denis ist eine Alte Meisterin.